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Full text of "Christian Thomasius nach seinen Schicksalen und Schriften"

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* 


Dem Königlich Preußiſchen 


erſten geheimen Kabinetsrath, 
Herrn Beyme, 


Aller guten Wiſſenſchaft Kenner und Be. 
förderer, 


ehrfurchtvoll zugeeignet 
Do m 


Verfaſſer. 


Wenn neben der Heldenbahn der Erobe⸗ 
rer und neben dem öffentlichen Leben der 
Häupter und oberſten Diener des Staats, 
der Gang der Denkungsart nnd Wirkſam⸗ 
keit eines Gelehrten feine Annalen vers 
dient, fo gebührt eigentlich ſolchen die Eh⸗ 
re, die, an Geiſt und Art ausgezeichnet, 
mit nicht geringerer Weisheit als Wiſſen⸗ 
ſchaft, auf die Bildung der Menſchheit 
ihrer und folgender Zeitalter einflußreiche 
Kraft geäußert. Obſchon Verwaltung 
und Waffen, wodurch das gemeine Weſen 


vi 


unmittelbar beſteht, natürlich die Aufmerk⸗ 
ſamkeit am allgemeinften feſſeln, fo unz 
leugbar iſt für unſer Vaterland Europa 
nicht weniger wichtig, die Fortſchritte oder 
den Rückgang eines jeden Volks in ſeiner 
Cultur zu beobachten. Denn auffallender 
als zu unſerer Zeit iſt kaum je bewieſen 
worden, daß nicht phyſiſche Überlegenheit, 
noch angelernter Mechanismus, daß Geiſt 
und Character die Oberhand giebt. So 
irrig der Wahn wäre, bey dem raſtloſen 
Streben der vorzüglichſten Völker, unge— 
ſtraft zurückbleiben zu können, fo eitel wä⸗ 
re die Anmaßung eines Gewalthabers, den 
Ideenſchatz, das Erbtheil der Jahrhunder— 
te, nach Willkühr ſpärlich unter die len: 
ge kommen zu laſſen. Zwey Dinge, die 
jedem empfänglichen Menſchen ſein An— 
recht ſichern, haben in der eurspäiſchen 
Republik einen unbeſtechlichern, muthigern, 
unvertilgbarern Demos, “) als jener affi: 
ſche geweſen, hervorgebracht: Seit uf: 
tenberg die Druckerey gelehrt, ſeit Reli— 
gion und Philoſophie durch Luther und 
Thomaſius in der Muttern vorge⸗ 


) Volksgemeinde. 


‚va 


tragen wurden, hat die Verbreitung und 
Verewigung der Kenntniſſe ein Publicum 
gebildet, welches hin und wieder auf eini- 
ge, auch längere, Zeit, gänzlich aber erſt 
alsdann verſtummen kann, wenn wahre 
Sitten verderbniß (Trägheit und Selbſtſucht) 
ein unwiderſtehliches Weltreich aufkommen 
laſſen ſollte. Alsdann erſt könnte der 
Deeident, wie Shina, feinen Tſchi⸗Hoang⸗ 
ti bekommen; welcher ſiegreiche prachtlie— 
bende Kaiſer durch Vernichtung der Bü— 
cher den Ruhm ſeiner Thaten verdunkelt, 
und zu dem (nach kaum fünf Jahren er⸗ 
folgten) Sturz der Herrſchaft ſeines Hau— 
ſes hiedurch hauptſächlich beygetragen hat. 

Unter den Männern, welchen wir ei: 
ne große und fruchtbare Verbreitung ge⸗ 
meinnütziger Anſichten und Überzeuguns 
gen zu danken haben, iſt Chriſtian Tho⸗ 
maſius der vorzüglichſten einer. 

Die Früchte der Unternehmung Lathers, 
welcher den biedern teutſchen Sinn an 
fremdem Trug zuerſt gerochen, waren ſeit 
mehr als hundert Jahren durch Wort— 
ſtreitigkeiten und den Zwang ſcholaſtiſcher 
Formen beynahe ungenießbar geworden. 


VIII 


Die Weisheit, welche für alle iſt, wird ſel⸗ 
ten lang in der Einfalt, womit ſie aus 
der Quelle floß, vorgetragen. Bald wird 
ihr Zugang wie mit einem dornichten Ge⸗ 
ſtrüpp unerhörter Kunſtausdrücke umzäunt; 
oder man hüllt fie mumienartig in feſtan⸗ 
liegende Bande, deren Hieroglyphe für 
die e e e Zunft ſelbſt nur auf ei⸗ 
nige Zeit klaren Sinn hat. Solcher mas 
ßen war dazumal auch die Religion (in 
ihrem Weſen die Tochter des Gefühls und 
der Anſchauung, in ihrer Form eine aus 
der höchſten Vorwelt viele erhebende, vie 
le lehrreiche Epochen herunter geführte 
Überlieferung) ein trockenes, ſtachlichtes 
Syſtem von Dogmen und Controverſen 
geworden, und die Philoſophie, gebannt 
in die Schranken der Lehrform eines miß⸗ 
verſtandenen großen Geiſtes, fremde der 
Natur, ihrer Quelle, fremde der Welt, 
welche ſie bilden ſollte, ertönte von Ka— 
thedern und Bänken mit amine 
dem Geſchrey. | 2 
Solchen Mißbräuchen, obere | 
große und geiftreiche Völker nicht nur im 
Joch der Vorurtheile, ſondern in durch⸗ 


IX 


gängiger Unbehülflichkeit zurückgehalten 
werden, begegnete Thomaſius mit kühnem 
Schritt auf die rechte Art. Wie Carus 
nichts mehr fürchtete, als aus der grau⸗ 
fen Höhle hervorgezogen zu werden, fo iſt 
dem Reich der Finſterniß und aller Tyran⸗ 
ney nichts verderblicher, als Enthüllung 
vor den Augen der Menge. Denn es ijt, es 
iſt, in unſerer Natur ein Wahrheitsſinn, wel⸗ 
cher, einmal aufgeregt und angeſprochen, 
ſo lang er den Muth behält, gerade zu 
ſehen, ſchwer zu täuſchen iſt. Ihm die 
Oberhand, ihm Thatkraft geben, das heißt 
5 eine Nation wahrhaft aufklären. 
Hiezu würkte Thomaſius, theils durch 
die teutſche Sprache ſeines Vortrages, 
theils durch fein unaufhörliches Beſtreben, 
alles klar, alles gemeinnützig zu machen, 
und zu dem Ende in dem urſprünglichen 
Weſen ſeiner Tendenz darzuſtellen. 
Schwer bleibt jedem auf einer neuen 
Bahn raſch vorausſchreitenden Mann, jes 
den Schritt zu meſſen, daß keiner ſeitwärts 
trete. So mag der Eifer für die Volks⸗ 
ſprache, und, in einer Periode ſeines Le— 
bens für eine beſondere Art von Religio— 


X 


ſität, Thomaſen für altcelaſſiſche Literatur 
unempfindlicher gemacht haben. Ganz der 
Mann ſeiner Zeit, wußte er dieſe Früch⸗ 
te einer verblüheten, ſchönern Welt nicht 
nach ihrem Werthe zu ſchätzen, empfahl 
jie aber, ohne es zu denken, durch feine 
Lobreden auf Lebensweisheit. G iſt io 
viele, wie bey den Alten! ). 

Wenn nach ihm über felbſterdachte Ber 
griffe und Vorſtellungen die Ergründung 
und Beachtung von Thatſachen hin und 
wieder verſäumt worden ſeyn ſollte, ſo 
fehlt viel, daß darum Er, ein Mann von 
den vielſeitigſten Kenntniſſen, einer Verach⸗ 
tung der eigentlichen Gelehrſamkeit beſchul⸗ 
diget werden dürfte. Das Schwerfällige, 
das Ungenießbare, nahm er ihr. Daß 
Leichtſinn, Trägheit und Eitelkeit Wortge⸗ 
pränge dem reellen Gehalt oft vorziehen 
würden, konnte er ſo wenig als andere 
Ausſchweifungen hindern: doch zeigte er 
den beſten Prüfeſtein: auf allem, was 
dem Menſchen, was dem Staat unnüz 
iſt, hielt er nie. | 

Diefer Charakter einer, n e 
Art zu reden, durchaus pragmatiſchen f 


X1 


Denkungsart, ſeine helle freye Anſicht und 


feine lebensvolle Ergreifung der Gegen: 


ſtände wurde, nach ſeinem Vorgang, wie 
das Erbtheil der unter ſeiner vorzüglichen 
Beywirkung entſtandenen Univerſität Halle. 

Wenn der vortreffliche Geiſt Veit Lu— 
dewigs von Seckendorf, der, der er- 
ſten einer, das kunſtvolle Räderwerk einer 
Staatsverwaltung mit anwendbaren Leh: 
ren vor die Augen der Menge gebracht; 


wenn Philipp Jacob Speners redli⸗ 


cher Sinn, der das Chriſtenthum von Ka— 
thedern und Canzeln in die Häuſer und 
Herzen des Volks bringen wollte; wenn, 
in den erſten Zeiten einer Monarchie von 
charakteriſirender Duldung, in jenem erſten 
regen Streben nach jeder Ehre, jedem Fort— 
ſchritt, ſolche Edle, und ein Mann von 
Thomaſens Lebendigkeit und Umfaſſung 


bey Organiſirung einer gelehrten Anſtalt 


zuſammen wirken, ſo muß der Eindruck 
bleibend werden. 

Der dem Neid und Verfolgungsgeiſt 
kaum entwichene Flüchtling fing an, jedem 
Zweig der Wiſſenſchaften, den er öffentlich 
unterſuchte, eine neue Geſtalt ſo zu geben, 


- 


4 


su. 


daß er, was man fonft nur aus Büchern 
lernte, jedem in ſich ſelbſt und in der Welt 
Lauf beſſer zeigte. Die ſeinem Lehrſtuhl i 
gleichſam angebildete Univerfitäf zeichnete 
ſich durch gleiche Hinſicht auf das Gemein⸗ 
nützige aus. Das freye Wirken des Gei⸗ 
ſtes war ohne Nachtheil für Ordnung und 
Sitten, weil auch Thomaſius die muntere 
Laune und ſein Feuer ſtrenger Sittlichkeit 
unterwarf, und durch warme Religions- 


verehrung den Jünglingen zu zeigen ſuch?⸗ 


ke, welche Ehrfurcht der Grund aller ge⸗ 
ſellſchaftlichen Verfaſſung und innern en 5 
dee verdient. 5 
Wie wenn der elektriſche hn einen 
ſehr empfänglichen Stoff trifft, ſo, als der 
Maſſe teutſchen Wiſſens und dem unge⸗ 
brauchten Schatz der unerſchöpflichen Mur: 
terſprache einsmals wieder Geiſt und Kraft 
gegeben ward; in zwanzig, dreyßig Jah⸗ 
ren wurde durch Thomaſius und zu Halle 
mehr Altes neu beſeelt und benutzbar, als 
vorher kaum in fünfmal ſo langer Zeit. 
Die Religionswiſſenſchaft, in deren 
meiſt polemiſchem Vortrag die Dialektik 
ſonſt die Oberhand hatte, damals aber ei⸗ 


4 


XIII 


ne trübfinnige, harte Methodiſterey ſich 
einzuſchleichen drohete, wurde was ſie ſoll⸗ 
te, einerſeits durch beſſere Forſchung der 
Urkunde, anderſeits durch wohlthätige An⸗ 
ſtalten. Das iſt die Hauptſache, re echt wiſſen, 
was Gott will, und es thun. 

Man weiß, wie viele Opfer Tho⸗ 
maſius als Rechtsgelehrter dem Aber— 
glauben entriſſen, wie er nach der ſchö— 
nen Einfalt ſeiner Freyheit manches in 
dem Naturrecht erheiterte; dabey freute er 
ſich ſeiner jüngern Collegen, deren einer das 
Chaos der Rechte mit der eleganteſten Bes 
ſtimmtheit ordnete, ein anderer zeigte daß 
ein gutes Kirchenrecht auch Boa Pabſt ſeyn 
kann. 

Die Weidildung der Rechte mit der Ge⸗ 
"ne; die ihre Urſachen erklärt, die Ber: 
bindung der letztern mit der Politik, die bis 
auf dieſen Tag nie ungeſtraft ihr Licht ver⸗ 
ſchmähet, fühlte er, und widerſetzte ſich nicht 
wie andere dem aufblühenden Glück Jos 
hann Peter Ludewigs, welchem der er⸗ 
ſte Ruhm ihrer Anwendung zukömmt. Nur 
dieſe Kunſt (Montesquieu's unſterblicher Lor: 
beer, weil niemand fie einnehmender entmi» 


! 


XIV 
ckelt) giebt noch einiger Hoffnung Raum, 
daß die viertauſenjährige Chronik der Thor⸗ 
heiten unſeres Geſchlechts nicht ganz verge⸗ 
bens geſchrieben ſeyn dürfte; zum Beyſpiel, 
wenn ſie die Verkehrtheit von dieſer, die 
verderbliche Scheinbarkeit jener Maaßregel, 
wenn ſie die Geheimniſſe unbenutzter Kraft 
und die ſchwachen Seiten der Präpotenz, 
wenn ſie die mannigfaltige Liſt offenbart, 
durch die manchmal unerſättlicher Ehrgeiz 
Völker um ihreSelbſtſtändigkeit getäuſcht hat. 
Wenn man den Eindruck der Empfeh⸗ 
lungen Thomaſens bey Hofe, wenn man 
den Eindruck feines Beiſpiels auf die jünges 
ren Lehrer und auf die academifche Jugend 
bedenkt, fo iſt nicht zu leugnen, daß an als 
lem Ruhm der in anderen Farultäten voll- 
brachten guten und großen Dinge einiger 
Antheil auch ihm gebührt. 
Wir danken, was wir ſind, jenem ge⸗ 
nialiſchen Hauch, welcher in den Erdkloß, 
unſern erſten Vater, fuhr. So iſt über alle 


Nechnung, was ein academifcher Lehrer von 


ſolcher Anziehungs- und Bildungskraft auf 
fein und folgende Zeitalter Gutes vermocht. 
In der That: Viele, die mit großer Pracht 


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und Macht ihr Zeitalter auf das glorreichſte 
unglücklich gemacht, oder mit unſäglicher 
Liſt und Kühnheit myſtificirt haben, werden 
die Achtung und Liebe wie ſo ein Mann 
bey der Nachwelt nicht finden. 

Chriſtian Thomaſens gegenwärtiger Bio— 
graphe, ein junger Mann, durch Recht: 
ſchaffenheit und das trefflichſte Aufſtreben 
vielen edlen Menſchen lieb, vor kaum 


neun Jahren mit aller Wiſſenſchaft und 


Gelehrtheit unbekannt, gebildet in Göttin⸗ 
gen, freylich durch die Weisheit und Kunſt, 
noch mehr aber durch die liberale väterliche 
Theilnehmung der ehrwürdigſten Lehrer, hat 


1 alſo wol nicht übel gethan, aus den Werken 


dieſes Mannes die Geſchichte ihrer Entſtehung 
und ſeiner Schickſale zuſammen zu ſtellen. 

Die Erzählung, wie vielfältig Thoma: 
ſius in dem endloſen Dunkel der Myſtik her, 
umgeirrt, die Erwähnung, wie hoch über 
Virgil er den Lohenſtein und Hofmannswal— 
dau geſetzt, zeigt die Unpartheiligkeit des 
Verfaſſers. Im übrigen lebt Thomaſtus 
mit großem und verdientem Namen, ſo un— 
geleſen aber, wie ſeine Dichter, in der Ge— 
ſchichte; die Alten werden bleiben, ſo lang 


XVI 


als die Natur, deren pollfommenfte Aus⸗ 
bildung bey ihnen iſt. 1 | 
Der Vorredner müßte den Brrſaſſer 
ſchlecht kennen, wenn er nicht weit voll⸗ 
kommnere Arbeiken, als dieſe erſte von 
ihm erwarten und verſprechen zu kön⸗ 
nen glaubte. Hiezu iſt aber die Ermunte⸗ 
rung eines billigen Publicums dem auf: 
ſtrebenden Talent jederzeit nöthig. Lu⸗ 
den verdient ſie; ſein Werk it Beweis 
davon. | 


Berlin, d. 4. April 1805. R 


Johann von Müller. 


Chriſttan Thomaſius 


Leben und Schriften. 


Kbomafins wurde am erften Tage des Jahrs 


1635 zu Le pzig gebohren. Frau Maria, des 
Herrn Jeremias Weber, Licentiats der Gottes— 
gel hrtheit und Archidiaconi zu S.. Nicolai in 
Leipzig, Tochter, brachte ihn ihrem Gatten, dem 
Herrn Jacob TChomaſius, Prafeſſor der Bered: 


ſamkeit. Er erhielt in der Taufe den Namen 


Christian. 5 

Die Zeit der Jugend, wo das Gemüth 
Form und Character erhält, iſt eine wichtige 
Periode; die Äußerungen der Kinder find nicht 
minder verſchieden, als die des männlichen Al— 
ters; ſie zu beobachten, und aus ihnen den 
künftigen Lebensgang zu errathen, iſt kein klei— 
ner Genuß: fie erzählen zu hören, die er: 
ſten Bewegungen des jungen Geiſtes von dem 
Mann ſelbſt, der ſie gewahrte, iſt ergötzend 
und belehrend: aber für den Entfernten ver— 
ſenkt ſich die erſte Lebensz it des Menſchen in 
Vergeſſenheit und die Tage der Kindheit lau— 

A 2 


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fen auf gleiche Weiſe bey allen vorbey, Deß⸗ 
wegen wiſſen wir von dem Thomaſtius aus die⸗ 
ſer Periode nichts zu erzählen; aber es läßt 
ſich erwarten, daß für ſeine Erziehung, obgleich 
er feine Mutter im achten Jahre verlohr, von 
ſeinem Vater Alles, was er leiſten konnte, ge⸗ 
ſchehen ſeyn wird; und was er leiſten konnte, 
das wird der begreifen, der da weiß, daß er 
Leibnitzens Lehrer war, und daß Leibnitz ihn 
achtete.) Aber auch das, was Thomaſius 
ſelbſt, “) und andre, von den Jahren feines 
Lebens erzählen, wo ſich der Knabe an den 
Jüngling ſchließt, enthält eben nichts Außer⸗ 
ordentliches. Seine Thätigkeit zeugt von ei⸗ 
nem regen Geiſte, wie er Menſchen zu bewoh: 
nen pflegt, die, einen Schritt weiter zu gehen 
als ihre Zeitgenoſſen, beſtimmt ſind, und ſein 
weiterſtrebendes Leben verräth jugendliche 
Kraft, die ſich an ihrem eignen Wachsthum 
ergötzt. Er verließ die Schulen, wo er Fel— 


*) Mehrere von Leibnitzens Briefen find an ihn 
gerichtet; auch noch dann, als Leibnitz den 
höchſten Punkt ſeiner Philoſophie erreicht N 
te, ſprach er von ihm mit Achtung. | 

„) In der Vorrede zu feinen institutiones ſu- 


risprudentiae diyinae. 


5 


82 


lers, Rappolts und Herrichs Unterricht nebſt 


dem ſeines Vaters genoſſen hatte, und wurde 


ein Mitbürgrr der Akademie zu Leipzig in ei— 
nem Alter, in welchem man es unter uns ſel— 
ten gewohnt iſt; aber er entſchloß ſich nicht 
ſogleich, wie es meiſtens geſchieht, einen be— 
ſtimmten Zweig des menſchlichen Wiſſens aus— 
ſchließend zu ſtudieren; ſondern, obwol ſein 
Vater wußte, daß ſich der ganze Horizont der 


Wiſſenſchaften für Eines Menſchen Geiſt zu 


weit dehnt, und daß ein jeder um des Allge⸗ 
meinen Willen ſich eine beſondre Gränze ſe— 
tzen muß, ſo erlaubte er es doch dem Sohn, 
ſich die Wahl vorzubehalten bis zu einer rei— 
fern Einſicht, und ſich vorläufig blos mit der 
Ergründung philoſophiſcher Wahrheiten zu be⸗ 
ſchäftigen. Wohl hatte dies Verfahren ſeinen 
Grund mehr in dem Wahne, obgleich es von 
der Philoſophie, die man damals kannte, kein 
Wahn war, die Philoſophie ſey eine unterge— 
ordnete Wiſſenſchaft, und gleichſam zum ewi— 
gen Frohndienſt der andern Wiſſenſchaften be— 
ſtimmt, die man damals die höheren, jetzo aber, 


vornehm, die Brodwiſſenſchaften nennt, als in 


der Ueberzeugung, daß nur der ſein beſondres 


Fach durchaus ergründen könne, der das Al: 


6 


gemeine und Ganze wenigſtens in feinen Prin- 
cipien kennt, und daß die Me ſchheit nur als⸗ 
dann zur Einheit mit ſich ſelbſt kommen kön⸗ 
ne, wenn ein jeder es erkennt, wie feine Doc— 
trin mit den andern auf einem Stamme wur⸗ 
zelt, wie ſich feine Wiſſenſchaft an die des an⸗ 
dern anſchließt, und wie alle nur dadurch 
Werth haben, daß ſie, um ein Ganzes zu 
vollenden, ſich gegenſeitig aufklären und aus⸗ 
füllen; aber Nachahmung verdient dieſes Ver— 
fahren, und es würde manchen davor ſchützen, 
daß er nicht verlohrene Jahre vergeblich be— 
jammert. Daher beſuchte Thomaſius die Bor: 
leſungen Johann Ittig's über die Phyſik, Va⸗ 
lentin Alberti's über die Metaphoſik, Johann 
Kuhns, Otto Menkens, Chriſt. Friedrich Frans 
kenſteins und Adam Rechenbergs mathemati— 
ſche, politiſche und hiſtoriſche; am meiſten 
„aber wel die feines Vaters, der über des Hu: 
go Grotius Buch vom Rechte des Kriegs und 
Friedens, Vorträge zu halten pflegte. Auch 
wurde er von dem letztern fleißig zum Diſputi— 
ren angehalten; aber wenn ihm dieſes Veran— 
laſſung zum Nachforſchen, und eine gewiſſe 
Gewandheit des Geiftes gab, fo war die Ge: 
ſchichte der Philoſophie, ſo gut ſie ſein Vater 


7 


auch lehren mochte, und fo vielen Werth Tho— 
maſius ſelbſt darauf ſetzte, doch ſchwerlich heil— 
ſam für ſein junges Gemüth, das noch keine 
Gewißheit kannte, die auf feſtem Boden ruhte, 
und mithin noch keinen Maßſtab hatte, die 
größere oder geringere Wahrheit philoſophi— 
ſcher Behauptungen zu berechnen. Des be— 
rühmten Pufendorfs vielgeprieſenen, heftigbe— 


ſtrittenen, aber immer Sachreichen Schriften, 


beſonders das Werk über das Natur- und 
Völkerrecht, zogen Thomaſtus Aufmerkſamkeit 
auf ſich; er las ſie mit Begierde: aber die 
freyern Unterſuchungen des Pufendorfs konn— 
ten dem Jüngling nicht gefalleu, deſſen Geiſt 
noch ſo ſehr vor dem Anſehen der Theologen 
zitterte, daß er den der ewigen Verdammniß 
würdig hielt, der daran zu zweifeln wagte, 
was ſie für Grundlehren ausgaben. Er wuß— 
te ihnen keine Gränze zu ſtecken, und welche 
hätten ſie ſich ſelbſt geſteckt? Darum zweifelte 
er lieber an ſeiner Einſicht, als an der Lehre, 
welche die Gewohnheit geheiligt hatte. 
Nachdem Thomaſius 1671 Baccalaureus, 
und ein Jahr ſpäter, alſo in ſeinem 17. Jahr, 
Magiſter der Philoſophie geworden war, ſo 
erwählte er zu dem Hauptgegenſtande ſeines 


8 | 
Studirens mit der Erlaubniß feines Vaters 
die Rechtsgelahrtheit. Zu diefer Wahl ver⸗ 
mochte ihn die Liebe zum Naturrecht, welche 
Pufendorf und Grotius ihm eingeflößt hatten, 
und die rühmliche Abſicht, auf dieſe Weiſe eine 
Lücke der Philoſophie auszufüllen. Dieſe Abſicht 
möchte etwas thöricht ſcheinen, weil Thomaſius 
nicht etwa durch die Kenntniß des Naturrechts die 
beſtehenden Geſetze und Verfaſſungen der Staaten 
verbeſſern wollte, ſondern weil er überzeugt 
war, das Naturrecht könne nicht von der Phi⸗ 
loſophie ohne die Jurisprudenz nach ſeiner 
Würde ergründet und dargeſtellt werden. ) 
Aber ſeine Jugend würde ihn noch für einen 
größern Irrthum entſchuldigen, und er ſpricht 
ja auch nur von der Philoſophie, welche auf 
der Akademie gelehrt wurde. Einem ſo thäti⸗ 
gen Geiſte, wie Thomaſius beſeelte, fehlte wol 
der nöthige Fleiß für feine neue Wiſſenſchaft 
nicht: aber weil es ihm an einem Führer ger 
brach, und er, indem er bald die Vorträge 
von dieſem, bald von jenem beſuchte, keine 
Einheit, nach welcher er ſtrebte, in die mans 


) Am angeführten Orte, woher diefe Erzählung 


bis zu ſeinen Schriften genommen iſt. 


9. 
nigfaltigen Notizen und Sätze zu bringen 
wußte, die er auf un Weiſe zuſammen trug, 
fo begab er ſich im Jahr 1675 nach Frankfurt 
an der Oder, ob er da finden möchte, was er 
ſuchte. Er fand es nicht, ungeachtet Stryck 
und Rhez feine Lehrer waren. Darum verſuch⸗ 
te er ſelbſt juriſtiſche Vorleſungen zu halten, 
um, wie er ſagt, lehrend zu lernen, in der 
That aber wol, weil er weiter zu ſehen glaub— 
te, als ſeine Lehrer: und bey dieſen Vorleſun— 
gen war er ſchon bemüht — was er auch vor— 
her gewollt haben mag — das pofitive Recht 
durch das der Natur zu verbeſſern. Er las 
nemlich vor einigen Zuhörern über die Juſti— 
nianiſchen Inſtitutionen, und andern erklärte 
er Klenks quaestiones zu den Büchern des 
Grotius, um zu ſehen, wie er ſagt, was Gro⸗ 
tius und Pufendorf ihm genützt hätten. Sein 
Beſtreben ging zugleich dahin, den letztern zu 
bekämpfen; aber wie ſehr er ſich gefreuet ha— 
ben mochte, wenn man ihn heftig bekriegte, 
und wie feſt er gehofft hatte, er würde end⸗ 


lich von feinen gottloſen Irrthümers ablaffen, 
ſo fühlte er bey der Erſcheinung der Apologie 
des Pufendorf ſo ſehr die Gewichtigkeit der 


Gründe des letzrern und ſein eignes und der 


Io 


Andern Unvermögen, fie aufzuwiegen, daß ie; 
gänzlich auf feine Seite trat. Dieſes Gefühl 
aber erweckte in ihm die wohlthätige Einſicht, 
daß er vorher nichts gewußt, und zwiſchen ei⸗ 
nem rohen Chaos von erlernten Kenntniſſen 
nur am Kappzaum des Vorurtheils und der 
Gewohnheit gewandelt habe: welches eines 
Menſchen unwürdig ſey. Dies brachte ihn zu 
dem männlichen Entſchluß — der von einem 
kräftigen Mann gefaßt ſeyn will, und dann 
gewaltig eingreift in des Menſchen Thun und 
Leben, der aber auch, wenn er einem ſchwachen 
Kopf, wie es leider oft geſchieht, aufgedrun⸗ 
gen wird, von ſeinen wohlmeynenden Lehrern, 
Alles vernichtet, woran ſich das Leben des 
Menſchen im Gewühl der Welt noch zuſammen— 
halten mag: — zu dem Entſchluß, Alles ſelbſt 
zu unterſuchen, keine Autorität der Menſchen 
anzuerkennen, nur die Gründe abzuwägen, und 
nach eigner Einſicht zu entſcheiden. | 

1679 ͤ wurde er Doktor der Rechte, und 
machte alsdann eine Reiſe nach Holland, wol 
zunächſt in literäriſcher Hinſicht, vielleicht auch 
deswegen, weil er mißtrauiſch gegen ſich ſelbſt 
geworden war, und keinen andern etwas zu 
lehren wagte, worin er ſich felbſt noch ſo 


— 


N | 11 
ſchwach fühlte. Die Aufnahme, welche er in 
Holland, z. B. bey dem bekannten Philologen 
Grävius fand, hatte vielleicht Einfluß darauf, 
daß er nach ſeiner Rückkehr in ſeine Vater— 
ſtadt nicht nur das bürgerliche Recht und die 


Pandekten lehrte, (wobey er Grotius und Pu— 


fendorf ſtets unter ſich, und ſich mit andern 
zu vereinigen ſuchte,) ſondern auch ſelbſt ges 


richtliche Händel führte; denn das, meynte er, 


ſey der Prüfſtein, an welchem die Kenntniß 
manches Rechtsl hrers die Farbe verliereu wür— 


de, wenn er ſeine Theorie auf einen vorgeleg— 


ten Fall anwenden ſolle, und ohne dieſe An— 


wendung ſey fie nur ein todter Körper, Tho— 
maſius zeigte bey dieſer Gelegenheit großen 
Scharfſinn, Gewandheit und nicht gemeine Ge— 


lehrſamkeit. Auf die Literatur Deutſchlands 


oder auf den innern Zuſtand der Wiſſenſchaf— 


ten hatten dieſe Händel freilich keinen weitern 


Einfluß, aber ſie zeigen uns in dem Character 
des Mannes Redlichk:ir, Gradheit, und Offenheit, 


die Vertrauen erwarben, weil ſie Vertrauen 


verdienten, und eine Liebe für das Recht, die 


keine Arbeit ſcheute, und die dem gemeinen 


Advocatenſinn fremd iſt. ) Indeß verließ er 


) Der erſte feiner, 1720 heransgegebenen, ju— 
riſtiſchen Händel fällt in dieſe Periode. 


12 | 1 


bald die Gerichtshöfe: denn, obwohl ihm dieſe 
Uebungen einen wünſchenswerthen Lohn — 
Antheil an der Staatsverwaltung 4 Ander 
Ferne zeigten, ſo mochte ſein Gemüth, welches | 
bereit war, geduldig zu ertragen, was Gott 
ihm auflegte, ſich doch nicht nach dem Vielſinn 
des Volks richten, oder dem langweiligen Her⸗ 
gang der Gerichte folgen. Daher fing er fei« 
ne Vorleſungen wieder an; eine große Menge 
Zuhörer machte ihn kühner in ſeinem Vortra— 
ge: aber dieſe Kühnheit im Vortrage neuer 
und ungewohnter Lehren erſchreckte die jungen 
Leute ſo ſehr, daß ſie ihn bald mit ſeinem 
Grotius allein Lieffen. *) Der überraſchle 
Mann ließ ſich durch dieſen Vorfall nicht irre 

machen, und auch feine Zuhörer erhohlten ſich | 
bald von dem Schrecken, den ihnen eine ſolche 


unerwartete Neuerung eingejagt hatte. Sie 


) Am angeführten Orte 8. 17. Alacriorem me 
reddebat frequentia Vestra, quam tum quidem 

1 non expectaveram, sed vix tamen bro primo 
absoluto, cum praecedente die Corona vestra 
circumdatus docueram , [ubito me solum relin- 
quebatis cum Grotio. Ita videlicet terror Pani- 


cus ingruentis pestis Vos expulerat a Telietis 


nostris. 


13 


verſammelten ſich wieder um den Lehrer, und 
dieſer konnte die Borlefungen, indem er vor: 
ſichtiger zu Werke ging, beendigen. Dann un— 
ternahm er ein neues Collegium über des Vu: 
fendorfs Buch von der Pflicht des Menſchen 
und Bürgers. Die Art, welche er bey dieſen 
Vorträgen befolgte, hat er ſelbſt beſchrieben, 
und fie verdient Lob. Pufendorfs Lehren hat— 
ten großen Widerſpruch erregt: darum ſchickte 
er eine Geſchichte der Streitigkeiten vorauf, 
führte ſelbſt dir Sache der Partheyen, hob den 
eigentlichen Nerv der Behauptung heraus, 
zeigte die Quellen und den Urſprung der Sä⸗ 
tze und den Zuſammenhang derſelben unter ſich 
ſelbſt: aber der Hauptpräfſtein für die Wahr: 
heit einer Hypotheſe blieb ihm doch, wie es 
ſcheint, der Einfluß auf das Leben, den man 
ſich davon verſprechen konnte. Ob das die 
freye Unterſuchung nicht gehindert habe? läßt 


fi nicht ausmachen, weil es ſic vielleicht an⸗ 


ders verhält. 

Im Jahr 1683 trat Thomaſius öffentlich 
hervor mit Anmerkungen zu Strauchs Diſſer— 
tationen über das römiſche Privatrecht; ) eine 


) Annotationes theoretico practicae in Joh. Sırau- 


chii dissertationes ad universum jus Justinea- 


14 5 
Schrift, die freylich nicht ohne Scharfſinn ver 
faßt iſt; die ihm aber ſchwerlich, weil er nur 
dem Grotius und Pufendorf folgte, und ſein Vater 
ihn vielleicht abhielt, ſo frey zu reden, als er 
fpäter pflegte, einen Platz in der Geſchich— 
te der Literatur vindicirt haben würde, zumal | 
da fie lateiniſch gefhricben war. Daſſelbe gilt 
auch von der lateiniſchen Schrift, die er 1685 
über das Verbrechen der Vielweiberey *) herz 
ausgab, aber fie ift darum merkwürdiger, weil 
ihr Berfnffer merkwürdig geworden iſt, und fie 
gewiß Einfluß auf ſeinen Lebensgang hatte. 
Sein Vater war nämlich unterdeß geſtorben: 
neum privatum. Schon früher find einige Dis— 
pufafionen von ihm theils in Frankfurt, theils 
in Leipzig gehalten. Alle Disputatiouen und 
Diſſertationen des Thomaſius ſind vom Jahre 
1775 bis 1780 in 4 Quartbänden von Uhl 
geſammelt und zu Halle gedruckt. Für den 
Juriſten mögen fie einen großen Schatz ent⸗ 
halten: wir aber können uns nicht auf ſie 
einlaſſen, denn ihre Zahl iſt 138, und fie 
behandeln oft nur einen Gegenſtand des übli⸗ 
chen Rechts. Nur einzelne, durch ihren In⸗ 
halt, oder die Zeit ihrer Erſcheinung bedeu— 
tende, können von uns angeführt werden. 


) De crimine bigamiae. 


15 


wer hätte ihm da Vorſicht gepredigt? Er ging 
freyer mit der Sprache heraus, und legte es 
der Welt klarer vor Augen, was man ſich bis— 
her aus dem Munde der Studenten über ſeine 
Vorleſungen erzählt hatte. Freylich griff man 
ihn dieſer Schrift wegen noch nicht an, aber 
ſie brachte doch den erſten Satz des Unwillens 
in manches Gemüth 5 und man verzieh es ihm 
nicht, daß, ob er gleich zugab, die Polygamie 
ſey durch willkährliche göttliche und menſchli⸗ 
che Rechte verboten und des wegen ein Frevel, 
er es nicht eingeſtehen wollte, ſie ſey wider 
das Naturrecht. — ee NR 
Die erſte Schrift, welche Thomaſius in 
der Sprache ſeines Vaterlandes ausgehen ließ, 
war ein Programm, — »welcher Geſtalt man 
denen Franzoſen im gemeinen Leben und Wan⸗ 
del nachahmen folle?« — worin er »der ſtu— 
dierenden Jugend zu Leipzig ein Collegium 
über des Gratians Grundreguln, vernünftig, 
klug und artig zu leben, « eröffnete. Dieſe Ab- 
handlung ſchlug er im Jahre 1688 an das 
ſchwarze Brett, welches noch nie durch die 
deutſche Sprache entweiht worden war: und 
a damit war für Deutſchlands Literatur gewiß 
ein wichtiger Schritt gethan, und für die Bil— 


N 


m. et 


16 
dung ſeiner Sprache das ſicherſte Mittel er: 


griffen. Zwar hatte Luthers ſchaffender Geiſt a 


die rauhe Maſſe deutſcher Wörter zu einer 
Sprache gebildet, voll Kraft und Würde, und 
eines ernſten Anſehens, jedoch nicht ohne Bier: 
lichkeit und Anmuth; und mancher kräftige 
Mann hatte ihm, wie in der Kühnheit des 


Denkens, ſo in der Anwendung deutſcher Rede 


nachgeeifert. Aber weder die Gediegenheit ſei⸗ 
ner übrigen Werke, noch die Lauterkeit ſeiner 
lleberfegung der heiligen Schriften konnten be⸗ 
wirken, daß Deutſchlands Gelehrten auf ſeinen 
Fußſtapfen fortgewandelt wären. Sein Kampf 
mit der deuifhen Sprache war vielleicht nicht 
minder wichtig, als der mit der römiſchen Hie— 
rarchie; aber die Siegstropäe, die er in jenem 
davon trug, glänzte nicht länger ungeſtört, als 
die, welche ihn in dieſem verherrlichte. Wer 
noch deutſch ſchrieb, der verunſtaltete die 
Schönheit feiner Sprache durch Flittern, die 
er den Franzoſen abborgte, um ſeine Rede 
damit reichlich zu umhängen: jemehr man 
franzöſiſche Wörter unter die deutſchen hob. 
deſto zierlicher und geſchickter glaubte man zu 
ſprechen, und es iſt zuweilen ſchwer zu erken— 
nen, ob das Deutſche oder das Franzöſiſche 

die 


17 
die Grundlage iſt. Dieſe Unart war es wohl 
zunächſt, was im Anfange des ı7ten Jahr- 
hunderts den Palmorden hervorbrachte; eine 
Geſellſchaft, die ſich ſelbſt die fruchtbringende b 
nannte, und deren edle Mitglieder ſich die 
Reinheit der deutſchen Sprache zum Haupt— 
zweck ſetzten. Sie wurde im Jahr 1617 nach 
Italieniſcher Weiſe durch Caſpar von Teutle— 
ben zu Weimar — wo Deutſchlands Genius 
ſo oft die goldenen Flügel regte — geſtiftet, 
und Herzog Ludwig von Anhalt zum Vorſteher 
derſelben ernannt. Sie erhielt ſich bis zum 
18ten Jahrhundert und ſtrafte ihren Namen 
nicht, wie es oft geſchieht, Lügen. Während 
der grauenvollen Verwüſtung, welche der Krieg 
30 Jahre lang über Deutſchland ausſchüttete, 
. entfloffen dem troſtreichen Munde des edlen 
Opitz deutſche Geſänge; zeigte der ſinnvolle 
Logau deutſchen Witz, und lehrte der gediege— 
ne Flemming fromme Ergebung. Ihnen folg— 
ten Andre, von denen ſich, wenn nichts an— 
ders, doch das rühmen läßt, daß fie auf Rein- 
heit der Sprache hielten. Aber, wenn auch 
die Töne dieſer Dichter nicht umſonſt verhall— 
ten, ſo hatten ſie auf die Sprache wenigſtens 
nicht ſo vielen Einfluß, daß ſich die alte Weiſe 

RR 


18 | 
nicht neben ihrer Reinheit erhalten, und wo 
möglich verſchlimmert hätte. Ueberdem herrſch—⸗ 
te der Wahn, daß ein Gelehrter nur Latein 
ſchreiben und reden dürfe: denn die lateiniſche 
Sprache ſey die Sprache der Gelehrten; und 
wenn ſich jemand herabließ, in ſeiner Mutter⸗ 
ſprache etwas zu fagen, fo war es gewöhnlich 
nur, um ſich in Streitigkeiten — welche mei⸗ 
ſtens die Religion betrafen — eine Parthey zu 
machen. Auf den hohen Schulen wurde der 
Jüngling gewöhnt, Latein zu denken, und hat⸗ 
te dann für das Gedachte nur ein lateiniſches 
Wort: denn ſein Lehrer unterrichtete ihn nur 

in lateiniſcher Sprache, und lehrte ihn die | 
deutſche vergeſſen. So riſſen ſich die Gelehr— 
ten von den Ungelehrten los, und bildeten ei⸗ 
nen eignen Staat im großen Staate des 
menſchlichen Geſchlechts. Sie ſollten dieſes er— 
ziehen, und waffen ſelbſt eine Kluft zwiſchen 
ſich und das Geſchlecht, welche das Eingreifen 
ihres Geiſtes ins Leben der Menſchen unmög⸗ 
lich machte. Es iſt freilich ein Gedanke, der 
Vielen erfreulich dünkt, daß man in der latei⸗ 
niſchen Sprache ſich den Gelehrten aller Völ⸗ 
ker unmittelbar mittheilen könne: aber der 
Menſch ſoll der Welt und nicht den Gelehr ten 


19 
leben; der Gelehrte ift ein Menſch; und wer 
feinem Volke lebt, der hat der Welt gelebt. 
Wol iſt es ſchön, daß eine Sprache allen hal— 
ben verſtanden, weil fie nirgend geſprochen 
wird, und wer eine neue Wahrheit entdeckt zu 
haben meynt, der thut wohl, wenn er ſie in 
dieſer Sprache verkündigt: aber nicht, um ſie 
da zu vergraben, oder ſie dadurch allein den 
Gelehrten zu ſichern, ſondern um ſie durch die 
letztern deſto ſchneller zu verbreiten, und deſto 
früher allgemeiner zu machen. Wenn die 
Streitigkeiten der Gelehrten, beſonders der 


Er 5 
Theologen, immer in einer fremden Sprache 


geführt wären, meynt man, ſo wäre vieles Un— 
heil, was ſie über die Völker gebracht haben, 
vermieden worden: allein kein Streit ſollte ge⸗ 
führt werden, um des Streits willen; wird er 
aber geführt um Wahrheit und Recht: warum 
ſollte man ihn zu einem Privatkampf der Ge— 


lehrten machen? Iſt es etwa die Wahrheit 


nicht werth, daß die Menſchheit wider ſich 

ſelbſt für ſie in die Schranken tritt? Freilich 

ſcheinen die Beweiſe des Schwerts nicht gründ— 

lich, und die Mehrheit ſcheint den Irrthum 

vertheidigen zu können: aber der Mexfch 

kämpft nicht allein für die Sache der Wahr— 
B 2 


20 


heit, und ein gewaltiger Arm hat die Welt 
noch nicht beſiegt. Die Gewichtigkeit des 
Rechts iſt ſehr groß, und, ob die Wage zu 
ſchwanken ſcheint, ſie ſenkt ſich nach ihrer 
Seite! | | 

Gewiß war es alfo ein lobenswerther 
Schritt des Thomaſtus, daß er die Feſſeln des 
alten Vorurtheils zerbrach, und die Gewohn⸗ 
heit nicht als ſeine Göttin verehrte. Er kün⸗ 
digte ſein Collegium, deſſen Gegenſtand eben 
ſo unerhört war, als die Form, in welcher er 
es ankündigte, nicht blos deutſch an, ſondern 
verſprach auch, es deutſch zu leſen. Er hielt 
Wort; und damit war die deutſche Sprache 
auf den Lehrſtuhl verſetzt, der ihr längſt gehört 
hätte. Denn ob man gleich allgemein theils 
darüber erfiaunfe, theils dadurch aufgebracht 
wurde: ſo behielt das Gefühl, ſo ſey es recht, 
doch die Oberhand, und nöthigte nach und 
nach Deutſchlands akademiſche Lehrer, die la— 
teiniſche Sprache mit der deutſchen zu vertau— 
ſchen; oder, wenn nicht dieſes Gefühl es that, 
ſo wurden ſie auf eine andere Weiſe gezwun⸗ 
gen, dem Zeitgeiſt nachzugeben. Und ſo wur— 
den alle die Nachtheile für die Zukunft aufge— 
hoben, welche der lateiniſche Unterricht hervor— 


21 


bringen mußte. Schon dafür allein verdiente 
Thomaſius, weil er den erſten Stoß gab, in 
8 dem Andenken ſeiner Landsleute fortzuleben! 
Ob nicht neue Nachtheile daraus entſprungen 
ſeyn mögen? wer will das leugnen? Aber der 
Gewinn bleibt immer groß, weil jene bey mei: 
ten minder bedeutend find; und wären fie 
größer: wer möchte den Thomaſius dafür ver⸗ 
antwortlich machen? 

Wie groß die Achtung für die esse 
Sprache aber auch ſeyn mochte, ſo war die 
Unzufriedenheit über die Nachahmung der 
Franzoſen doch gewiß bey vielen noch größer. 
Thomaſius beginnt ſeine Abhandlung mit den 
Urtheilen dieſer Unzufriedenen, daß in Deutſch⸗ 
land Alles, ſagar die Sünden und Krankheiten 
franzöſiſch ſeyen, und daß ein alter Deutſcher, 
wenn er von den Todten wiederkehrte, ſich 
nicht würde überreden laſſen, er ſey in ſeinem 
Vaterland. Er weiſet ſie nicht ohne Scherz 
zurück; meynt, ein weiſer Mann müſſe das, 
was nicht zu ändern iſt, tragen und zum Be— 
ſten kehren. Darum räth er, den Franzoſen 


nachzuahmen, »denn fie find doch die geſchickte⸗ 


ſten Leute, und wiſſen allen Sachen ein recht 
Leben zu geben.« Aber, wer dem Alexander 


22 

nachahmen wolle, der brauche den Kopf nicht 
eben ſchief zu tragen, ſondern jeder müſſe das 
Hauptwerk ergründen, durch welches ſich der⸗ 
jenige, ſo nachgeahmt wird, ſeine Hochachtung 
erworben. Dann unterſucht er, was die Fran⸗ a 
zoſen ſelbſt unter ſich in hohem Werth halten; 
darauf: ob die Franzoſea denn auch wirklich 
hierin einen Vorzug haben? und macht nun 


eine Vergleichung zwiſchen den franzöſiſchen 


und deutſchen Gelehrten, die wahrlich nicht 
zum Vortheil von dieſen ausfällt. Aber, was 
er den Franzoſen am meiſten zum Verdienſt 
anrechnet, iſt, »daß fie ans einem überaus klu⸗ 
gem Abſehen nicht allein ihre Werke mehren⸗ 
theils in franzöſiſcher Sprache heraus geben; 
ſondern auch den Kern von denen Lateiniſchen, 
Griechiſchen „ ja auch nach Gelegenheit teut⸗ 
ſchen Autoren in ihre Mutterſprache uberſetz⸗ 
ten; denn dadurch wird die Gelehrſalnkeit un⸗ 
vermerkt mit großem Vortheil fortgepflanzet, 
wenn ein jeder dasjenige, was zu einer klugen 
Wiſſenſchaft erfordert wird, in ſeiner Landes— 
ſprache leſen kann, und es ſich nicht erſt, um 
fremde Sprachen zu erlernen, ſauer werden 
loſſen muß.“ Dagegen heißt es von den 
Deutſchen, daß ſie ihre Sprache nicht ſo hoch 


23 


halten. „Denn an Statt, daß wir uns be⸗ 
fleißigen follten, die guten Wiſſenſchaften in 
teutſcher Sprache geſchickt zu ſchreiben, fo fal- 
len wir entweder auf die eine Seite aus, und 
bemühen uns die Lateiniſchen oder Griechiſchen 
Terminos technicos mit dunkeln und lächerli⸗ 
chen Worten zu verhuntzen, ) oder aber wir 
kommen in die andre Ecke, und bilden uns 
ein, unſre Sprache ſey nur zu denen Handlun— 
gen im gemeinen Leben nützlich, oder ſchicke 
ſich, wenn es aufs Höchſte kömmt, zu nichts 
mehr, als Hiſtörchen und neue Zeitungen dar— 
innen zu ſchreiben, nicht aber die philoſophi— 
ſchen oder deren höhern Facultäten Lehren 
und Grundreguln in ſelbiger vorzujtellen.« 

So weit verräth ſich ein edler Eifer für 
unſre Sprache; minder gut aber möchte es 
ſcheinen „ was Thomaſius gegen das Lernen 
der lateinifchen über die Einführung der 
franzöſiſchen und überhanpt von dem Uns 
terricht ſagt. Aber Folgendes muß man nicht 
vergeſſen. Gegen das Lateinlernen ſpricht 
) Einige Mitglieder des Palmordens haßten und 

flohen jeden fremden Ausdruck nicht minder, 
als einige Puriſten ufer Zeit, und machten 
ſich dadurch eben ſo lächerlich | B 


24 | 

Thomaſius nicht in Rückſicht des Gelehrten, 
ſondern in Rückſicht des gemeinen Lebens und 
Wandels. »Man laſſe diejenigen, ſagt er aus⸗ 
drücklich, ſo Luſt dazu haben und die vom 
Studiren die Zeit ihres Lebens Profeſſion ma⸗ 
‚hen wollen, Latein und Griechiſch genug ler⸗ 
nen, denen aber, ſo man im gemeinen Leben 
gebrauchen will, und denen das Studiren we⸗ 
gen des Lateiniſchen ſauer und verdrießlich 
wird, helfe man ohne Verdrießlichkeit, mit dem 
was fie gelernt haben, fort.« Er ſtreitet ge- 
gen das Lateinlernen, »nicht zwar, als ob die 
lateiniſche Sprache die Gelehrſamkeit hindern 
ſollte, (denn wer wollte ſo unvernünftig rai⸗ 
ſonniren?) ſondern weil durch die durchge— 
hends gewöhnliche Lehrart viel unge⸗ 
gründet und unnöthig Zeug nebſt den Latein 
in die Gemüther der Lehrlinge eingeprägt wird, 
welches hernachmals ſo feſte Elebet. und merk⸗ 
liche Verhinderungen bringet, daß das tüchtige 
und geſcheide nicht haften will. Daß Tho— 
maſius aber mißverſtanden wurde, und daß 
ſich von ſeiner Zeit an die zunehmende Abnei« 
gung gegen die alten Sprachen herſchreibt, da⸗ 
für iſt er wol etwas verantwortlich, weil er 
doch behauptete, auch ohne die Sprachen kön⸗ 


25 


ne man gelehrt ſeyn, »Sprachen ſeyen wol 
Zierrathen eines Gelehrten, aber an ſich ſelbſt 
machten ſie niemand gelehrt; « und weil er in 
der That nicht zu fühlen cheint, daß grade 
durch die Sprache und durch die Darſtel⸗ 
lungsweiſe des Schönen und Wahren, das 
Alterthum klaſſiſch iſt. Freylich war das Ka: 
tein dieſer Zeit nicht die Sprache des alten 
Roms; aber eben deswegen hätte er durch ſei⸗ 
nen Ausdruck fie nicht mit dieſer in eine Klaſ⸗ 
ſe ſetzen ſollen. Deutſche Wörter mit lateini⸗ 
ſchen Endungen nannte man auch Latein — 
Daß er aber die franzöſiſche Sprache neben 
der deutſchen beybehalten wollte: dafür ver⸗ 
dient er Entſchuldigung, weil jene ſich auf 
Deutſchlands Boden ſo feſt eingewurzeſt zu 
haben ſchien, daß wol ſein kühner Geiſt daran 
verzweifeln mochte, fie je auszurotten. Darum 
ſuchte er, ſeinem angeführten Grundſatz getreu, 
aus der Lage der Dinge ſo vielen Nutzen als 
möglich zu ziehen, und will durch die »natura— 
liſirte« franzöſiſche Sprache neben der deut⸗ 
ſchen die lateiniſche entbehrlich machen. — 
Ueberhaupt aber ſcheint ſeine Abſicht bey der 
Erziehung ſchon gar zu ökonomiſch, wie bey den 
Neuern, zu ſeyn; er dringt immer auf den 


26 


Nutzen, d. h. auf den Vortheil für Einen be: 
ſtimmten Zweig des menſchlichen Lebens, und 
will ſchon Alles den jungen Leuten »gleichſam 
ſpielende und als durch einen angenehmen Zeit⸗ 
| vertreib« beybringen: eine Methode, die ſich 
jetzt unter ans ſo beliebt gemacht hat, n der 
Epigrammatiſt ſpotten konnte: 
5 Ueber die Bübchen annoch macht ſch zu 
Buben das Volk. 

Bey allem Guten aber, was Thomaſtus 
von den Franzoſen ſagt, unterläßt er nicht ih⸗ 
re Anmaßungen, beſonders über die Deutſchen, 
lächerlich zu machen, und feine Landsleute das 
durch gegen ſie zu reitzen, und meynt endlich 
»wenn man dennoch ja denen Frauzoſen nach⸗ 
ahmen will, ſo ſolle man ihnen hierin nachah⸗ 
men, daß man ſich auf honnete Gelehrſamkeit, 
beauté d’esprit, un bon gout und galanterie 
befleißige: « daraus würde »ein vollkommner 
weiſer Mann entſtehen.« Als Mittel dazu 
bietet er ſeine Vorleſungen an. Der ganze 
Aufſatz iſt nicht ohne Laune geſchrieben, und 
der Satyt, der ſich in vielen der Thomaſiſchen 
Schriften fo verhaßt machte, tritt fchon in die 
ſet auf, freylich hier wie immer im Coſtume 
ſeiner Zeit. 


27 


ud Unmittelbaren Einfluß auf die Schickſale 
des . hatte dieſes Werkchen nicht; 
bgleich es aus den angeführten Urſachen Auf⸗ 
Nye no machte, und ſehr verſchiedene Ur⸗ 
theile veranlaſſen mochte. Die Vorwürfe, wel: 
che man ihm darüber und über das Collegium 
ſelbſt machte, beantwortete er theils indirect in 
den monatlichen Gedanken, theils direct 13 
Jahre ſpäter; aber dieſe Beantwortung war 
wol nicht geeignet, ihm Freunde zu erwerben. 
Er habe den Franzoſen einen großen Vorzug 


vor den Deutſchen gegeben, ſagte er, weil er, 
als einer, der nicht gereiſ't wäre, nicht gewußt 
hätte, »ob in Frankreich unter den Vorneh— 
men und Gelehrten ſo viel Pedanten, dumme 
Teufel und ungeſchickte Kerl gefunden würden, 
als in Deutſchland.« Aber er ließ ſich durch 
das Lob, was ihm einige hellere Köpfe ertheil— 
ten, reizen, ſich durch mehrere Schriften dieſer 
Art bekannt zu machen, um ſich, wie er ſagt, 
aus der Dunkelheit hervorzuthun, in welcher 
er damals noch verborgen lag. Dieſen Ehr— 
geiz tadelte er ſpäterhin, aber jetzt war er doch 
die Veranlaſſung zur Herausgabe der monat: 
lichen Gedanken, die er mit dem Jahre 1688 
zu ſchreiben begann. 


28 
Aber noch vorher, 1687, bewies er, daß er 
die lateiniſche Sprache eben nicht abgeſchafft 


wiſſen wollte. Es erſchien nemlich f 
leitung zur göttlichen Rechtsgelahrthe 
dieſer Sprache, *). vielleicht aus dem br 
ten Grunde, vielleicht aber auch, weil er die 
ſen Gegenſtand lateiniſch zu denken gewohnt 
war und weil ihm fein Führer lateiniſch 
den Weg zeigte. Dieſer Führer war Pufen: 
dorf, über den er, wie wir oben erzählt haben, 
Vorleſungen hielt. Er hatte zu den Vorträ— 
gen kein Heft geſchrieben, fondern ſie nach ei: 
ner vorhergegangenen Meditation frey gehal⸗ 
ten; nemlich er wollte es ſich bequem machen 
und die fleißigen Nachſchriften der Studenten 
benutzen, aber er fand — was wol mancher 
Profeſſor finden würde — daß ſie ihn nicht 
nur mangelhaft, ſondern oft ganz und gar 


ei, Institutionum jurisprudentiae divinae libri tres. 
Das Buch kam 1709 auch dulſt heraus; aber 
ich habe die Ueberſetzung nicht geſehen. Die 
lateiniſche Ausgabe von 1730 iſt in 4. Über 
ſein Latein hat man dem Thomaſius Vorwürfe 
gemacht, und ihn wol gar beſchuldigt, er ſchrei— 
be deutſch, weil er das Latein nicht ſonderlich 
verſtehe: nicht ganz mit Unrecht. 


= 

nicht gefaßt und zuweilen völligen Unſinn Bin: 
geſchrieben hatten. Dies veranlaßte ihn zu⸗ 
nächſt, das genannte Werk auszuarbeiten, um 
für die Zukunft ähnliche Mißverſtänduiſſe zu 
verhüten. Das Buch enthält 460 Seiten, und 
war für die damalige Zeit gewiß wichtig: aber 
für uns hat es ſeinen Werth verlohren, und 


ſelbſt in einer Lebensbeſchreibung des Thoma- 


ſius verdient es nicht ſo vielen Raum einzu⸗ 
nehmen, als die vorige kleine Abhandlung, 
weil er in dieſem Werke nur unter Pufendorfs 
Fahne focht. Was etwa Gutes und Neues 
darin enthalten iſt, davon fällt die Ehre auf 
Pufendorf und deſſen Vorgängern, und Tho⸗ 
mafius hat nur das Verdienſt, ihn erläutert 


und verbreitet, ohne die Wiſſenſchaft dadurch 


weiter gebracht zu haben: ein Verdienſt, das 
nach unſrer Meynung die Geſchichte verſchwei⸗ 
gen darf. Was dem Thomaſius eigen zu ſeyn 
ſcheint, das iſt, was das Weſen der Wiſſen⸗ 
ſchaft betrifft, höchſtens eine Folgerung aus 
einer, oder ein Grund mehr für eine Pu— 
fendorfſche Behauptung; oft liegt es wol 
mehr in den Worten), als in der Ga: 


che, oft auch in der Anordnung der Mate: 


— 


0 


3o 


rien. ) Was dieſe Ordnung aber felbjt an: - 
langt, fo ſcheint Thomaſius darin richtig geur⸗ 
theilt zu haben, daß es auf die analytiſche 
oder ſynthetiſche Methode nicht, fondern dar: 
auf ankomme, daß man vom Leichtern zum 
Schwerern fortgehe. Das heißt aber nicht et⸗ 
wa, daß er einen an und für ſich evidenten Satz 
aufſtellte und daraus mit logiſcher Stren— 
ge weiter folgerte: ſondern er wendet jene 
Weiſe an, die ſich ſo beliebt gemacht hat, und 
die durch Eintheilungen uud Abtheilungen 
gewiſſer Erſcheinungen im menſchlichen Ge⸗ 
müth dahin führt, wohin man will. Er geht 
von der Erklärung des Namens der Jurispru— 
denz aus, ſetzt dabey die Fertigkeiten des Men⸗ 
ſchen auseinander und bringt es auf dieſe Wei— 
ſe durch Unterſcheidungen und Abtheilungen in 
17 Schröckb führt in der Lebensbeſchreibung Pes 
Thomaſius (allgemeine Biographie Th. 5. . 
284.) einige Sätze deſſelben an, die er aus den 
Theſen abſchrieb, über welche Thomaſtut dis 
putiren ließ, und die er dem Werke anhäng- 
te — Schröckh, ſage ich, ſchrieb einige die⸗ 
ſer Sätze ab, und ſagt von ihnen, ſie ſeyen 
dem Thomaſius eigenthümlich. | 1055 


31 
99 Ss. zu dem Axiom, was Pufendorf und an: 
dre als Grundſatz des Naturrechts aufgeſtellt 
hatten. Dieſes Axiom iſt: nur in der Geſell— 
ſchaft giebt es ein Recht. Es Fönnte aller: 
dings ſcheinen, als ob Thomaſius in dieſen 
Worten den richtigen Begriff des Naturrechts, 
daß es ſey das nothwendige Verhältniß freyer 
Weſen zu einander, zum Grunde gelegt hätte: 
aber eine Note, worin er ſagt: »Adam hatte 
alſo vor der Eva kein Recht,« würde ſchon al: 
lein beweiſen, daß Thomaſius die Moral mit 
der Rechtslehre vermengte, wenn es auch nicht 
aus dem Folgenden erhellte. Übrigens ver: 
ſteht es ſich wol von ſelbſt, daß in einem Wer— 
ke dieſer Art vom Thomaſius eine Menge 
Wahrheiten enthalten find, die ewig Wahrs 
heiten bleiben werden, aber von einem Syſtem, 
zu welchem ſie als Theile und als nothwendige 
organiſche Glieder gehörten, kann nicht die 
Rede ſeyn. Thomaſius wußte es recht gut, daß 
zwiſchen Naturrecht und Moral ein Unterſchied 
ſey, aber er „ nicht, und wo er 
mit jenem nicht auskonnte, da nahm er zu 
dieſer ſeine Zuflucht, und ſogar kommt er zu— 
weilen mit der Offenbahrung dazwiſchen: auch 
hat er ſelbſt ſeine Ueberzeugung fpäterhin ver— 


— 


32 


ändert, wie wir zu feiner Zeit bemerken wer: 
den. Aber 4 Jahre nachher las er noch über 
dieſes Buch in Halle, und wahrſcheinlich 
deutſch; wenigſtens kündigt er das „ e 
an in einem deutſchen Programm. 
Was dieſes Buch für die Schickſale des 
Thomaſius wichtig machte, das war feine po: 
lemiſche Seite. Valentin Alberti hatte Pufen⸗ 
dorfs Grundſatz des Naturrechts heftig beſtrit⸗ 
ten und an deſſen Stelle den Stand der Un— 
ſchuld oder das Ebenbild Gottes, welches man 
wiedererlangen müffe, gefegt. *) Thomaſius 
kam natürlich auf dieſen Punkt und widmete 
ihm eine eigne Digreſſion, in welcher er den 
Alberti, ohne ihn zu nennen, widerlegte und 
beſonders ſeine Idee einer chriſtlichen Philoſophie 
gänzlich verwarf; und hier iſt es, wo er der Na⸗ 
tur der Sache nach etwas Neues, von Pufen— 
dorf nicht berührtes, vorbringen mußte. Nun 
war, wie wir erzählt haben, Alberti einer der 
Lehrer des Thomaſius, und es gehört bekannt— 
lich zu den Sonderbarkeiten menſchlicher 
Schwäche, daß man es dem Schüler verargt, 
wenn 

„) In feinem Compendio juris naturae ortho- 


doxae theologiae conformato. 


33 


wenn er es wagt, andrer Meynung als der 
Lehrer. zu ſeyn: das nennt man Undankbarkeit. 
Thomaſius aber war überzeugt, daß die Wif- 
ſenſchaften ſchlecht gedeihen würden, wenn der 
Schüler ſtehen bliebe, wo der Lehrer ſteht; 


daß nicht jener wider dieſen, ſondern daß Mey⸗ | 


nungen mit Meynungen für die Wahrheit 
kämpften, dir nur dadurch erforſcht werden 
könne; daß im Reiche der Geiſter nicht das 
Alter gelte; und daß bey der Einrichtung un— 
ſerer Univerſitäten das Verhältniß des Lehrers 
zum Schüler ſelten von der Art ſey, daß jener 
ſich zur Dankbarkeit gegen dieſen gedrungen 
fühlen könnte.) Dennoch nannte er, um die 
Schwachheit zu ſchonen, ſeinen Gegner nicht, 
und dieſe Schonung ſollte jeder Schüler gegen 
den Lehrer beobachten. Aber Alberti konnte 


auch ſo dem jungen Mann nicht verzeihen; 


und er fand bald Gelegenheit, eine unedle Ra— 
che zu üben. — Ueberdem warf Thomafius 
in dieſem Werke manchen Blick auf ſein Zeit— 
alter und auf den Zuſtand der Gelehrſamkeit 
*) Er ſpricht weitläuftig darüber im Juliusſtü— 
de der Monatsgeſpräche, und an vielen an: 


dern Orten. 


n 


34 
und die Leipziger Gelehrten fühlten ſich durch 
ſeine Ausdrücke — nachdem Alberti ſie ihnen 
erklärt hatte — ſo getroffen, daß ſie nachher 
auf einige Sätze dieſes Werks ihre Anklage 
wider ihn gründeten. Vielleicht würde doch 
ihre Rachgier in ſich ſelbſt ausgebrandt ſeyn, 
hätte nicht der Gegner durch einen neuen 
Schritt den Ausbruch der Flamme befördert. 
Seit dem Jahre 1665 war durch die Fran⸗ 
zoſen — denn des Photius Myriobiblon läßt 
ſich hier wol nicht herrechnen — ein neuer Weg 
literariſcher Mittheilung — oder, wenn man 
beſonders auf die neuen Zeiten ſehen wollte, 
fo könnte man fagen, eine neue Quelle ſchrift⸗ 
ſtelleriſchen Erwerbs — entdeckt worden in der 
Bekanntmachung wöchentlicher oder monatli⸗ 
cher Schriften. Das Journal des Savans hatte 
die Ehre das erſte, aber nicht das Gläck lange 
das einzige Werk dieſer Art zu ſeyn. Die 
Franzoſen ſelbſt ahmten ſich nach, und die 
Engländer und Italiener ließen ſich bald in 
die Bahn rufen. Otto Menke, Profeſſor in 
Leipzig, fing, nach einer in England und Bel: 
gien gemachten Reiſe, ein ähnliches Journal 
in Deutſchland an, aber in lateiniſcher Spra⸗ 


35 
che (acta Eruditorum), in welchem eine Ges 
ſellſchaft Leipziger Gelehrten Auszüge aus 
neuen Büchern zu geben, auch wohl ein Ur— 
theil darüber zu ſprechen ſich erlaubte. ) 
Thomaſius hatte im Jahre 1685 »die Ehre ge— 
habt, als ein Mitglied dieſer berühmten So— 
cietät angenommen zu werden.“ Aber er blieb 
es nicht lange. Mit ſeiner Disputation über 
die Bigamie hatte er manchen verdrießlich ge— 
macht, aber er »ſtieß dem Faß gar den Bo— 
den aus, als er das erſchreckliche, und ſo lan⸗ 
ge die Univerſttät geſtanden hatte, noch 
nie erhörte Crimen begienge, ein deutſch 
Programm an das ſchwarze Brett zu 
ſchlagen, und über die Anleitung zur göttli— 
chen Rechtsgelahrtheit zu leſen anfing Dies, 
die Sorge für ſeine Familie, und der Beyfall, 
den ſein deutſches Programm erhalten hatte, 


) Die acta Eruditorum behielten auch in fremder 
Sprache in Deutſchland nicht lange den Platz 
allein. 1686 kam zu Hamburg heraus Epheme- 
rides savantes; 1698 zu Lübek Nova litteraria; 

; 1703 36 Hamburg nova litteraria; 1700 zu Sal» 
le observationes selectae ad rem litt. spectan- 


tes etc. 


u 


C 2 


56 | | 

brachten ihn auf den Gedanken, eine Monats⸗ 
ſchtift in deutſcher Sprache *) herauszugeben, da 
er überdem vieles über den Zuſtand der Wiſ⸗ 


ſenſchaften und der wiſſenſchaftlichen Inſtitute 
zu erinnern hatte, und manches zu vetbeſſern 


180 


wünſchte. 
Wenn man dieſen Schritt des Thomaſtus, 


wodurch er das Journalweſen auf Deutſch⸗ 


) Die Sprache des Journals iſt treuherzig und 
kräftig, zwar nicht rein, d. h. nicht ohne 
Einmiſchung ausländiſcher Wörter, auch nicht 
grammatikaliſch richtig, aber doch deutlich, und 
ſelbſt das hat einen gewiſſen Reiz, daß ſie 
etwas unbeholfen iſt; ſie gleicht dem Kinde, 
das ſeinen erſten Gang verſucht, und es iſt 
nicht unintereſſant, den Wachsthum zu beobach⸗ 
ten, und die Feſtigkeit, die ſie erlangt. Schief 
und unbeſtimmt, wie Eichhorn in ſeiner Sitte: 
rärgeſchichte fie nennt, hab' ich fie nicht ge⸗ 
funden. Daß z. B. zwey Negationen ſtatt einer 
gebraucht werden, (wie keiner nicht für keiner) 
und andre Kleinigkeiten dieſer Art muß man 
überſehen; aber ſo etwas kommt auch noch 
55 in unſern ſchönſchreibenden Zeiten vor; 
manche Wendung durch Partikeln verdient 
nicht die Verachtung, in welche der Cuxialſtyl 
ſie gebracht hat. 


| 37 
lands Boden verpflanzte, nach den Früchten 
beurtheilen wollte, die der Baum getragen hat, 
ſo würde man zweifeln müſſen, ob er Lob oder 
Tadel verdiente. Das unverkennbare Sinken 
unſerer Literatur, das Verſchwinden des deut— 
ſchen Fleißes und deutſcher Würde, die Halb— 
heit und Räſonnirſucht jüngerer Gelehrten 
(wie ſie ſich nennen), die Schwäche des Gei⸗ 
ſtes, der deſto entnervter und unheilbarer ift, 
jemehr der Dunſt erlernter Kraftwörter ihm 
ſein eignes Weſen verhüllt, der gränzenloſe 
Ungeſchmack, der ſich für gewichtig hält, weil 1 
er ſich mit Entzückung an unverſtandenen Aus: | 
drücken ergötzt — an Allem dieſen haben die 
Journale und ihre Verfaſſer unleugbar einen 
unſeligen Antheil. Der Anſtrich von allgemei⸗ 
nerer Bildung, den ſie verbreitet haben, was 
ift er? — nichts weiter, als eben ein Anſtrich, | 
auf den man ſich defto mehr zu Gute thut, je 
höher er auf der Oberfläche klebt. Der Becher 
der Gelehrſamkeit und der Wiſſenſchaft iſt durch 
ſie umgeſtürzt, ſein Gehalt zu Schaum gepeitſcht 
und in einem Staubregen weit umher verſtreuet. 
Eine unglückliche, ſogenannte Aufklärung „ we⸗ 
gen welcher man unfer Zeitalter hoch⸗ 


38 


geprieſen hat, iſt durch ſie in Köpfe gekommen, 


die ihre Leerheit nur im Dunkel hätten verber⸗ 


gen mögen, und ſie hat in das Zeitalter nur 
ſo viel Licht gebracht, um, wie Milton ſagt, 


die Finſterniß ſichtbar zu machen. Aber leug⸗ 


nen wird es auch keiner, daß einige Journale, 
deren Verfaſſer ihren Zweck und ihren wahren 
Werth kannten (was ſelten der Fall iſt), und 
die Deutſchlands Bildung gegründet und ge⸗ 
tragen haben, dazu beytrugen, die Literatur 
der Deutſchen zu der Höhe zu erheben, daß ſie 
ſinken kann, und noch dazu beytragen, daß ſie 
nicht ganz untergehen wird. Wollte man den 
Thomaſius tadeln, fo müßte dieſes dafür ſeyn 
— was in keines Menſchen Macht liegt — 
daß er die ganze Reihe ſeiner Nachfolger nicht 
überſehen konnte. Die Folgen unſers Thuns 
aber hängen nicht von uns ab, und der Menſch 
iſt höchſtens für ſich verantwortlich! 

Was den Thomaſius aber auch zur Her— 
ausgabe des Jonrnals bewogen haben mag, 
ſo hatte an der Form und der Schreibart def⸗ 


ſelben doch gewiß die Luſt des gereizten Manns 


Antheil, ſeine Gegner zu züchtigen. Die Er— 
bitterung zwiſchen ihnen war ſehr hoch geſtie— 
gen, und obgleich ſie ſich nicht öffentlich ange— 


1 g . 36 


griffen hatten, ſo konnte es ihnen, da ſie in 
Einer Stadt lebten, doch nicht verborgen blei— 
1 ben, wie ſie gegen einander geſinnt waren. 
Alberti ſchickte Späher und Horcher in Thomas 
ſius Collegia, und ließ ſeine Vorträge nach— 
ſchreiben. Dieſer nahm ſich in Acht, aber der 
lebhafte Geiſt des Mannes, der ſich feiner gu: 
ten Sache bewußt war, ließ ſich nicht immer 
durch den Willen bändigen. Und da Thomas 
ſius erfuhr, Alberti habe ſich erklärt, er 
wolle ſein Haupt nicht ruhig niederlegen, bis 
dem Thomaſius das Handwerk des Collegien⸗ 
leſens gelegt ſey; da er, ſeit fremde Autorität 
ihm nicht mehr galt, gefunden hatte, daß man 
ſie auf ohnmächtiges Feſthalten am Alten und 
Herkömmlichen gründete, und mit dem gefürch— 
teten Schilde des ächten Lutherthums verthei⸗ 
digte, dabey kleinlicher Handlungen fähig war, 
die »kein ehrlicher Heide vollbracht haben wür⸗ 
de,« fo mochte ihn dies wol beſtimmen, ihnen 
die Maske ſo weit wegzuziehen, daß die Welt 
ihr wahres Geſicht erkennen könnte. Er gab 
dem erſten Monate ſeines Journals den Titel: 
»ſcherz⸗ und ernſthafter, vernünftiger und einfäl: 
tiger Gedanken über allerhand luſtige und nütz— 
liche Bücher und Fragen, erſter Monat oder 


40 
* 
n in einem Geſpräche vorgeſtellt von 
der Geſellſchaft derer Müßigen, « und widmete 
es den Herren Barbon und Tartuffe, die aus 
Molieres Luſtſpielen als ein pedantiſcher pä⸗ 
dagog und ein ſcheinheiliger Heuchler bekannt 
genug waren. 1 Er räth ihnen darin, ſich 
mit Leſung der nichtswürdigen Gedanken doch 
ja nicht die Zeit zu verderben, und giebt ihnen 
überhaupt zu verſtehen, was ſie zu erwarten 
haben. Denn »obgleich die Heucheley eben 
keine Freundin des Lichts ſey, fo wollte er des 
ſto weniger der Heucheley heucheln; und 
»weil die Welt gern bilderte,« fo ließ er, aber 
erſt bey den folgenden Monaten, Kupfer ftes 
chen, die einer mehrfachen Auslegung fähig 
waren. a 1 | 
Die Form, in welcher Thomaſius ſeine 
Er nennt fie Tarbon und Bartuffe; ron. 
wie Hercules und Valisca ſich 25 Liebe ver⸗ 
| einigt, daß jener ſich Valicules und dieſe Her- 
culisca genannt, ſo habe er, um den Sbenehl 
men Leuten nichts von ihrem Range zu ver⸗ 
geben, das Bar zu dem tuffe, nnd das Tar zu 
dem bon geſetzt; daher ſtehe Barbon mit dem 
Hintertheile oben, mit dem Vordertheile aber 


unten, und vice versa Tartuffe. 


| 48 
Gedanken mittheilt, iſt ein Geſpräch, in mel: 
ches er 4 Perſonen auf einer Reiſe verwickelt 
N und das nur darin fehlt, daß, auf griechiſche 
Weiſe, die redende Perſon immer mit einem: 
ſagte Herr — eingeführt wird, was deutſchen 
Ohren, wie, nach Cicero, den römiſchen, höchſt 
unangenehm klingt. Chriſtoph, ein Kaufmann, 
hat die fröhliche Anſicht der Welt, die das Le: 
ben genießt, wie es der Augenblick erlaubt; 
Auguſtin, ein gereiſ'ter Kavalier, ſieht auf 
Völker und Staaten, weil er die Politik zu 


verſtehen meynt; Benedict, ein Gelehrter, hält 
auf Gründlichkeit, und David, der eben Con- 


rector werden ſoll, ſpielt die ſchmähliche Rolle 
des in Vorurtheilen gefeſſelten Verſtandes, 
und muß den dermaligen Stand der Gelehrs 
ſamkeit und der Kirche immer als den Canon 
aufſtellen, den man heilig zu halten habe: 
daß Er aber allein der Punct iſt, auf den die 
andern zielen, verſteht ſich von ſelbſt. Die 
Recenſionen neuer Bücher, die das Journal 
enthält, beweiſen, daß Thomaſius wußte, was 


die Kritik ſeyn ſoll; nemlich nicht ein freches 


Aburtheilen, das in ſchnöder Witzeley ſeine 
Anmaßung verbirgt, noch eine gedankenloſe 
Wiedergabe des geleſenen Werk's, ſondern ein 


* 


42 | 4 
ſubjectibes Urtheil über den Werth oder Un⸗ 
werth der Schrift, das nur deßwegen auf Ob 
jectivität Anſpruch macht, weil es ſich auf 
Gründe ſtützt, die allgemein gültig ſind. Ging 
Thomaſius auch nicht von den Grundſätzen | 
aus, die jeder Kritik zum Grunde liegen ſoll— 
ten, ſo leitete ihn ein gewiſſes Gefühl der 
Wahrheit, was beſſern Naturen eigen iſt, auf 
die richtigere Bahn; und davon iſt ſchon das 
ein Beweis, daß er die Form des Dispüts 
wählte, in welcher jedes Urtheil nothwendig 
als ſubjectiv erſcheinen muß, bis die endliche 
Vereinigung der Streitenden ein objectives 
gleichſam abſetzt. Das Geſpräch wird dadurch 
eingeleitet, daß Herr Chriſtoph eine Predigt 
des bekannten Abraham a 8. Clara, hervor: 
zieht, und der Geſellſchaft theils zum Arger, 
theils zur Ergötzung vorließt. Sie vereinigen 
ſich, nach manchem »Sprachwechſel,« endlich 
dahin, daß es freylich etwas arg ſey, ſo luſti— 
ge Dinge, wie der ehrwürdige Vater thue, in 
Predigten vorzubringen, daß ſie indeß doch 
recht artig wären, und ſogar Lob verdienten, 
eben weil fie beluftigten: ) Dadurch wird das 
) Vielleicht iſt es den Leſern nicht unangenehm 


an einigen Beyſpielen mehr zu hören, auf 


43 
Geſpräch auf die beluſtigenden Bücher über— 
haupt gelenkt, und vieles zu ihrem Lobe ge— 
ſagt »in Anſehen ein Menſch unter den zeitli⸗ 
chen Gütern doch eine gemäßigte Fröhlichkeit 
für ſein höchſtes Gut zu achten hat, maßen 


welche Weiſe Vater Abraham ſeine Gemeine 
erbauete? darum wollen wir einige vom Tho— 
maſtus angeführten »inventiones« deſſelben her⸗ 
fegen, Von des Jephta's Wunſch, ſagt er, 
hat er dieſe Gedanken: Jephta habe nie— 
6 5 ee zu Hauſe gehabt, als ſeine Frau und 
Tochter, habe ſich deßwegen eingebildet, feine 
Alte werde am Fenſter ſtehen, und wenn ſie 
ihn erſehen werde, ihn unverzüglich enfge: 
gen gehen, und dieſe ſeine Alte wollte er dem 
Herrn gar gerne ſchenken. Er führt mit vie⸗ 
len Exempeln aus, daß Gott im alten Teſta⸗ 
ment Ihr Geſtreng geheißen: im neuen aber 
heiße er Ihr Gnaden; daß Chriſtus Malcho 
das Ohr angebeilet, ſey darum geſchehen, weil 
er in Willens geweſen, durch eine Predigt am 
Kreutz noch gar viele zu bekehren, ſich aber be— 
fahret habe, Malchus möge wegen der ſchar— 
fen Wunden das Tüchl ſtets für die Ohren 
halten, und alſo ſein göttliches Wort nicht 
anhören, an einem andern Orte aber führe 


er an, als wenn es zu Ehren des geiſtlichen 


dieſe ein deutliches Merkmal einer inner: 
lichen Gemüthsruhe if. G c Darum wer: 
den die Romane, beſonders die | 
ſiſchen, ſehr gerühmt. Herr David der das 
Vorige nicht ſonder Unwillen, gehört, brich 
jeg in die Klagen aus, die Thomaſius bey der 
Ordens geſchehen ſey, in Anſehen Malchus dem 

ui Hohenprieſter aufgewartet, und es sp übel 
Br würde grſtanden haben, wenn er ohne Obr 
ii dem Hohenprieſter hätte nachtreten ſollen. 
Ferner giebt er für, daß Jonas die drey Ta⸗ 
| ge im Wallfiſch mit ausgeſtreckten Händen ge⸗ 
legen, wovon ihm die Arme dermaßen er⸗ 
ſtarret, daß er nachgehends dieſelben kreuz⸗ 
weiſe ausgeſtreckt behalten, und weil er ohne⸗ 
dem bleich und todtenfarbig ausgeſehen, ſo 
habe er eine Geſtalt gehabt wie ein Erucifir, 
und deßhalben ſo viele bekehret. — Die Spra⸗ 
che des Mannes iſt den Gegenſtänden angemeſ⸗ 
ſen. Thomaſtus giebt ihm indeß das Zeug⸗ 
niß, daß er am Ende gute Moralia daraus zu 
ziehen verſtehe, und es iſt kein Zweifel, daß er 
ſeine Gemeine erbaut habe. Man ſieht, es 
kommt auf 2 4 Weiſe an, wie man hört, 


nicht darauf, was man hört. Das religiöſe 


Gemüth bedarf nur Töne, die feinen Gefüh— 
len etwas gleich klingen; das unreligiöſe 
hört auch die Wahrheit der Predigt nicht. 


1 


45. 


Abhandlung über die Nachahmung der Fran— 
zoſen, angeführt hat. Ein anderer aber iſt 
der Meynung, daß noch ſchlimmer, als dieſe 
Nachahmung, die neue Mode ſey, »ſtatt der 
herrlichen librorum politicorum Aristotelis anjes 
tzo gar die franzöſiſche Galanterie der ſtudie— 
renden Jugend einzuflößen, zumal da dieſes 
ſich Leute zu thun unterfangen, die weder am 
Hofe geweſen ſeyen, noch gereiſet haben z 
woraus man ſieht, welche Urtheile jenes Unter⸗ 
nehmen des Thomaſius veranlaßt hat. Auf 
die Frage, welche Bücher man vor andern 
hochachten ſolle? weiß Herr David eine ganze 
Menge anzuführen; und da man annehmen 
darf, daß er die Tendenz und den Stand ſei⸗ 
nes Zeitalters — nach Thomaſius Anſicht — 
ausſpricht, ſo ſind ſeine Meynungen literariſch 
wichtig, obgleich der Thomaſiſche Satyr den 
Pedanten wol zu grell mahlt. In der Logik, 
meynt er, ſolle man »ein Consilium ſchreiben, 
wie mit geringen Koſten der edle pons Asino- 
zum, der nicht nur von fo vielen vortrefflichen, 
viris gravibus bisher ziemlich ausgetreten, ſon— 
dern auch von vielen Spöttern ſehr ruiniret 
worden, wieder gebeſſert, ausgeflickt und zu 
dem vorigen Splendor gebracht werden könne.« 


1 

In der Nhetoril, wie die Jugend in 5 Jahren 
wenigſtens dahingebracht were könne, daß 
ſie (nicht nur sum, sus, sut, conjugiren, ſon⸗ 
dern auch) ganze Orationes von 12 Bogen 
ſchnell verfertigen könnte, »als wodurch nicht 
allein die Redekunſt vortrefflich emporkommen, 
ſondern auch zugleich das Reich der glorwür⸗ 
digſten Metaphyſik, der die andern Disciplinen 
doch mit Fug und Recht den Pantoffel küſſen 
müſſen, hauptſächlich befeſtigt werden würde, « 
in der geiſtlichen Hiſtorie ſolle man unterſuchen 
vob David ſchon Coffee getrunken, weil gleich⸗ 
wohl Abigail ihm unter andern Präfenten ge: 
dörrete Bohnen überbracht;« in der weltlichen 
»ob Dido, nach gehaltener Tafel, nicht mit dem 
Aenea ein Pfeiffchen Tobak grraudet?« In 
der Phyſik ſolle man — nach Anleitung der 
gemeinen Lehre, daß die Luft und nicht das 
Waſſer das feuchteſte Element ſey — dacthun, 
es könne Waſſer geben, das nicht naß ſey; in 
der Mathematik ſolle man eine chriſtliche Arith⸗ 
metik mit lauter geiſtlichen Exempeln erfinden, 
und erweiſen, »daß die Probe beym Addiren, 
ſo mit dem Creuze geſchieht, viel chriſtlicher 
und richtiger fen, als die per subtrsctionem, & 
die practiſche Philoſophie aber ſolle zeigen, die 


47 


eilf Tugenden des Ariſtoteles ſeyen ſchon vom 
Salomon in feinen Sprüchwörtern approbirt; 
die Medicin ſolle den Umlauf des Bluts durch 
Induction leugnen, weil die Anatomie zeige, 
daß es im todten Körper keinen gebe; und 
um die Theologie würde ſich der unendlich ver— 
dient machen, der »ausſpinthiſirte, wie vermit— 
telſt einer einzigen ſubtilen Diſtinction — viel⸗ 
leicht unter 20 or und dier — alle Ketzer in 
allen Streitfragen widerlegt werden könnten. 

Vom Herrn Chriſtoph werden die Roma: 
ne dagegen ſehr vertheidigt und alles mit Bey— 
ſpielen belegt, denn auf dieſe Weiſe recenſirt 
Thomaſius. Man ſieht, er hat ein richtiges 
Kunſtgefühl, und die Idee, die der Darſtellung 


zum Grunde liegt, die artige invention, wie er 


es nennt, iſt, was ihn anſpricht; aber er wag⸗ 
te es noch nicht, aus einem andern Grunde die 
Sache der Romane zu führen, als ihres Nutzens 
wegen, neben der Beluſtigung: denn Beluſtigung 
und Nutzen geben, wie die Geſellſchnft über: 
einkommt, einem Buche ſeinen Werth. David 
weiß auch beyde in ſolchen theologiſchen Schrif— 
ten zu verbinden, »in welchen die Ketzer tüchtig 
geſtriegelt werden, woraus der Eifer für Got— 
tes Ehre handgreiflich zu merken.« Aber Be: 


48 } 

nedict erkennt ſolche Schriften nicht für theo⸗ 
logifih, und empfindet dabey, »anftate der gro— 
ßen Freude nut i nerliche Herzens: Wehmuth, 
daß Chriſten mit einander ſo unchriſtlich ver⸗ 
fahren, und geſteht, daß er ſich mehr beluſtige, 
wenn er ja Streitſchriften leſen ſoll, an ſolchen, 
woraus der Geiſt der Sanftmuth allenthalben 
hervorwehet, und die nach Speners Styl eins 
gerichtet ſind.« Die geiſtlichen Bücher aber 
werden von der Frage ausgeſchloſſen, und da 


Benedict den Schaden der Romane gegen ih— 
ren Nutzen abwägt, ſo führt Auguſtin als uns 
terrichtende und beluſtigende Bücher die politi— 
ſchen an. Von dieſen nun werden wieder eine 


Anzahl beurtheilt, deren Inhalt ſich größten⸗ 


theils auf den Türkenkrieg bezieht, und gute 


Rathſchläge an die Hand giebt, wie der Erb— 


feind der Chriſtenheit am ſicherſten zu beſiegen 


ſey. David unterläßt nicht, bey dieſer Gele⸗ 


genheit wieder in frommen Eifer zu gerathen, 
beſonders über die Behauptung Ludolphs: 
man würde die Türken am beſten beſiegen, 
wenn man gegen ſie Güte, Gerechtigkeit, 
Treu und Glauben beobachte. Auch war ihm 
das unleidlich, daß ein anderer »den Professo- 


ribus ihren wohl hergebrachten Titel: Ihrer 
Ex- 


49 
Excellens ſtreitig macht und fie damit aushöh— 
net. Die politiſchen Bücher werden aber 
von der übrigen Geſellſchoft verworfen. Benee 
dict meynt, in Geſellſchaft über politiſche Ge: 
genſtände zu ſprechen, ginge an, aber darüber 
zu ſchreiben, ſey ein unnützes Unternehmen, 
und dazu gefährlich. Unnütz: weil ein jeder 
meyne, ſo wie ihm, dem Privatmann, der 
Sinn ſtehe, ſo müſſe der Fürſt handeln; dieſer 
könne das aber nicht, weil ihm geheime Ver— 
hältniſſe beſtimmten, die der Schriftſteller nicht 
kenne: und wozu ſolche Kannengießereyen 
dem Privatmann frommen möchten? Gefähr— 
lich, »weil hohe Häupter lange Arme hätten, 
und, wenn man aufrichtig ſeyn wolle, man ihs 
rer doch, weil Fürſten und Herren auch menſch— 
licher Schwachheit unterworfen find, nicht ims 
mer zum beſten erwehnen kann.« — Einer 
fragt darauf den Benedict, weil dieſer ein Heft 
von Actis Eruditorum hervorzog, wie es ſich 
mit dieſen Actis eigentlich verhalte? Wie er 
abet grade erzählen will und kaum des Herrn 
Menke's, ihres Herausgebers, erwähnt hat, ſo 
fällt der Wagen um, und »ihr Discours nahm 
ein beſchneyetes Ende. | 

D 


30 


And damit endigte ſich dieſer Monat. Er 
verſandte gewiß manchen Pfeil, der den Ges 
lehrten nach alter Weiſe ſchwere Wunden ver: 
urſachte: aber dieſer letzte Ausdruck reizte die 
Herausgeber der Acta beſonders wider Thoma: 
ſius. Sie meynten, wie man leicht vermuthen 
mag, ſein Zweck ſey nur, ihr Inſtitut herun— 
terzubringen, und in dieſen Worten habe er 
ihm ein ſchmähliches Ende verkündigen wollen. 
Thomaſius dagegen behauptet, er habe nur zu 
dem Schnee ſeine Zuflucht genommen, weil 
ihm der Monat zu ſtark geworden ſey, aber 
an nichts Arges gedacht, »und, ſagt er, ich 
müßte ja ſplitter tolle geweſen ſeyn, wenn ich 
als ein junger Mann ohne allen Beyſtand und 
Autorität mir hätte den thörichten Gedanken 
in den Kopf kommen laſſen wollen. «) Ger 
nug die Herren wollten ſogleich beym Ober⸗ 
conſiſtorio in Dresden es dahin zu bringen 
ſuchen, daß der Verleger wegen des Autors — 
denn Thomoſius hatte ſich nicht genannt, ob» 
) Und um dies wahr zu finden, leſe man nur 
Bayle's und andrer Urtheile uber die Acta, 


z. B. Huholds vergl. Struvii Introduct. in no- 


titiam rei litter. cap. 6. &. 20. 
* 


51 
wol man den Löwen an den Klauen erkennen 
mochte — eidlich vernommen werden ſollte, 
aber Thomafius, der es merkte, kam ihnen zu: 
vor, und gab ſich für den Verleger aus, (was 
er auch war) der dem Buchhändler für ſeine 
Beſorgung des Werks bezahle; zugleich aber 
bat er, daß man ihm ſeine Verläumder nennen 
und ihn wider ſie hören möchte. 

Dies geſchah im Monat Februar, während 
das zweyte Stück des Journals gedruckt wurs 
de. Der Jahalt deſſelben ſcheint darauf hin— 
auszugehen, den Verfaſſer ſicher zu ſtellen, und 
eine Vorrichtung treffen zu wollen, jeden An— 
griff abzuleiten. Nachdem wir aber beym vo— 
rigen Stücke ſeine Methode beſchrieben haben, 
ſo können wir jetzt etwas kürzer über das 
zweyte „ und noch kürzer über die fol⸗ 
genden hinweg gehen. — David hatte bey 
dem unglücklichen Vorfall eine Wunde am Kopf 
erhalten: deßwegen mußte er in der nächſten 
Stadt in den Händen des Barbierers bleiben: 
das Geſpräch der drey übrigen aber fiel auf 
die onera und Herrengefälle. Daher wird von 
zweyen Büchern, die das Acciſeweſen unterſu— 
chen und einander entgegen ſtehen, der Inhalt 
erzählt, und dann das entſcheidende Urtheil 

| 2D 2 


52 | | | 3 | y 
auf eine witzige Weiſe abgelehnt. Aus dem 
Axiom: weil die Obrigkeit verbunden ſey, der 
Unterthanen Leben und Hab' und Gut zu be: 5 
ſchützen, ſo ſind dieſe verbunden, die Koſten zu 
tragen, folgert der eine — der, wie man ſieht, 
aus dem Grunde raiſonnirt — da das Leben 
wichtiger ſey, als die Güter, ſo müßten alle, 
welche leben, zu den Koſten beytragen; auch 
die Armen, dieweil ſie leben; daher müſſe die 
Acciſe nicht auf das, was einer hat, ſondern 
auf das, was er verzehrt, gelegt werden, und 
damit die Armen doch dabey beſtehen könnten, 
ſo müßten ſie etwa Brod aus Kleyen eſſen. 
Der zweyte aber fühlt die Ungerechtigkeit, die 
der Staat begeht, (d. h. die alle gegen einen 
begehen,) wenn er Armen, denen er ſelbſt ei⸗ 
ne große Schuld abzutragen hat, darum weil 
er ſie arm läßt, noch Steuern abzwingen woll— 
te: aber von der Freyheit des Adels, von den 
ſchnöden Kopfſteuern und von andern Dingen 
dieſer Art hat er noch ſchlechtere Begriffe, als 
jener. Weil aber beyde nur darauf ausgehen, 
dem Fürſten eine reiche Einnahme — zum Tür— 
kenkriege — zu verſchaffen — (wovon der eine 
ſein Buch die entdeckte, und der andre die ge: 
prüfte Goldgrube nennt) u fo weiß der luſtige 


Be 
PD 
* — 


53 


Chriſtoph einen andern, noch einträglichern 
Weg, »wenn nemlich ein Fürſt anordnete, daß, 
ſo oft ſich eine herzen ließe, ſowol Monsieur 
als Madame 2 Pfennige Acciſe. erlegen follten ;« 
durch eine Erzählung beweißt er die Richtig: 
keit der Behauptung, und meynt, auch die 
Clerici und Nobiles würden auf dieſe Weiſe 
ſchön beſteuert werden können, wenn man das 
Doppelte von der Dame verlangte. Schnöder 
und zugleich treffender konnte Thomaſius der— 
gleichen unwürdige Schriften über einen ſo 
wichtigen Gegenſtand gewiß nicht abferti⸗ 
gen! — | | 
Bey einem Beſuche, den fie in Leipzig dem 
kranken David machen, wird der Churfürſt von 
Sachſen gewaltig erhoben: Auguſtin, der ge: 
/ reiſete, hatte ihn geſehen. Thomaſius hatte 
freylich immer einen ziemlichen Reſpect gegen 
die Großen: aber es ſcheint doch in der That, 
als ob er diesmol die Schmeicheleyen — wo⸗ 
für er fie aber nicht gelten laſſen will — nicht 
ohne Abſicht geſagt hätte. — Herr David 
ſcheint durch den Fall auf den Kopf zu Ver⸗ 
ſtande gekommen zu ſeyn, und erzählt der Ge 
ſellſchaft, wie er ſeit jenem Geſpräch lange 
darüber nachgedacht, welche Bücher in deut⸗ 


er HU. 
ſcher Sprache die nützlichſten, und zugleich 
beluſtigend wären; wie er gefunden, dies 
ſey die Satyre; wie er deswegen beſchloſ⸗ 
ſen, den Philander von Sittwald nachzuah— 


men, und wie er ſchon die Titel und den In⸗ 


halt zu feinen Traumgeſichten entworfen habe, 


Bey dieſer Gelegenheit wird die ſcholaſtiſche 


Behauptung, das Naturrecht könne nicht apo— 


dictiſch bewieſen werden, lächerlich gemacht; 


und dann über Boileau's unn Petit's Satyren 
geſprochen. Die andern ermahnen Herrn Da: 
vid von ſeinem Vorhaben abzuſtehen, und ſa— 
gen ihm alle die Folgen vorher, die Thoma⸗ 
ſius erwarten mochte: Er würde ſich die ganze 
Welt auf den Hals hetzen; jeder würde Gift 


aus feinen Worten faugen: er würde för eis Fi 
nen Pasquillanten ausgeſchrieen werden, wenn 1 
er auch nur das Laſter beftraft und nicht an 
eine Perſon gedacht hätte, und wozu es nützen 


könne? Man leſe Satyren nicht, um ſich zu 
beſſen, ſondern um zu lachen, und, was darin 
enthalten iſt, auf andre anzuwenden. »Denn 
wir ſähen zwar gerne unſre Leibesgeftalt im 
Spiegel, aber das Portrait unſers Gemüths, 
welches wir doch am beſten erkennen ſollten, 


ſähen wir mehrentheils für die Geſtalt andrer 


95 


Leute an.« David läßt ſich durch nichts irre 
machen, und ſetzt ſich faſt bey dem Leſer in 
Reſpect, aber was keine Gründe vermochten, 
das thut ein Zufall. Ein Hund, der keine Ka— 
tze leiden konnte, verfolgt ein ſolches armes 
Thier ſo heftig, daß es keine andre Zuflucht 
ſahe, als den Kopf unſers Davids, der dick 
mit Betten umwunden war, In dieſem Betra— 
gen des Thiers — welches ein Bild der Saty— 
re ſey, „weil es vorn leckt und hinten kratzte — 
und den dabey vorfallenden Unannehmlichkei— 
ten erkennt der fromme Mann einen Wink 
des Himmels, feinen Uebermuth fahren zu 
laſſen. | | | 

Der Monat endigt mit einem Geſpräch 
über Zeitſchriften, was ſie ſeyn ſollen, und wie 
ſie das am erſten werden können, und manche 
treffende Bemerkung wird darüber geſagt. Die 
Acta Eruditorum werden auf das Ehrenvollſte 
erwähnt, und Bayle's lobreiches Urtheil dar— 
über angeführt. Dann läßt uns Thomaſius 
durch ſeine Perſonen die Grundſätze entdecken, 
nach welchen er ſie ſelbſt erſchaffen, und, um 
den Witz vollkommen zu machen, hätte er nur 
einen Schritt weiter gehen, und ſein Journal 
namentlich anführeg dürfen (denn er läßt wirk— 


= 


56 


lich den einen zum andern ſagen: Du ſtichelſt 
auf unſer Geſpräch). Er iſt der Meynung: 
»es wäre nicht undienlich, wenn man in dem 
teutſchen Journal ſowol die einfältigen, als 
vernünftigen Judicia mit berührete, und damit | 
die Sache deſto beffer von Statten ginge, ſoll⸗ 
te es ſich nicht übel ſchicken, wenn man der— 
gleichen Journal in Form eines Geſprächs 
verfertigte, und einen oder ein Paar alberne 
Kerl einführete, die ihr einfältig Bedenken mit 
vortrügen, die andern aber mit vernünftigen 
Urſachen ihre Meynung vorbrächten; allein ſie 
ſollten nur Einwürfe und kein entſcheidendes 
Urtheil wagen, um ſich nicht zum Richter zu 
machen; und den Leſern würde das pro und 
contra zu hören, angenehm ſeyn; ja, weil es 
unmöglich, daß ein Autor zwey widerwärtige 
Meynungen zugleich behaupten könne, würde 
man den Journaliſten ſelten anfaſſen können. 
Aber zum Beweis, daß er nicht ein albernes 
Hin: und Herſchwatzen, und die Stümperey, 
die ſich für nichts entſcheiden mag, vertheidige, 
ſetzt er hinzu: »unpartheyiſche und verſtändige 
Leute würden doch wol ſehen, wohin er am 
meiſten reflectiret hätte, die partheyiſchen aber 
würden jeder für ſich etwas antreffen, das 


57 


ſie ergreiſen könnten, als wenn der Journaliſt 
auf ihrer Seite wäre. Daher iſt es nicht zu 
verwundern, daß die Frage: welche Bücher 
man vor andern zu achten habe? unentſchie— 
den zu bleiben ſcheint. Denn nur für die 
Verſtändigen wird ſie eneſcieden ‚ wie es 
recht iſt. 5 a 
Bey dieſer Vorſiche Gelbe Thomaſius 
doch noch einen Schritt weiter gehen zu müſ— 
ſen. Daher veränderte er im Märzmonate 
ſeine ſatyriſche Schreibart, obwol es nicht ganz 
in ſeiner Macht ſtand, ſie zu vermeiden, und 
erwähnte der vorigen Perſonen nicht wieder, 
ſondern ſchaffte neue, um durch fie feine Mey: 
ee e ) Drey Männer, von 
IN ’ ? 
79 EN ſagt, er habe du dem März den 
Titel des Journals verändert, und, da er 
es vorher »Freymüthige, luſtige und ernſthaf⸗ 
fe, jedoch vernunft- und gefesmäßige Gedan: 
fen oder Monatsgeſpräche über allerhand, vor⸗ 
e aber ueue Bücher« überſchrieben, fo 
habe er es jetzo »ſcherz⸗ und ernſthafte, ver⸗ 
nünftige und einfältige Gedanken“ genannt. 
Daſſelbe erzählt auch Brucker historia philoso- 
pPbiae Nai IV. part. alt. pag. 455; anch ſteht 


es ſchon im Univerſallexicon unter dem Artikel 


„ 
welchen der eine nichts gelten ließ, als die Ver⸗ 
nunft, der andre es aber »mit den lieben Alten 
hielt, und es für Unrecht achtete gr: daß ein 
Menſch unſerer Zeit ſich weiſer d ken ſollte, 
als unſre Vorfahren, « und der dritte in bey⸗ 
der Mitte ſtand, leiſteten ihm dieſen Dienſt. 
. ganzen Monat herrſcht freylich derſelbe 
Geiſt, der das Ketzermachen der Theologen ber 
klagte, die Pedanterey der Grammatiker ver: 
lachte, und die Ignoranz der Philoſophen ver⸗ 
achtete; auch kommt noch wol ein derber 
Ausdruck vor, der den Meiſtern der Discis 
plinen nicht anſtehen mochte — über Reforma: 
tionen der Akademieen und über den »ehrlis 


* 


ell 


Thomaſtus. Aber er hatte der Schrift im An⸗ 
fang den von uns angeführten Titel gegeben, 
und daran änderte er jetzt nichts, als daß er 
f hinzuſetzte: durch E. D. F. U. K. ſtatt: von 
der Geſellſchaft derer Müßigen. Erſt das De: 1 
centre erhielt den Titel: „ernftbafte Ge 
danken über etliche ernſthafte Bücher und Fra⸗ 
gen;“ der Januar 1609 aber hieß: „freymü ⸗ 
fhige u. ſ. w. Thomaſtus ſagt: er habe 12 
März das thettrürt verändert‘ — aber nur da- 
durch, daß er die Müßigen abdankte; und er 
ändert es faſt in jedem Monat. ö 


59 
chen alten teutſchen Ariſtoteles:« aber die 
Sprache iſt viel weniger anzüglich, die Aus⸗ 
fälle auf beſtimmte Perſonen, die man wenig— 
ſtens in den erſten Monaten finden wollte, 
weniger derb, und der größte Theil des Mo— 
nats mit Recegſionen franzöſiſcher und deut- 
ſcher hiſtoriſcher und philoſophiſcher Bücher an— 
gefüllt. Dieſe Veränderung, ſagt Thomaſius, “) 
habe er gleich anfangs beſchloſſen gehabt; ſein 
Zweck ſey geweſen, »die Lehren von der wah— 
ren Tugend und von rechtſchaffener Gelahrt— 
heit, dem von der Pedanterey und Gleisnerey 
guten Theils verblendeten menſchlichen Ge— 
ſchlachte vorzutragen;« weil er aber befürch⸗ 
tet, zu viel Licht ſchade blöden Augen, ſo ha— 
be er die Welt vorbereiten und deßwegen, um 
ſie zu reizen, im Anfang dem Satyr etwas 
nachſehen, aber immer, »damit ſein Abſehen 
nicht ein bloßes Geſpötte ſcheinen möchte ernſt— 
hafter werden wollen:« abet vielleicht hatte 
die Rückſicht auf ſeine gereizten Gegner doch 
etwas Antheil daran. Dieſen entging er in⸗ 
deß nicht; denn er hatte dem Monat eine 
Einleitung vorgeſetzt, die ihre Rache heiſchte, 


' In der Vorrede zu dem Januar 168g. 


95 


Er erzählt darin, die Geſellſchaft der Müßigen 
habe ſich aufgelößt, und er habe die Fortſe— 
tzung des Journals übernommen; aber er nennt 
ſich nicht, und giebt ene en in 
ſich mit ihm bekannt zu machen, eine Be 
bung ſeiner Perſon. Die Leute, 60610 er, „ ſelbſt 
ſeine Feinde, nennten ihn einen Gelehrten, aber 
das ſey er nicht, denn er ſey zu keiner Facul⸗ 
tät zu bringen: er ſey kein Theologe, denn er 
könne nicht predigen, noch mit den Ketzern 
disputiren; kein Juriſt, denn die Praxis habe 
ihm wenig eingebracht, und er halte dafür, 
das Recht ſey ſeit den Zeiten Trebonians ſo 
verdorben, daß es nicht mehr in formam artis 
gebracht werden könne; kein Mediciner, denn 
er liebe den Rheinwein mehr, als die Perleſ— 
ſenz; kein Philoſoph, denn er halte dafür, 
daß die Logic, die man in Schulen und Aka⸗ 
demieen lerne, zur Erforſchung der Wahrheit 
ſo viel helfe, als wenn er mit einem Stroh⸗ 
halm ein Schiffpfund aufheben wollte, « und 
von der Metaphyſic glaube er, »daß die dar⸗ 
innen enthaltenen Grillen fähig find, einen ges 
ſunden Menſchen dergeſtalt zu verderben, daß 
ihm Würmer im Gehirn wachſen, und daß das 
durch der meiſte Zwieſpalt in Religionsſachen 


61 


entſtanden, auch noch erhalten werde.« Eben 
ſo ſpricht er von den andern Wiſſenſchaften, 
und ſchließt: Alſo, nachdem ich bey dieſer Be— 
wandniß für keinen Gelehrten paſſiren kann, 
bemühe ich mich noch überdem, daß ich andern 
Leuten, die als Gelehrte zu mir kommen, ihre 
Gelehrſamkeit benehmen und dieſe Ignoranz 
beybringen möge.« | 

So wenig Thomaſius erwarten mochte, 
daß dieſer Prolog den Facultätsgelehrten ge: 
fallen würde, ſo wenig hatte er wol vermuthet, 
daß man ein großes Verbrechen, und noch we— 
niger, daß man ein Verbrechen gegen die Ma— 
jeſtät darin finden könnte; aber die Herren 
würden einen ſchlechten Beweis ihrer wohl er— 
lernten Dialektik abgelegt haben, wenn ſie 
nicht in den Worten hätten finden können, 
was ſie hinein legten. Alſo ſagten ſie, weil 
Thomaſius die Disriplinen verſpottet, fo ver: 
ſpottet er die Churfürſtliche Durchlauchtigkeit 
und dero Vorfahren, weil dieſe verordnet ha— 
ben, daß nach jenen Disciplinen auf der Uni— 
berfität gelehrt werden ſolle; und die philoſo⸗ 
phiſche Facultät unterließ nicht, deßwegen eine 
Anklage wider ihn an das Oberconſiſtorium 
gelangen zu laſſen. Um den Schlag abzuwen— 


62 


den, überſandte Thomaſius die drey Monate 
feinee Geſpräche an den erſten Miniſter am 
ſächſiſchen Hofe, Herrn Oberhofmarſchall von 
Haug witz, dem, wie er wußte, die erſten Stü⸗ 
cke gefallen hatten, und bat ihn um ſeinen 
Schutz wider die verfänglichen und boshaften 
Angaben kleinlicher Menſchen. Der Miniſter 
verſicherte ihn ſeiner Gewogenheit: und der 
Anſchlag ſeiner Gegner ward vereitelt. 

Tho maſius aber, aufgebracht durch das ſchnö⸗ 
de Betragen ſeiner Gegner, legte die Materia— 
lien, welche er für den April beſtimmt hatte, 
zurück, und verfertigte für dieſen Monat einen 
Aufſatz, wodurch er jenen zeigen konnte, wie 
wenig er ihrer achte und ihres Götzen. 5 Es 
iſt bekannt, wie die Scholaſtiker dem Ariſtote⸗ 
les überall Altäre erbauet hatten, von denen 
man wol ſagen kann, ſie waren errichtet einem 
unbekannten Gott. Und obgleich mehrere geiſt⸗ 
reiche und kräfrige Männer das Bild, dem 
man auf dieſen Altären opferte, umzuſtürzen 

) „einen Aufſatz in ſolchen Ausdrücken, daß fie 
nothwendig dadurch ein heftiges Reißen im Lei- 
be empfinden, oder doch zum wenigſten zu ei, 
nem verdrießlichen Mieſen bewogen werden 


mußten,“ ſagt er ſelbſt. 


63 
geſucht hatten: fo erkannten doch die Gelehr— 
ten die feinen Dienſte, die es ihnen bey ihren 
Streitereyen geleiſtet, zu wohl, und die Ohn— 
macht ſchätzte die Zuflucht in den Schutz ſeines 
faltenreichen Gewandes, wo ſie ſo oft ihre 
Schmach verborgen hatte, zu hoch, als daß 
man nicht von allen Seiten herbeygeeilt wäre, 
dem drohenden Fall vorzubeugen. Zwar wür— 
de Ariſtoteles ſich in dem Bilde, das ſeinen 
Namen führte, ſchwerlich wieder erkannt has 
ben: aber ſein Name war doch die Aegide, 
womit man es vertheidigte, und der Stempel, 
der es heiligte. Darum lag an dem Namen 
eben ſo viel, als an der Sache, denn dieſe ru— 
hete nur in jenem. Das wußte Thomaſius, 
und darauf bauete er ſeinen Angriff. Deßwe— 
gen beſchrieb er in einem Roman das Leben 
des Ariſtoteles, wobey er manche Wahrheit 
aus ſeiner Geſchichte zum Grunde legte; aber 
er erzählte Alles auf eine ſolche Weiſe, daß 
der gute Stagirite höchſt lächerlich erſcheinen 
mußte, und in dem fpöttifh= ſchadenftohen 
Tone, womit der Menſch ſo ungern etwas Hei— 
liges profaniren hört. Ariſtoteles erſcheint in 
dieſem Roman — dafür giebt Thomaſius die 
Beſchreibung ſeines Lebens ſelbſt — beſtändig 


64 
von der Periode an, wo er ſich mit Verferti⸗ 
gung von Schminke und Fleckkugeln ernährt, 
bis zu dem Augenblick, wo er der Olympias 
eine gewiſſe Gunſt abzwingt, als ein eiteler, 
pedantiſcher, heuchleriſcher, niederträchtiger, 
ſchmutziger Bube; aber er macht auch zugleich 
die feinen Diſtinctionen, durch die Thomaſius 
Zeitalter Alles zu beweiſen ſich getrauete, dis⸗ 
putirte auf dieſelbe Weiſe, wie vielleicht man⸗ 
cher Profeſſor in Leipzig gethan haben mochte, | 
und hatte zur Verfertigung ſeiner Schriften 
immer eine Veranlaſſung, die ihm nicht eben 
zur Ehre gereicht. — Das Ganze iſt nicht 
ohne Witz geſchrieben, und was ihm oft an 
Feinheit abgehen mag, das erſetzt eine gewiſſe 
Treuherzigkeit und Derbheit; ſeinen Kynismus 
hingegen würden unſere Zeitgenoſſen wol nicht 
loben: ſie ſind ja gebildeter! Aber für jene 
Zeit trug, wie Schröckh richtig bemerkt, dieſer 
leichtfertige Angriff des Thöomaſius vielleicht 
mehr zum Sturz der Philoſophie bey, die den 
Namen des Ariſtoteles führte, als die ernſthaf— 
teſten Gründe von Luther, Ramus und an: 


dern. ) 


2 


War 


) Zu dieſem Monat gehörte, nach Schröckh, ein 
Kupfer, 


65 


War es die Keckheit des Thomaſius, die 
ſeine Gegner betäubte, oder war es die Gunſt 
des Miniſters, dem Thomaſius auch ſogleich 
das Aprilſtück zuſchickte, was ſie im Zaum 
hielt: genug ſie ließen ihn unangefochten; und 
deßwegen konnte er ſein Journal ruhig fortſe— 
tzen. Im folgenden Stücke zeigte er ſo wenig 
die kritiſche Miene, als er die ſatyriſche Fahne 
ſchwenkte, ſondern er ſchien nur ein Unterhal— 
tungsblatt — unſchuldig und nichts weiter, wie 
die Unterhaltungsblätter gewöhnlich — liefern 
zu wollen, indem er einen franzöſiſchen Ro: 
man — von der vernüuffigen Liebe — über: 
ſetzte. Das Juniusſtück aber ſollte wiederum 
Recenſionen enthalten; allein ein Streit mit 
Tſchirnhauſen verhinderte dieſen Votſatz. 
Tſchirnhauſen nemlich hatte ein philoſophiſches 
Werk in lateiniſcher Sprache herausgege— 


Kupfer, auf welchem Speuſtpp, von andern 
Schülern des Platon begleitet, dem letztern, 
eine gedruckte Nachtmuſik überreicht. Dem 
Exemplar, was ich habe, fehlen die Kupfer der 
6 erſten Monate Sie waren aber alle ſatyriſch 
und ſtanden mit dem Inhalte in Verbin. 
dung: | 

E 


65 


| ben, “) welches Thomaſtus im Märzſtücke ſei⸗ 
nes Journals deutſch excerpirt, und wider wel; 
ches er viele Einwürfe gemacht hatte. Tſchirn⸗ 
hauſen war unſtreitig der wahren Philoſophie 
viel näher, als Thomaſius — denn ſeine An⸗ 
ſicht war am Ende wol die des Spinoza; aber 
er gehört zu den Schriftſtellern, welche, weil 
ihnen ein inneres Licht aufgegangen iſt, in der 
Entzückung darüber vermeynen, Alles ergrün⸗ 
det zu haben, und was ſie ſehen, müßten auch 
die andern erblicken: darüber bemerken fie nicht 
die große Kluft, welche die Eine Einſicht von 
den verſchiedenen Anſichten trennt, und, indem | 
fie philoſophiſche Kunſt mit philoſophiſcher An 

ſchauung verwechſeln, behaupten ſie, immer mit 
dieſer beſchäftigt, hier, was ſie dort leugnen: 
daher ſind ihre Werke im Ganzen tadelhaft, 
und wenn man will 5 unphiloſophiſch. Dem 
Thomaſius, dem ein großer Schaiffinn für das 
philoſophiſche Genie geworden war — (wie 
gewiſſe Geiſter dazu beſtimmt ſind, andre von 


) Medicina mentis sive tentamen genuinae Lo- 
gicae, in qua disseritur de methodo detigendi 
incognitas veritates. N 


u.) ” 


den Melden Wegen abzuhalten obwol ſie 
ſelbſt den richtigen nicht wiſſen und nicht zu 
entdecken vermögen) — war es leicht, dem 
Tſchirnhauſen eine Menge Einwürfe zu mas 
chen, Widerſprüche zu beweiſen, und ihm die 
Quelle aufzuzeigen, woraus ſein Syſtem ge— 
floſſen war. Es iſt nicht zu leugnen, er that 
dies auf eine Weiſe, in der man auf den er⸗ 
ſten Blick nicht den graden und biedern Mann 
erkennt, und deßwegen iſt es leicht begreiflich, 
wie Tſchirnhauſen darüber ſo erbittert werden 
konnte, daß er ſich in einer eignen kleinen 
Schrift wider ſeinen Beurtheiler nicht ohne 
Heftigkeit vertheidigte. Dieſe Schrift ließ Tho⸗ 
maſius in dem Stücke des Junius abdrucken, 
und ſie, nebſt ſeiner Antwort, füllt es beynahe 
völlig aus. Die Antwort aber beweiſet 
nicht etwa blos, wie es gewöhnlich der Fall 
iſt, daß ein Journaliſt das letzte Wort behal⸗ 
ten müſſe, ſondern ſie rechtfertigt Thomaſius 
vollkommen wegen feines Verfahrens und ſei— 
ner Abſicht. Allein, obgleich der entſchloſſene 
Mann dem erzürnten Tſchirnhauſen Gerechtig— 
keit wiederfahren ließ, und ihre Differenz wol 
nur, wie jeder Streit um die Wahrheit, auf 
E 2 


68 a 
Mißverſtändniſſe beruhete, fo wurde he a 
fein Freund nicht. e | 

Diefe erften he Runder eignete Thoma: 
ſius dem Churfürſten von Sachſen, Johann 
Georg III. zu, dem ſie, wie er erfuhr, gefallen 
hatten. Er that dies in einem Schreiben, in 
welchem er dem Churfürſten ſagte, daß er es 
nicht etwa thue, um ſeinen Schutz dadurch zu 
erflehen: denn es ſey frech von einem Unter⸗ 
thanen, wenn er, bey ſeiner gere Sache, 
dieſen nicht mit Vertrauen von ſeinem Landes⸗ 
fürſten erwarte! — auch nicht aus einer andern 
Urſache, als nur der, für den genoſſenen Schutz 
zu danken. Der Churfürſt nahm ſein Schrei⸗ 
ben wohl | auf; daher feste Thomafius fein 
Journal ruhig fort; und erwarb ſich im Mo⸗ 


nat Julius ein neues Verdienſt, wenn es ans 


ders ein Verdienſt iſt, einen großen und edlen 
Mann von der Beſchimpfung zu befreyen, die 
lange auf ihm ruhte, und ihm die Achtung der 
Nachwelt zu erwerben, die er verdient: zu⸗ 
gleich aber bewieß er Tſchirnhauſen und der 
Welt, wie weit er entfernt ſey von aller Ke⸗ 
tzermacherey, und wie viel er wagen möge für 


die Wahrheit und das Recht. Tſchirnhauſen 


a; 69 
hatte den Thomaſius beſchuldigt, als ob er ihn 
eines unlautern Chriſtenthums hätte verdäch⸗ 
tig machen wollen, weil er es unter andern 
1 auch der Welt geſagt, Tſchirnhauſen habe den 
Lucretius empfohlen; denn diefer, zur verhaßten 
Schule des Epicurs gehörend, durfte nur ver— 
abſcheuet und verflucht, aber nicht empfohlen 
werden. Ohne dem Tſchirnhauſen auf die häß⸗ 
liche Beſchuldigung viel zu antworten, über: 
nahm Thomaſius hier förmlich die Vertheidi⸗ 
gung des Epicurs, und ſuchte ihn aus der un⸗ 
verdienten Verachtung zu ziehen, in die er 
durch das unabläßige Lärmen der Stoiker — 
die ihrer geptiefenen Apathie ungeachtet auf 
das Nichts der eitlen Ehre eiferſüchtig genug 
waren — und durch den niedern Sinn gemei: 
ner Seelen geſtürzt war, die ſich deßwegen ſei⸗ 
ne Anhänger nannten, weil ſie in der Worte 
Doppelſinn eine Entſchuldigung ihrer Schlech— 
tigkeit fanden, aber von ſeinem Geiſt und ſei⸗ 
ner Tendenz nichts ahndeten. Wenn ſeine 
Ato miſtik zur Erklärung des Urſprungs der Din— 
ge auch wenig genügt, fo beweiſ't fie doch, 
daß Epicur wußte, was die Philoſophie zu lei» 
ſten hat, und zeugt eben ſo ſehr von ſeinem 
Streben nach Einheit, als die Vorſtellung ir⸗ 


BP" fi 


gend eines Philoſophen der alten Zeit; ſeine 
Wolluſt aber, worein er den Zweck des menſch⸗ a 
lichen Lebens ſetzte, iſt eben ſo vortrefflich, als 
das Wort, mit unſchuldigen Augen angeſehen, 
ſüß und ſchön iſt; denn ſie iſt nichts anders, 
als die vollkommenſte Harmonie des Menſchen 
mit ſich ſelbſt und mit der Welt. Thomaſius 
war freylich nicht der erſte, der dies einſah; 
Gaſſendus, deſſen Buch ) er zum Grunde leg⸗ 
te, hatte es ſchon früher eingefehen und es zu b 
ſagen gewagt; aber er war der erſte, der es 
deutſch und in Deutſchland laut ausſprach. 
Freylich konnte er, wie Gaſſendus, den Epicur 
wegen ſeiner Gottloſigkeit und wegen ſeiner 
Vorſtellung von der Vorſehung nur kompara— 
tiv vertheidigen, indem er zeigte, fie fey eben 
nicht ſchlechter, als die der andern Philofophen 
des Alterthums; (wie hätten ſie das gekonnt, 
da ſie ihre Idee von der Vorſehung nicht etwa 
in dem Fato der Stoiker, ſondern in ihren 
Göttern ſuchten? woraus erhellt, daß ſowol 
Thomaſius als Gaſſendus ſchwerlich die richti⸗ ’ 
Idee darüber, aber vor dem Worte Gott 
einen eignen Reſpect hatten), allein wegen 


) de vita et moribus Epicuri. 


er 


71 
ſeiner Moralität ertheilten ihm beyde das ver— 
diente Lob.) — Die Art, mit welcher Tho. 
maſius ſeine Vertheidigung übernimmt, ver— 
dient bemerkt zu werden. Unter uns ſcheint 
die Meynung herrſchend zu ſeyn, daß, wer auf 
ſein Zeitalter wirken wolle, der müſſe es für 
ſo ſchlecht als möglich halten, damit er nicht 
glaube, dieſer oder jener Schritt zum Beſſern 
ſey nicht mehr nöthig. Dieſe Meynung könn— 


te leicht die richtige ſeyn, wenn ſie das Prin— 


eipium unſers Handelns bleibt: aber ob man 
es dem Zeitalter laut ſagen ſolle, es ſey ſchlecht, 
ſchwach oder niedrig, wenn man ihm niche zu: 
gleich dazu ſagt, daß dieſes nothwendig, und 
daß mithin ſeine Schlechtigkeit, die nur relativ 
ihm anklebt, ihm eben ſo wenig zur Schande 
gereiche, als einem andern Zeitalter feine (re— 
3 dieſem Monate gehört ein Kupfer, auf 
welchem Epicur im ſüßen Schlafe liegt, mit 
dem Kopfe in Reno's Schooß; Platon weht 
ihm die Mücken weg (eine Anſpielung auf deſ— 

ſen Ideen), und Ariſtoteles fängt dis Gril⸗ 
len auf, damit fie jenes Leibes- und Seelen— 
ruhe nicht ſtören. — Daß Thomaſius von Pla: 
tons Ideen ſo gering dachte, wird man ihm 


gewiß gern verzeihen; er kannte ſte nicht. 


72 | 
lative) Vortrefflichkeit Ehre bringt? — das 
iſt eine andre Frage. Freylich iſt es wahr, daß 
alle große Männer, die für die Menſchheit et: 
was Wichtiges leiſteten, tüchtige Strafprediger 
waren: aber dafür wurde ihr Werth auch erſt 
von der Nachwelt erkannt. Welche Anſicht 
Thomaſius von ſeinem Zeitalter hatte, darf 5 
wol nicht mehr geſagt werden: aber dennoch 
fängt er hier, (wie mehrmals, wenn er etwas 
Auffallendes unternahm), damit an, daß er 
ſagt: ein ſolches Unternehmen wäre in frühern 
Zeiten gefährlich geweſen „aber jetzt ſey die 
Welt dahin gekommen, daß man es wagen 
dürfe der Wahrheit zu huldigen. Ob man das 
Heucheley nennen kann, das mögen die Mio: 
raliſten entſcheiden: wenn es ſich aber mit der 
Erziehung des menſchlichen Geſchlechts eben ſo 
verhält, wie mit der des Menſchen, ſo iſt ihr 
ſchwerlich etwas nachtheiliger, als geäußertes. 
Mißtrauen gegen den Willen und die Kraft ei— 
ner lebenden Generation. 

Die nächſten drey Monate beſchäftigen 
ſich durchgängig mit Recenſionen neuer Bü— 
cher aus verſchiedenen Fächern der Gelehrſam⸗ 
keit. Thomaſius zeigt in ihnen, was man an 
ihm gewohnt iſt, eine vielſeitige Kenntniß, eis 


5 

12 ne ausgebreitete Beleſenheit, Scharfſinn und 
1 Witz, eine Unterhaltungsgabe, die ſich 
durch Erfindung und eingeſchaltete Anekdoten, 
belehrend und belu tigend, verräth, und die 
man felten findet. Sein Ton ift bey weiten 


ernſthafter, als in den erſten Stücken, aber . 


noch immer munter, fo wie er ſich überhaupt 
ſo leicht und ſo fröhlich bewegt, daß man an 
ihm von der Steifheit nichts gewahrt, womit 
die Gelehrſamkeit ihre Verehrer zu belaſten 
pflegt. Er läßt ſein Zeitalter nie aus dem 
Auge, macht durch Bemerkungen „die er an 
fremde Gedanken knüpft, auf ſeine Gebrechen 
aufmerkſam, aber er ſcheint eben dadurch nicht 

fo auf das Reformiren auszugehen. Einen 
Auszug erlaubt der Inhalt nicht; einzelne 
treffliche Gedanken find zu ſehr mit den Res 
cenſionen der Bücher verwebt, als daß wir ſie 
lostrennen könnten; Erinnerungen gegen an— 

1 dre würden jetzt nutzlos ſeyn, und das, was 
aus dieſen Monaten Einfluß auf ſeine Schick⸗ 
ſale hatte — denn der Grimm ſeiner Gegner 
kochte im Stillen fort, und Thomaſius unter— 
ließ nicht durch einzelne Anſpielungen, die ſie 
wenigſtens auf ſich beziehen konnten, ihn zu 
unterhalten und zu vermehren — das werden 


74 


j * . u 189 
wir beſſer dann erzählen können, wenn ſich die 
Folgen davon zeigen. * MN be- 

) Eine Bemerkung mag bier wenigſtens in ei⸗ 
ner Note ſtehen. Thomaſtus klagt derber, 
daß man die Literärgeſchichte fo vernachläſſige, 
und daß man nicht wiſſe, was dazu gehöre, 
das Leben eines Gelehrten zu beſchreiben, da 
es doch ſo lehrreich und ſo nützlich ſey. Ueber 
das, was eine ſolche Beſchreibung enthalten 
ſoll, heißt es; Gelehrte, gleichwie fie von an- 
dern durch ihre Gelehrſamkeit entſchieden 
werden; alſo ſollte auch in ihrem Leben 
dasjenige hauptſächlich berühret werden, was 
zur Gelehrſamkeit gehört, in was für einen 
Theil derſelben ſte für andern excellirt, was 
ſie für Bücher geſchrieben, was ſie ihrer Schrif⸗ 
ten und Lehren halber für Adversarios bekom⸗ 
men, was ſie dieſerwegen für Verfolgungen 
ausſtehen müſſen, wer ſich ihrer angenommen, 


fie geſchützet, gelobet und getadelt, wie ihre 


Schreibart geweſen, ob fie in denſelben ihre, 


Affecten blicken laſſen u. f. w. — Gleichgül— 


tig, meynt er, ſey es, daß fie Doctoren oder 


Räthe geweſen, daß ſie geheyrathet und Kin⸗ 
der gezeuget u. ſ. w. — Für die Schnelligkeit 


oder Langſamkeit, mit der er arbeitete, mag 


0 


0 


N 7 
e, 


Wi 1 0 7⁵ 


Auch das Novemberſtück enthält Kritiken, 
aber nur von Einem Buche, das ſchon im vo— 
rigen Stücke angefangen wurde, von Mor— 
hoffs Polyhiſtor; ) deßwegen können wir 
leichter ein Paar Sätze aus dieſem Monate 

anführen. Morhoff redet von dem Göttlichen 

* in den Wiſſenſchaften, und die Bemerkungen, 
die Thomaſius darüber macht, verrathen von 
Neuem ſeinen philoſophiſchen Standpunct, — 
der auch wol daraus erhellt, daß er den Spi— 
noza gottlos und leichtfertig nennt, und von 
ihm ſagt, er habe die Kreaturen zu Gott ge— 
macht; und daß er meynt, »alle Grundregeln 
würden verfertigt durch Abſtrahirung derer Ga: 
das Geſtändniß zum Maßſtab Bieten, daß er 

ſagt: ich will den gern pardonniren, der in 

J rast vier oder fünf ſolche vitas verfer— 

tiget. Wie er aber ſtudirte, erhellt aus fol- 

genden Worten: mein Gemüth iſt nicht ruhi⸗ 

ger und geſchickter zum Studiren, als wenn 

ich aan nüchterſten lebe. Der Wein macht 

mich wohl kühle, aber das Waſſer giebt mir 

ſolidere Meditationes. Und je länger ich ſchlafe, 

je fauler und verdrießlicher werden meine Kräf— 
1 te, etwas gelehrtes zu thun. — 


*) Polyhistor literarius, philosophicus et practicus. 


76 i 


chen, die ſich in unterſchiedenen Exempeln be⸗ 
finden.« Von jenem Göttlichen in den Wiſ⸗ 
ſenſchaften meynt er: es müſſe entweder natürlich 
oder übernatürlich ſeyn; im erſten Fall verdiene 

es einen ſo hohen Namen nicht, im letzten 
aber leugnet Thomaſius das Daſeyn deſſelben, 

und zwar, wie er ſagt, aus Reſpect zu der 
Gottesgelahrtheit. In der Philoſophie, die er ; 
von der Theologie ſtreng geſchieden haben will, 0 
obwol er ſie ſelbſt vermiſcht, und in der welt⸗ 
lichen Beredſamkeit gäbe es ſo wenig, als in 
der Mathematik etwas Göttliches. »Und ob— 
gleich Seneca, Cicero, Ariſtides und andre 
Heiden viel von dem Nee zu ſchwatzen wiſſen, 

ſo weiß ich doch, daß dieſes Alles aus einer 
irrigen Meynung, die dieſe Heiden von Got— 

tes Weſen und dem Urſprung der menſchlichen 
Seele gehabt, hergerühret. Woraus ebenmä⸗ 
ßig gefloſſen, was Plato und ſo viele andre 
Heiden von dem Nee in der Poeterey, imglei⸗ 
chen was Jamblichus von dem Göttlichen, 
das in der Muſik ſtecken ſolle, geſchrieben« — 

ja öfters, ſetzt er hinzu, ſey dies Göttliche nur 
die Wirkung von einem Glas Wein oder 
Brandtwein. — Der Hiſtorie ertheilt er im 
Allgemeinen mit Morhoff das Lob, was ihr 


Er 


77 
gebührt; aber er meynt ſogar, daß wer die Hi: 
ſtorie von einer jeden Disciplin genau wiſſe, 
| der wiſſe mehr, als alle Meiſter derſelbigen, — 
5 als ob man die Geſchichte einer Wiſſenſchaft 
wiſſen könnte, ohne darin Meiſter zu ſeyn, d. 
h. ohne von ihr eine Anſicht zu haben, die 
für uns wahr und gewiß iſt! — Auf die Mne⸗ 
monik, die grade jetzt wieder Mode werden zu 
wollen droht, hält Thomaſius nichts, und »iſt 
der wunderlichen Meynung, daß ein Menſch 
ſich hüten ſolle, an ſeinem Gedächtniß zu kün⸗ 
| ſteln; nicht allein, weil mehrentheils was dem 
Gedächtniß zugeht, das gehet gewiß dem Ju- 
dicio wieder ab, da doch ein Loth Judicium 
viel beſſer, als ein Pfund Memorie, ſondern 
anch, weil insgemein diejenigen, die ihr Ge⸗ 
dächtniß durch Kunſt forciret, wenn fie alt wor⸗ 
den, daſſelbige nebſt dem Judicio gar verloh⸗ 
ren haben. — Wenn alle Leute fo humorirt 
wären, fährt er fort, wie ich, wollte ich wohl 
einem jeden für denen subsidiis mnemonicis 
durch Bildungen warnen, weil ich meine, daß 
ſie unter allen denen Mitteln die geſchickteſten 
ſeyn, einen Menſchen, ich will nicht ſagen, 
zum Narren zu machen, ſondern nur ſeines 
Verſtandes in einem ziemlichen Grad zu be— 


— 


78 4738 u 
rauben.«e — In Anſeßung d der Erziehung und 

des Unterrichts aber ift er freylich noch immer 

der Meynung, daß die Sprachen ſo gar noth⸗ 
wendig nicht wäre, ſelbſt nicht zur Gelehrſam⸗ 
keit, »denn der Menſch iſt nicht auf der Welt 

der Sprachen halber, und die Geleheſankeit v 
beftehet nicht in Worten, fondern in wahrhafr ⸗ 
tigen Gedanken«: aber von der Spielme- 
thode, auf die er vor einem Jahre ſo viel 
hielt, iſt er doch ſchon etwas zurück gekom⸗ 
men; dagegen dringt er auf Verbeſſerung der 
Sitten des äußerlichen Lebens, und ſchließt, 
man müſſe in den Schulen auf eine ſolche 
Methode bedacht ſeyn, durch welche denen 
Knaben zugleich die Sprachen, die mathemati⸗ 
ſchen und hiſtoriſchen Wiſſenſchaften, die got⸗ 
tesfürchtige Sittenlehre, und die manierliche 
Höflichkeit eingeflößet werde. 

Das Decemberſtück beſchließt das Jahr 
auf eine Weiſe, die dem Character, dem Muth | 
und der Einſicht des Thomafius Ehre macht, 
aber nicht zur Ruhe feines Lebens beytrug. 
Schon der Titel — »ernfthafte Gedanken über 
etliche ernſthafte Bücher« — läßt etwas 
von dem Bisherigen Verſchiedenes erwarten; 
und die Erwartung wird nicht getäuſcht. Wol 


79 
war die Sprache des Journals in den ſpätern 
Monaten viel ernſthafter geworden, wie in den 
erſten: aber nicht ſelten fiel Thomaſius in 
den alten Ton zurück, wenn die Gelegenheit 
ſich darbot, feinen Muthwillen zu zeigen. In 
dem December aber herrſcht durchaus ein ern— 
ſter Ton voll Nachdruck und Kraft, wie ein 
Mann redet, der ſeinen Unwillen über einen 
unwürdigen Gegner zurückhält, durch den Ge— 
danken an die Würde des Gegenſtandes, über 
den er ſtreitet: daher hin und wieder der An— 
ſtrich von Bitterkeit, und das raſche Leben in 
ſeinen Aeußerungen! Nach einer Schilderung 
der menſchlichen Gemüther bey einem heran⸗ 
nahenden Bußtag, führt Thomaſius einen Stu— 
denten der Theologie mit einem Obriſten zu- 
ſammen, der auch ehemals ein Theologe war, 
und noch in der theologiſchen Literatur fort⸗ 
lebt. Der Student iſt zehen Jahr auf der 
Akademie geweſen, und hat die Ariſtoteliſche 
Philoſophie und die poſitive ſcholaſtiſche und 
polemiſche Theologie ſo wohl ſtudirt, daß er | 
jetzt in Einer Stunde über jeden beliebigen 
Text eine Predigt zu halten verſteht. Aber, 
obwol man ſieht, daß er ein Repräſentant der 
gewöhnlichen Theologen ſeiner Zeit ſeyn ſoll, 


80 
und daß Thomaſius ſeinen Zeitgenoſſen Yen 
die Vernachläſſigung der praktiſchen und mora⸗ 
liſchen Theologie — (die freylich neben jener 
andern Eintheilung nothwendig iſt) — die 
Wahrheit zu ſagen wünſcht, ſo gehört er doch 
nicht zu »den albernen Kerlen, die ihr einfäl⸗ 
tig Bedenken mit vortragen ſollen ze ſondern en 
hat Verſtand und guten Willen, aber er trägt die N 1 
Feſſeln der Autorität. — Herr Hector Got: 

fried Maſius, Doctor und Profeſſor der Theo- 
| logie und Hofprediger des Königs von Däne— 
| mark, hatte ein Buch geſchrieben »über den 
Vortheil, welchen die wahre Religion den Für— 
ſten gewähre; « *) und darin zwar einen hefti— 
gen Eifer für das ächte Lutherthum bewieſen, 
aber wenig Geiſt und noch weniger Religion. 
Dieſes Buch beſtreitet der Obriſt und von 
dem Theologen wird es vertheidigt. Ma— 
ſius hatte in ſeinem Buche geſagt, daß die 
wahre, d. h. die Lutheriſche Religion einzig 
und allein den Frieden des gemeinen Weſens 
erhalte; er hatte ſie wegen ihrer äußerlichen 
Vortheile für die Fürſten, dieſen ſehr empfoh⸗ 
len, weil ſie lehre, die Gewalt der Fürſten 

| komme 


. * 4. . 5 * „ 
*) Interesse principnm circa veram Religionem, 


81 


komme unmittelbar von Gott und behaup— 
tet, Fürſten und Herren müßten die lutheriſche 
"Religion, wo nicht aus Gottesfurcht, doch um 
ihres zeitlichen Vortheils willen zu der ihrigen 
machen; dabey hatte er zu verſtehen gegeben, 
daß die katholiſche und beſonders die reformir— 
te Religion Rebellen und Aufrührer machen 
| müſſe. Er hatte von den Reformirten gefo: 


dert, daß ſie ſich mit den Lutheranern vereini— 


gen müßten, weil ſie ja zugäben, daß dieſe im 
Fundament nicht irrten, was ihnen aber von 
dieſen abgeleugnet würde; und überhaupt war 
das ganze Buch ſo voll ſchiefer, einſeitiger und 
abgeſchmackter Sätze, daß man ſieht, es war 
aus dem bekannten Grundſatze gefloſſen, jede 
Unwahrheit und Schlechtigkeit ſey erlaubt fär 
den ächten Glauben. Wie Thomaſius darüber 
denken mochte, iſt dem klar, der da weiß, 
„daß er der Religion zugethan war, die der 
Apoſtel an dem Orte, da er die Liebe ſo ſehr 
herausſtreicht, und die guten Werke ſo hoch 
treibt, feinen Corinthern einpredigen will;« 
aber dennoch würde er den Maſtius ſchwerlich 
ſo kräftig angegriffen haben, wenn nicht ſeine 
Lehre die gewöhnliche ſeiner Zeit geweſen wä— 
re. Die erſte Behauptung, daß die lutheriſche 
F 


82 | | 8 
| Religion allein den Frieden des Staats ſiche— 
re, widerlegt Thomaſius vollkommen aus der 
Geſchichte, und meynt mit Recht, daß der Bor: 
theil, den eine Religion dem Fürſten gewährt, 
wenn die lutheriſche darin auch vor andern 0 
ſich verſchwenderiſch bewieſe, ein ſchlechter 
Maaßſtab für ihren Werth ſey: denn entwe⸗ 
der ſey die Religion ſchlecht, die ſich ſo weit 
ihrer Heiligkeit entäußere, daß ſie ſich als Er⸗ 
halterin menſchlicher Ordnungen und Einrich⸗ 
tungen gebrauchen ließe, oder der Staat ſey 
ſchlecht eingerichtet, der eine ſolche Stütze be⸗ 
dürfe, und nicht auf ſeine eigene Feſtigkeit 
wol gegründet, bejtände. *) Von der Behaup⸗ 
) Unter andern ſagt er: »Ich bin der Mey⸗ 
nung, daß 95 eine unanſtändige Sache ſey, ſei⸗ 
ae hohen potentaten wegen des zeit⸗ 
lichen Intereſſe zu recommandiren. Ein an⸗ 
dres iſt, wenn man der wahren Religion Schuld 
giebt, daß ſie dem Inkereſſe des gemeinen 
Weſens zuwider ſey, ein andres, wenn man 
behaupten will, daß fie den e Nutzen 
großer Herren an und für ſich ſelbſt beför⸗ 
dere. Jenes iſt offenbar falſch, wannenhehre 
auch die Väter erſter Kirche der Chriſtlichen 
Religion, ſoviel dieſen Punct betrifft, öfters 


„ | 2 83 
fung hingegen, daß Gott die unmittelbare Ur⸗ 
ſache der Majeſtät ſey, ſagt Thomaſius, „daß 
nicht leicht eine abgeſchmacktere und von aller 
Vernunft und Schrift mehr entfernte Mey— 


das Wort geredet. Aber daraus folget das 
Andre nicht. Die wahre Religion zielet nur 
auf das ewige Wohl. Dieſes aber iſt nicht 
nothwendig mit 455 zeitlichen verknüpft, zu 
geſchweigen, daß das zeitliche Intereſſe ſo 
ein wächſernes Wort iſt, daß ſich ſolches nach 
eines jeden ſeiner Meynung gar leichte ddeh en 
und formiren läßt. Die Wahrheit braucht zu 
ihrer Recommendation weder die unwahrheit 
noch die Alberkeit. Dannenhehro halte ich da⸗ 
0 für, daß man ſich um die Religion mehr ver— 
dient mache, wenn man die albernen Der: 
fechter derſelben — (nemlich diejenigen, die 
fie dem Fürſten als Stütze des gemeinen We: 
ſens emibfehlen} — bey Seite ſchaffe, als wenn 
man dieſelben hegt; denn ſie kämpfen für ſie 
nur mit Steckenpferdru, hölzernen Degen und 
Klatſchbüchſen.“ — Seit Thomaſtus find hun— 
dert Jahre verfloſſen, und doch hört man noch 
ſo oft Fi tennung daß die Religion 
bauptſächlich deßwegen zu erhalten ſey, 
weil fie dem Staat en Sand reiche, und den 
Pöbel bändigen helfe. — Iſt das nicht eine 


F 2 


L x 


84 0 6 


nung geweſen ſey, als W e Schon Pr 
fendorf hatte ſie beſtritten, und Thomaſius 
war ihm darin gefolgt in feiner. göttlichen 
Rechtsgelahrtheit; aber dort konnte er ſeine 
Meynung nicht ſo bündig und vollſtändig an 
den Tag legen. Er leugnet nicht, daß die Ma⸗ 
jeſtät urſprünglich von Gott komme, aber er 
behauptet, daß die Zuſtimmung des Volks als 
eine mittelbare Urſache ſchlechterdings dazu ge⸗ 1 
höre; Er zeigt die Nichtigkeit der damals ge⸗ 
wöhnlichen Behauptung, daß keine Obrigkeit 
ohne von Gott ſey, und folgert aus der For⸗ | 
derung des Maſius, (die Reformirten müßten 
ſich mit den Lutheranern vereinigen,) 1 die 
Lutheraner dieſelbe Schuldigkeit gegen die 
Katholiken hätten, weil ſie dieſen die 
Möglichkeit des Seligwerdens — welche ſie 
ihnen abſprechen — zugeſtünden; und ſchließt 
das Geſpräch damit, daß der Ob iſt dem Theo: 
logen eine Anweiſung, die Theologie zu ſtu— 
diren, ins Stammbuch ſchreibt, in welchem er 
ihm thätige Liebe und Den empfiehlt, und 


Läſterung gegen das Heilige und ein ach. 
volles Geſtändniß über die Unvollkommenheit 
der Staaten? — Und ſeitdem ſind wir doch 
fo hoch aufgeklärt! A 


# 85 
vor Heucheley, theologiſcher Hoffart und Haß 
warnt. «Aber wo bleibt der Glaube? Dieſen 

mußt du mitbringen, ehe du Theologie zu ſtu⸗ 
diren anfängſt.« — 0 

Wie Maſius dieſe nion BR, 
und welche Folgen fie hatte, das werden wir 
bald erzählen. — Aber noch im Laufe dieſes 
Jahrs ließ Thomaſius noch zwey andre Schrif⸗ 
ten drucken, die wir wenigſtens anführen mol: 
len. Schon um Oſtern — alſo um dieſelbe 
Zeit, in welcher er das Leben des Ariſtoteles 
in ſeinem Journal beſchrieb — eröffnete er in 
einem Programm »von den Mängeln der Ari— 
ſtoteliſchen Ethik der ſtudirenden Jugend zwey 2 
Collegia über die Chriſtliche Sittenlehre und 
über das jus publicum, und beweiſet dadurch, 
daß er den monatlichen Gedanken nicht ſeine 

ganze Thätigkeit ſchenkte, ſondern daß er ſie, 
wie ihre Titel ſagte, nur in müßigen Stunden 
verfertigte, obwol ſie leicht beſſer ausgefallen 
ſeyn dürften, als die übrigen Arbeiten. Er bes 
ſchrieb darin die elende Weiſe, wie man die 
Sittenlehre — die er einen habitum practicum 
nennt — bisher gelehrt habe, und wie ihn 
dies Fp auf eine beſſere Methode zu 
denken. Er verſpricht, in dem Collegio die 


86 > * 
Fundamente der Ethik nicht auf heidniſche zu 
gründen, weßwegen er ſie eben chriſtlich nennt, 
ſondern ſie blos aus der geſunden Vernunft 
herzuleiten, und dann die ethiſchen Principe 
„eines neuen Philoſophen, die den Atheismus 
ganz offenbar inculciren, und alſo dem Chri⸗ 
ſtenthum, wie jeder andern Religion, zuwider 
| ſind, deutlich und mit guten Gründen zu mi: 
derlegen. Nemlich, fährt er fort, es iſt den 
Gelehrten bekannt, daß in des Benedicts Spi— 

nofä feinen Operibus posthumis gleich vor: 

ne an eine Ethik enthalten , in welcher 

| zugleich diefer ſcharfſinnige Jude die Fun⸗ 
damente feiner ganzen Philoſophie oder 
vielmehr ſeines Atheismi geſetzt. Weil denn 
dieſes Gpinofä feine Schriften, die bey uns in 
Dieutſchland bisher eben ſo bekannt nicht ge⸗ 
weſen, anjetzo anfangen, ſich allmählich einzu: 
ſchleichen, das darinnen enthaltene Gift aber 
deſto gefährlicher iſt, weil es im erſten Anfe: 
hen recht raiſonnabel zu ſeyn ſcheint, und weil 
über dieſes ſich Leute finden, die ich jetzo eh⸗ 
renthalben nicht nennen will, die daſſelbe has 
miſcher Weiſe unter die Gelehrten auszubrei— 

ten ſuchen; als habe ich gemeint ein nützliches 
Werk zu verrichten, wenn ich ſolches der ftu: 


87 


direnden Jugend entdeckte, damit ſie ſich deſto 


5955 beſſer dafür hüten.« Dem Thomaſius aber iſt 


»die Ethik nichts anders, als eine Lehre und 
Anweiſung, wie ein Menſch feine Affecten gu⸗ 
berniren ſoll, damit dieſelben nicht vermögend 
werden, ihn zu etwas, ſo denen Geſetzen zuwi⸗ 
der wäre, anzureizen.« 

Denſelben Standpunkt in der Philoſophie 
verräth auch das zweyte Werk, das er im 
Herbſt drucken ließ, und „Einleitung in die 
Hofphilofophie« nannte.) Den Titel erhielt 
es wol aus der Meynung „daß die Philoſo⸗ 
phie, die man bisher auf den Akademien zu 
lehren gewohnt war, nur für die Schule, die 
aber, welche er lehren wollte, auch für das 


höhere Geſchäftsleben tauglich ſey. Aber Tho— 


maſius war ein deſto ſchlechterer Philoſoph, 
jemehr ſeine eigentliche Tendenz die Philoſophie 


war; bey ſeinen Kritiken blickt ein heller Geiſt 
durch die Polemik hindurch, aber wenn er ſy— 


ſtematiſch verfahren will, ſo erhebt er ſich nicht 


ſo hoch, daß er nach Spinoza als Philoſoph 


) Introductio ad philosopbiam aulicam, seu lineae 
primae libri de prudentia cogitandi et ratioci- 


nandi. 


88 


8 angeführt werden dürfte. Ja hätte er ſich in 
dieſen Jahren ſeines Lebens mit dieſem nur 
eingelaſſen: er hätte vielleicht gefunden, wo 
es ihm fehlt; aber da ſein Chriſtenthum ihm 
nicht erlaubte, ſich dem ruchloſen Mann, wie 
er ihm ſchien, ganz hinzugeben, ſo behielt er 
dieſe Ehre einem größern Geiſte auf. In der 
Vorrede zu dieſer Einleitung — welche die 
Mitte zwiſchen den Carteſianern und Peripa⸗ 
tetikern halten ſollte — klagt er über den Zu⸗ 
ſtand der Akademien und den Verfall der Aka⸗ 
demiſchen Würden, und meynt, das komme 
von der unnützen Lehrart: fie zu verbeſſern 
ſey ſein Zweck und der Zweck dieſes Buchs, 
über deſſen Inhalt er ſchon vorher Vorleſun⸗ 
gen gehalten hatte, "I, BE aus dem ange⸗ 
führten Programm erhellt. Das erſte Kapitel 
rechnet die philoſophiſchen Secten her von An: 
fange der Welt bis auf den Carteſius, weil 
der Gegeuſtand doch zur Philoſophie gehört, 
und weil, wie wir wiſſen, Thomaſius auf die 
Geſchichte der Diſciplinen fo ſehr viel hielt.“) 

) Er hatte dazu eingeladen durch ein andres 
Programm: Intimatio lection. priv. de pruden- 


tia cogitandi et ratiocinandi 1689. 


„) Er fängt wirklich vom Anfange der Welt an. 


89 
>: | 
Er kann aber keine Gectenphilofophie leiden, 
ſondern ertheilt der eclectiſchen den Vorzug, 
weil ſie nicht ſelbſt Lehrſätze behauptet, ſon— 
dern nur aus den andern Philoſophieen die 
beſten Blumen auswählt; leider vergißt er nur 
zu beſtimmen, nach welchem Princip man ſie 
für die beſten erkennen ſolle, ob der Geruch 
oder die Farbe ſie unterſcheidet; denn das 
Kriterium der Wahrheit, welches er im Sten 
Kapitel angiebt, (logiſch wahr ſey die Ueber— 
einſtimmung des Gedankens mit der gedachten 
Sache außer uns; moraliſch wahr ſey die Ule⸗ 
bereinſtimmung der Worte mit dem Gemüthe) 
dürfte ſchwerlich wider den Irrthum ſchützen. 
Freylich macht er ſich über ſeine eclectiſche 
Philoſophie wol ſelbſt einige Scrupel, aber er 
beruhigt ſich mit der bekannten Ausflucht aller 
Unphiloſophie, daß die Schwäche des menſch— 
lichen Geiſtes nicht weiter zu gehen erlaube, 


Adam, ae er, lehrte ſeine Kinder eine ge— 
funde und nüchterne Philoſophie; Cain ver— 
darb fie ſchon, und da entſtanden fogleich zwey 
Secten, die der Sethianer und der Cainitaner 
u. ſ. w. — Man muß ſich wundern, daß ein 
Mann, der oft ſo hell ſah, zuweilen ſo im 
Dunkeln tappt. 


9 | | 

und meynt, die eclectifhe Philoſophie erford 
re doch nur eines Menſchen würdige Bemü⸗ 
hung, eine andre hingegen eine eſelhafte. 15 


* 


e: 


Auch behauptet er, Plato, Xeno und fogar | 


Ariſtoteles ſeyen Electiker geweſen, wahrſchein⸗ 
lich darum, weil einzelne Sätze — (denn als 


ein Ganzes ſah Thomaſius ihre Philoſophie 
wol nicht an) — des einen mit einzelnen Sä⸗ 


tzen des andern zuſammen fallen. Das Den⸗ 
ken beſchreibt er im 3ten Kapitel alfo: es ſey 
eine Handlung der Seele, wodurch der Menſch 
oder die Seele im Gehirn etwas über die Bil: 
der, die dem Gehirn von der Bewegung dus 


ßerer Körper durch die Sinne eingedrückt wer⸗ 

den, durch eine in Worten beſtehenden Rede 

entweder bejahet, oder verneinet, oder fragt. * | 
Doch genug und zuviel über ein Werk, 


das, ungeachtet der Wahrheit einzelner Sätze, 


) Phil, Electica laborem requiret ingenuo homine 


dignum, sectaria asininum, 
/ 3 


*) Cogita io est actus mentis, quo homo vel 


mens in cerebro de schematibus motu corporum 


externorum per organa sensuum cerebro im- 
pressis aliquid per modum discursus et oratio- 


nis verbis constantis vel affirmat, vel negat, vel 


qua erit. 


. 


8 


. 
9 


91 


auf philoſophiſchen Werth keinen Anſpruch 


nach dem Spinoza machen kann! Aber das 


dürfen wir nicht unbemerkt laſſen, daß er zu 


gleicher Zeit in einem Programm — von den 


N Mängeln der heutigen Academteen, beſonders 


aber der Jurisprudenz — ein Collegium dispu- 
tatorium in ſeinem Hauſe darüber ankün⸗ 
digte. Der Inhalt des Buchs, dieweil es vom 
Gewöhnlichen abwich und mit der göttlichen 
e eee auf Einem Grunde ruhte, 


(wenn es and rs ein Grund war,) mißfiel ſei⸗ 


nen Gegnern, die Sprache des Programms, 
| das übrigens nichts enthält, was Thomaſius 


nicht an andern Orten beſſer und würdiger ge— 
ſagt hätte, als in dieſen witzelnden Avertiffer 


ment, miß fiel noch mehr: aber das Collegiale— 


ſen in ſeinem Hauſe fanden ſie wider die Se: 
fehr der Akademie. 

Im Anfange des 168gſten Jahrs, das für 
das Leben des Thomaſius ſo bedeutend werden 
ſollte, als dieſer grade damit beſchäftigt war, 
eine Zueignung der letzten ſechs Monate ſei⸗ 
nes Journals an ſeinen Londesherrn drucken 
zu laſſen, in welcher er zwar ſein kühnes Un— 
terfangen geſteht, weil er den Kampf gegen die 
Gleißnerey und Pedanterey gewagt habe, aber 


92 


auch ein noch größer Vertrauen auf den Schutz 
des Churfürſten an den Tag legt — erhielt 
Thomaſius von der Univerfität einen Befehl des 
Churfürſten, worin der erſten, auf eine Klage 
der philoſophiſchen Facultät und beſonders des 
D. V. Alberti, aufgetragen wurde, den Tho⸗ 
maſius vor ſich zu fordern, ihn über gewiſſe 5 
Puncte ſeiner Schriften und über das Colle⸗ 
gium in ſeinem Hauſe zu befragen, darüber in 
Wittenberg erkennen zu laſſen, und ihm dabey 
die ſatyriſche Schreibart, den Druck ſeiner 
Schriften ohne Cenſur und die Fortſetzung je⸗ 
nes Collegiums bey einer Strafe von [oo Du- 
katen zu unterſagen. Dieſer Befehl kam dem 
Thomaſias um ſo unerwarteter, da er ſich in 
der letzten Zeit keiner Sünde bewußt war, und 
zugleich auf den Schutz des Miniſters Haug⸗ 
witz ſicher rechnen zu dürfen glaubte; aber er 
hätte das Septemberſtück ſeines Journals nicht 
vergeſſen ſollen. In dieſem Stück harte er 
heftig über den Mißbrauch der Cenſurfreyheit 
und die Kenfisgirung neuer Bücher geſprochen; 

und dabey, wle er ſelbſt geſteht, auf allerley | 
kleine Umftände, Handlungen und Worte, die 


man theils wider ihn, theils wider andre be; 


ging, und äußerte, mit vielem bittern Spott 
angeſpielt, der für uns freylich ſeinen Stachel 


95 
verlohren hat, der aber feine Gegner deſto 
. ſtärker reizen mußte, weil ein jeder ihn vers 
i ſtand. Ferner hatte Thomaſtus eben daſelbſt 

| Pufendorfs ſchwediſche Geſchichle gegen die er: 
bärmlichen Einwürfe »eines vornehmen Man— 

4 nes⸗ vertheidigt und beſonders darüber geſpot⸗ 
tet, daß dieſer geleugnet, ein Theologe habe, 


„durch 10000 Thaler beſtochen, den Churfürſten 


zu Sachſen zum P. (Prager) Frieden bere— 
det.« Dieſer vornehme Mann, den Thoma— 


ſius zwar nicht nannte, den aber jeder kannte, 


weil er ſeine Worte anführte, war D. Alberti; 
1 


und über die tosoo Thaler, ſagt er unter an: 
dern, ſie ſeyen keine Kleinigkeit, und ſelbſt 
Ariſtoteles, under doch das Meſſergeſteck der 
Justitiae universalis mit allen eilf Tugenden im 
scrinio pectoris hatte, würde bey dergleichen 
Stücken aus der ſechſten Bitte haben zugeſte⸗ 
1 hen müſſen, daß der Menſch ein armer Erden— 
FE kloß fey;« durch den Fall ſey feine Natur fo 
| verderbt, daß er kaum einer Summe, »die ſo 


viel austrägt, als arme Stipendiaten von ih⸗ 


reen akademiſchen Stipendien erhalten,« zu wi— 


leſen, 2 daß M. Gratius ſich ſogar durch eine 
Saufen mit Pfannkuchen habe beſtechen laſſen, 


em 


derftehen vermöge, denn er habe irgendwo ger 


94 


einen unwürdigen Magiſter zu machen, d en 
man deßwegen zum ewigen Andenken den 
Pfannkuchen : Magifter genannt. Wirklich 
ſollte dieſes in Leipzig vorgefallen 3 we⸗ 
nigſtens führte ein Magiſter dieſen Ehrenna— 
men; und da Alberti zugleich Ephor der Sti⸗ 
pendiaten war, ſo glaubte er, Thomaſius habe 


ihn beſchuldigen wollen, daß er die Kaſſe be⸗ 


ſtöhle. Thomaſius ſpielt mehrmals auf die 
Stipendien an, und man darf ihm wol zu— 
trauen, daß er den Alberti, der ihn auf ſo viel: 
fache Weiſe kränkte und um Ehre und Brod 
zu bringen ſuchte, dabey im Auge hatte: aber 
er leugnete, daß dieſes in ſeinen Worten läge, 


höchſtens möchte man die Beſchuldigung her⸗ 


ausbringen, daß Alberti die Gerechtigkeit der 


Stipendienvertheilung nach kleinen Geſchenken 


abwäge. — Alberti hatte damals die philoſo⸗ 
phiſche Facultät ſogleich zu der Anklage ver- 


mocht; aber die Sache war liegen geblieben | 


bis Haugwitz einmal nicht gegenwärtig war. 

Sobald Thomaſius den Befehl erhalten 
hatte, ſo beſchwerte er ſich über das wider⸗ 
rechtliche Verfahren bey dem Churfürſten und 
legte zugleich dem Oberkonſiſtorium 5 Dres⸗ 
den in einer anefchseche Fr des Ur⸗ 


* 


IE 2 05 9⁵ 
ſprungs nnd Wachsthums ihrer Uneinigkeit 
eine ſo vollkommne Rechtfertigung ſeines Be— 
tragens vor, daß man am Hofe es für beſ— 
ſer hielt, beſonders da ſich Thomaſius in zwey 
Schreiben an die Miniſter zum Vergleich be: 
reit zeigte, ihnen anzurathen, ſich zu verglei- 
chen. Alberti, dem es bey der Rechtfertigung 
des Thomaſius bange werden mochte, und der 
zugleich in der Ferne eine günſtigere Gelegen— 
heit ſah, den verhaßten Gegner zu ſtürzen, 


ohne daß er nöthig hätte, in ſeiner Blöße her— 


vorzutreten, ſchien dazu ſehr bereit, und wuß— 
te die ganze Aufrichtigkeit zu heucheln, die dem 
Thomaſius eigen war; aber die Forderung, 
deren Gewährung er als einen Beweis der Ver— 
ſöhnung vom Thomaſius begehrte, iſt nur ein 


ſchmähliger Beweis ſeiner gemeinen Seele. 


Er verlangte nemlich, daß Thomaſius ihn in 
ſeinem Journale einmal loben ſollte; und die— 
ſer, der da glaubte, die Welt würde ein ſol— 
ches Lob zu ſchätzen wiſſen, verſprach es. Da— 
mit ward dieſer Handel geendigt, und der Be— 
feht blieb ohne Wirkung. 

Unterdeß hatte Thomaſius das Journal 
roten ind das Januar- und Februarſtück 
drucken laſſen. Sein Geiſt und ſein Scharf 


6 

ſinn war derſelbe, aber die Methode, in wel— 
cher er ihn zeigte, war verſchieden; denn er 
veränderte nicht blos den Titel, ) ſondern er 
vertauſchte auch die dialogiſche Form mit der 
didaktiſchen. In der Vorrede giebt er, (nach— 


dem er die Geſchichte ſeines Journals nicht 


ohne Witz beſchrieben und ſeine Tendenz, wie 
wir ſie angeführt haben, entdeckt hatte,) über 
dieſe Veränderung, die ſonſt Verwunderung er⸗ 
regen könnte, Aufſchluß. Die 0 Geſpräche, ſagt 


er, haben zwar den Vortheil, den er vor einem 


Jahre davon rühmte, »aber es iſt auch diefer 
. Ver⸗ 


0 Von jetzt an hieß es: Freymüthige, jedoch 
Vernunft und Gefegmäßige Gedanken u. s. 
w. Da der Scherz und Ernſt alſo aufhörte, 

ſo wollen wir nicht unbemerkt laſſen, daß ein 

Stück des Journals 2 gute Groſchen, alſo der 
Jahrgang Einen Thaler koſtete. Scherz und 
Ernſt iſt jetzt nicht ſo wohlfeil. Kommt das 
daher, weil die Freymüthigkeit mit ihnen ver— 
bunden iſt, die Thomaſius darauf folgen ließ? 
oder iſt die Waare im Preiſe geſtiegen? oder 
ift der Scherz etwa ernft- und der Ernſt ſcherz⸗ 
hafter ? oder wiſſen wir den Gehalt beſſer zu 
ſchätzen? _ 


97 


Verdruß dabey, daß die Leute ſo verfluchte 
und alberne Applicationen auf alle Dinge ma— 
chen. Die Leſer haben eine ſo unzeitige Sorg— 
fältigkeit, aus einem jeden Umſtand ein Ge— 
heimniß zu machen, und Perſonen auszuſuchen, 
auf die ein Autor mit aller Gewalt reflectirt 
haben ſolle, ob ihm ſolches gleich nie in den 
Sinn gekommen. Ich habe keinen Namen 
der unterredenden Perſonen erfinden dürfen, 
ich habe den Character einer Perſon zu expri— 
miren keine dazu gehörige Redensart brauchen 
dürfen, ſo hat man alſobald Gloſſen darüber 
gemacht, wer der Herr ſey.« Eine andre Un: 
bequemlichkeit des Geſprächs, über welche Tho— 
maſius klagt, hatte er ſich ſelbſt gemacht: nem— 
lich, daß der Autor ſo viel fingiren und erfin— 
den müſſe, um Anfang und Zuſammenhang 
heranszubringen; dadurch werde man verhin⸗ 
dert, ſie kurz zu machen: als ob dieſe Erfin— 
dungen zum Dialog gehörten; ſie ſind ein 
Fehler bey demſelben und keine Zierde. ) 


) Dieſe Unbequemlichkeit legte fi) Thomafius dar— 

um auf, weil er einen Unterſchied machte zwi— 

ſchen dem Geſpräch und der unterredung. 

„Die unterredungen, ſagt er in der Schrift 
G 


GB 


Dieſe Gründe, ſagt er, hätten ihn bewogen, 
künftig über die Bücher »einen Discurs zu for⸗ 
miten, aber nur über ſolche = denn die ans 
dern ſchließt er von feinem Journal aus — 
die auf Beluſtigung des Gemüths und recht⸗ 


1 


wider Tenzeln, dünken mich daran ben den 
Geſprächen verſchieden zu ſeyn, daß in jenen 
entweder gleiche Perſonen, oder doch ſolche 
eingeführet werden, die mehr Wein Stande, 
als den Sitten und Verſtande nach von eine 
ander entſchieden find; in dieſen aber wer⸗ 
den gemeiniglich Perſonen von ungleichem Ver⸗ 
ſtande und Sitten eingeführt, deren eine jede 
demnach ihren abſonderlichen Character be⸗ 
kömmt, und die Redensarten nach denſelben 
müſſen eingerichtet 5 ſonſt wird ein Ue⸗ 
belſtand daraus. Daher geſchiehts, daß man 
bey den Geſprächen keine Beſchreibung deſſen, g 
was zu der Converſation Anlaß gegeben, bey⸗ 
füget, ſondern man macht nur ſo viel Abſätze 
mit den Nahmen, als eine Perſon der andern 
antwortet. In Unterredungen aber mahlet 
man durch eine anmuthige Beſchreibung den 
Leſer die Charactere der Perſonen ab, und 
miſcht artige Inventiones ein, um dem Leſer 
die Abwechſelung der Gegenſtände angenehm 


zu machen.““ 


7 99 
ſchaffene Erbauu g gerit tet find, oder die un: 
ter dem Deckmantel einer ſcheinbaren Gelahrt— 
heit und Gottesfurcht, Ungelahrtheit und 
ſcheinheiliges Weſen zu verbergen und zu ver- 
theidigen geſucht.« k Und darin hält er Wort, 

nicht nur in dieſen beyden erſten Stücken, fon» 
dern auch in den folgenden. Die Recenfionen 
einzeln durchzugehen, würde wenig Lob verdie: 
nen, zumal da fie, wiewol fie des Thomajiug 
nicht unwürdig ſind, eben nichts Neues enthal— 
ten, wenigſtens nichts, was man nicht von ih⸗ 
rem Verfaſſer erwarten würde; aber die recen: 
ſirten Bücher geben ihm doch von Neuem Ge⸗ 
legenheit „ feine Religioſität „oder vielmehr, 
(wenn das Wort, obgleich es wahr und be— 
zeichnend iſt, nicht fo häßlich und unreligiös 
wäre,) ſeinen Proteſtantismus, den man ihm 
abſprach, ſeine Liebe für beluſtigende Bücher 
zu beweiſen, und zugleich zu zeigen, daß er in 
Rückſicht des Naturrechts eigentlich nicht ſehr 

weit vom Ziele, wenigſtens ihm viel näher 
war, als die meiſten ſeiner Zeitgenoſſen, und 
daß nur das Vorurtheil für die Heiligkeit der 
Theologie ihn davon abhielt; denn dieſes Vor— 
urtheil ſaß um ſo feſter, je früher er es einge— 
ſogen, und je freyer er davon zu ſeyn glaub: 


G 2 


Ico 


te. — Was aus W Monaten Einfluß auf 
ſein Leben hatte, werden wir beſſer bey Gele⸗ 
genheit einſchalten, aber das Eine wollen wir 
doch bemerken, daß er im Aprilſtück dem D. 
Alberti das Lob ertheilte, welches er ihm, 
ſeines Lebens Ruhe wegen, verſprochen hatte. 
Er that dieſes bey Gelegenheit eines Buchs, 
in welchem ein Katholik von den Proteſtanten 
in Strasburg ihre Vereinigung mit ſeinen 
Glaubensgenoſſen fodert, indem er hofft, es 
werde den Proteſtanten nicht an einem gründs 
lichen Vertheidiger ihrer Religion fehlen, und 
ſagt: des berühmten Leipziger Theologen, D. 
Alberti's, gelehrte Schriften, der ſchon vor 20 
Jahren feine Derterität habe blicken laſſen, 
könnten davon Zeugniß geben. Indeß verrieth 
Thomaſius ſpäterhin der Welt, aus guten 
Gründen, wie Bern hehe zu dieſem Lo⸗ 
be gekommen ſey. | . 
Aber während der Vergleich zwiſchen Tho: 
maſius und Alberti noch untechandelt wurde, 
zog ſich in den letzten Tagen des Februars 
wider jenen ein mehr drohendes Gewitter zu— 
ſammen, deſſen bemerkte Annäherung eben den 
Alberti ſo verſöhnlich gemacht hatte, und deſ— 
fen Schläge nur ein gewandter Mann, mie 


101 


Thomaſius vermeiden konnte. Das ganze 
theologiſche Miniſterium zu Leipzig nemlich, 
aus neun Männern beſtehend, die größ— 
tentheils in dem Rufe der Gelehrſamkeit, 
der Orthodoxie, und bey dem Volke in 
dem der Frömmigkeit ſtanden, verklagten ihn 
bey dem Oberkonſiſtorio in Dresden, ohne wei— 
ters als einen der ruchloſeſten Menſchen, der 
Gott und die Religion verachte, ſeine Lehrer 
ſchmähe, das Miniſterium beſchimpfe, indem 
er ihre Predigten durch Bilder und Gleichniſſe 
lächerlich mache, und ſeinen Beichtvater, von 
dem er in denſelben Augenblicken die Abſolu⸗ 
tion und das heilige Abendmahl empfangen, 
ſchrecklich geläſtert habe. Sie ſchloſſen ihre 
Eingabe alſo: »da wir erachten können, daß 
unſre treue Erinnerung — (die fie aber nie ge: 
macht hatten) — bey ihm nichts fruchten, ſon— 
dern zu mehrern Calumnien veranlaſſen dürf— 
te, zumal zu befahren ſtehet, daß er ein öf— 
fentlicher Verächter Gottes und des heiligen 
Amts, ſo wir führen, endlich in den verkehrten 
Sinn getathen möchte: als find wir genöthigt, 
ſolches Ew. ꝛc. zu denunciten, und zu bitten, 
Ew. ıc. wollen gnädigſt geruhen und befehlen, 
daß dieſer unruhige Menſch zur gebührenden 


102 


ö Inquisition gebracht, und vac t ſchuldigſter 
Abbitte an alle, die er unbillig beleidigt, an⸗ 
dern, ſo er mit ſündlichen Schriften geärgert, zur 
Abſcheu und Warnung exemplariſch beſtrafet, 
und das Uebel und große Argerniß aus unfes 
rer chriſtlichen Gemeine ausgerottet werde. « 
An der Spitze dieſer Ankläger ſtand frey⸗ 

lich der Name des friedliebenden und ehrwür⸗ 
digen D. Lehmann, der im Grunde Thomaſius 
Freund war; aber die eigentlichen Urheber und 
Anführer waren der berühmte Theologe D. Au⸗ 
guſt Pfeifer, und D. J. Benedict Carpzov, der 
nicht minder im Rufe der Gelehrſamkeit ſtand. 
Pfeiffer hatte ſchon ſeit längerer Zeit die 
Schriften des Thomaſius „nach damahliger 
Weiſe, öffentlich auf die Kanzel gebracht, und 
gepredigt, um fie bey den Studenten, die das 
mals das Kirchengehen noch nicht für überflüs 
ßig hielten, herunter zu bringen, und die Volks— 
meynung wider den Thomaſius zu erregen. Ur⸗ 
ſprünglich mochte Pfeifer wol aus wahrer Anhäng— 
lichkeit an dem Alten und an Luthers Lehre die 
Neuerungen des Thomaſius getadelt haben, und, 
da dieſer eben keine Beleidigung ungerächt 
hingehen ließ, ſo mochte er manche Anſpielung 
in ſeinen Schriften angebracht haben, durch 


103 


die ſich Pfeiffer gekränkt fühlte: und fo moch⸗ 
te es endlich zu einer unverſöhnlichen Erbitte— 
rung bey ihm gekommen ſeyn, die in ihren 
| Äußerungen keine Gränzen mehr kannte. Bey 
Carpzov aber, ſeinem Beichtvater, war der er⸗ 
fie Grund zur Feindſchaft wider den Thoma: 
ſius durch ein Scherzgedicht gelegt, welches ein 
Student auf die Hochzeit des letztern verfer— 
tigt hatte, und durch welches ſich Carpzov be— 
leidigt hielt; und dies um ſo mehr, da er 
glaubte, Thomaſius ſelbſt habe es gemacht. 
Dem unverſöhnlichen Mann genügte keine Er⸗ 
klärung des Thomaſius; er brachte die Sache 
auf die Kanzel, ſetzte ſeinen Groll, den jener 
ebenfalls durch Anzüglichkeiten vermehrte, 
Jahrelang fort, und ſuchte ihn auszulaſſen, 
ſo oft er konnte. Nun hatte Thomaſius in 
dieſem Winter eine Schlittenfahrt gemacht; 
Carpzodb hatte darauf auf der Kanzel ge— 
ſchmäht, und Thomaſius hatte alsdann im 
Januarſtück ſeines Journals eine Erzählung 
angebracht, die Carpzov auf ſich bezog. | 
Thomaſius recenſitte daſelbſt ein Buch, das 
von der beſten Secte der Chriſten ſprach, 
und viel über die proteſtantiſche Geiſtlichkeit 
anzumerken wußte. Er gab zu verſtehen, 


104 Mr 


es fen eine mißliche Sache, in dem Wespen⸗ 
neſte der Geiſtlichen zu rühren, und viel beſſer, 


daß man der Sache zu wenig, als zu viel 
thue. Dabey brachte er als Beweis jene Er— 


| zählung an, die er aus einem franzöſiſchen 


Werke genommen haben wollte, und worin er 
einen alten Geiſtlichen wider Alles, wider je: 
des Vergnügen und jede Converſation eines 
andern weiſen Mannes auf der Kanzel eifern, 


dieſen aber mit der größten Ruhe dabey blei- 


ben läßt, und von dem Geiſtlichen ein ſolches 
Gemählde von Ungeiſtlichkeit, Rachſüchtigkeit 
und Unverſchämtheit entwirft, daß man ſein 


Wort: man müſſe ihm, wie einem Betrunke⸗ 


nen, aus dem Wege gehen, ſehr billig finden 
muß. Carpzov, wie geſagt, erkannte ſich in 
dieſem Bilde, und daher wurde es dem Pfeifer 
leicht, ihn gänzlich auf ſeine Seite zu bringen. 
Dieſer zog zugleich einige Sätze, die, aus dem 


Zuſammenhang geriſſen, gefährlich klangen, wie 


alle dergleichen, und auch offenbar verdreht 
waren, wie es gewöhnlich geſchieht, aus Tho— 


maſius Journal, erklärte ſie dem Miniſterio, 


bezog den einen auf dieſes Mitglied deſſelben, 
den andern auf jenes; und dadurch wurde von 
einigen, und durch Eifern und theologiſches Toben 


U 


105 


von dem Reſte die Unterſchrift zu jener Ankla⸗ 
0 erlangt. 

Es war ein Glück für 5 Thomaſſus ai 
und er erkannte nachher auch ſtets darin die 
waltende Gnade der Vorſehung —, daß dieſe 
Anklage nicht die erſte wider ihn war. Durch 
Alberti's Beſchuldigung, und ſeine Vertheidi— 
gung wußte man am ſächſiſchen Hofe und im 
Conſiſtorio, daß Leidenſchaften und gekränkte 
Hoffart mehr als Liebe für die Wahrheit und 
das Recht die Gegner des Thomaſius erfülle; 
und daher brachte das Miniſterium, das ſonſt 
unendlich weit über ſeinem Gegner im Vor— 
theil geftanden hätte, nichts zu Wege, als ei— 
nen Befehl, den Thomaſius zu vernehmen und 
ſeine Verantwortung einzuſchicken. Thomaſtus 
beſchloß mit vieler Beſonnenheit: er wolle ſu— 
chen, Zeit zu gewinnen, unterdeß, um die Theo⸗ 
logen zu beſchämen, ihnen einen gütlichen Ver— 
gleich anbieten, übrigens ſich herzhaft, aber 
nicht trotzig beweiſen. Und als er darauf 
im Termin vor dem Univerſitätsgerichte er: 
ſchien, ſo wollte er ſich auf keine Vertheidi— 
gung einlaſſen, weil im Conſiſtorialbefehl nicht 
ſtehe, daß er perſönlich erſcheinen ſolle; er ha— 
be es nur gethan, um ſeinen Gehorſam zu be⸗ 


106 i N 


weiſen, und um eine Abſchrift der Beſchuldi⸗ 
gungen zu bitten, *) wie auch um Zeit zu ih⸗ 
ter Beantwortung. Er erhielt zur Antwort, 
man wolle darüber berichten. Darauf wandte 
er ſich ſelbſt mit einer Supplik an das Con⸗ 
ſiſtorium, worin er ſich über das Gericht be- 
ſchwert, den Zuſammenhang der Sache erzählt, 
und ſein Vorhaben enthüllt, ſich Nas mit 
ſeinen Gegnern zu vergleichen. 


Unterdeß kündigte D. Pfeifer, um 8 
Gegner ſobald als möglich zu ſtürzen, weil 


ihm der Weg des Rechts zu langweilig ſchien 
— (denn er hatte auf jene Denunciation ge⸗ 
wiß einen andern Befehl erwartet) — ein anti⸗ 
atheiſtiſches Collegium an in einem lateiniſchen 
Programm, worin er über den Atheismus auf 
eine ſolche Weiſe ſpricht, und die Gränzen deſ⸗ 
ſelben ſo weit ausdehnt, daß man ſchwerlich 


) Dieſe ad acta gebrachten Beſchuldigungen 
ſollten nur die Belege zu dem in der Anklage 
ſelbſt angeführten punkten ſeyn, und ſind eben 
die, von uns angeführten, Sätze, die D. Pfei⸗ 
fer aus dem Journal zog. Sie waren ohne 


Unterſchrift des Concipienten eingegeben; und 


Thomaſius nennt das Ding, eine Schandſchrift, 


die lauter Lügen enthalte. — 5 
9 * 


X 


2 Platz e wird, um er 


Küche. des Thomaſius verräth, iſt, we 
in der Beſchreibung der verſchiedenen Arken 
des Atheismus, grade RR Sätze, die man in | 
der Anklage wider den Thomaſius aus deſſen 
Schriften gezogen haben wollte, hier als athei— 
ſtiſch anführte. Sobald Thomaſius davon Nach— 
bin e. fo ſtellte er dem Prorector der 
Y Be Abſicht vor, und 


me, einen „ Mitbürger einer 0 
inde zu beſchuldigen? Pfeifer 
r ı Gegenfohreiben ſich ſehr über 
? ed des Thomaſius, und behaup— 
| zumal da er weder ihn noch feine Schrif— 
ten genannt, rechtlich zu verfahren; und zu⸗ 
gleich machte er ſich anheiſchig, für Alles bey 
ſeinen Obern verantwortlich zu ſeyn. Darauf 
ſandte die theologiſche Facultät ein Schreiben 
an das Oberconſiſtorium, in welchem ſie die 
Abſicht »ihres lieben collegae, c. des D. Pfei⸗ 


tete, 


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fest lobt,  Zsomafus hin 


“ ein gewiſſes Gefühl der Kestticpeit zu v 
then ſchien. Das Ober: onfiftorium: biligte 
Pfeifers Vorleſungen, aber, obwol es dem Tho⸗ 
maſius auflegte, zu beweiſen „was er gegen 
daſſelbe geſagt hatte, es verordnete 9 
nicht die Inquiſition wider ihn; zugteid 0 | 
befahl es, daß man ihm die Anklage 125 w 


— 
Ti 


109 
| niſteriums mittheilen, und daß er fi in 10 
Tagen dagegen verantworten ſollte. Thomas, 
ſius ließ ſich dadurch nicht abhalten von einer 
| Reiſe, die er ſich zum Pufendorf in Berlin und 
dann nach Hamburg zu machen vorgeſetzt hat⸗ 
| te, aber er ſchickte zuvor eine Bitte um Auf: 
ſchub und um andre Puncte, ſeine Sache be— 
treffend, ans Conſiſtorium. Während ſeiner 
Abweſenheit war ſein bisheriger Beſchützer, der 
Miniſter Haugwitz, in Leipzig, und Pfeifer und 
Conſorten unterließen nicht, ihn bey demſelben 
ſo zu verläumden, daß er wenigſtens irre an 
dem Thomaſius ward, und dieſer auf ſeinen 
Schutz nachher nicht weiter mit Sicherheit rech— 
nen durfte. Nach ſeiner Zurückkunft wurden 
ihm von dem Univerſitätsgerichte 14 Tage 
(vom Conſiſtorio war ihm ein Monat zuge— 
| ſtanden, aber der Befehl wurde dem Ihonia: 
N ſius nicht bekannt gemacht) bewilligt, aber der 
Concipient jener Anklagepunkte wurde, obwol 
Thomaſius wußte, daß es Pfeifer war, nicht 
genannt. | | 
Thomaſius mußte ſich freylich darein erge— 
ben, als D. Pfeifers Collegium wider ihn hö— 
hern Orts gebilligt wurde, aber er ertrug es 
nicht mit Gleichgültigkeit, die auch keinem 


. 


110 f * 


ehrlichen Mann geziemt, wenn ſein guter Na. 
me und ſeine Ehre geſchmäht wird. Deßwe⸗ 
gen ſchlug er, ſobald er zurück kam, an das 
ſchwarze Brett einen Zettel, wodurch Pri⸗ 
vatvotleſungen über ſeine göttliche Rechtsge⸗ 
lahrtheit, aber vorher einige öffentliche Vorträ⸗ 
ge ankündigte über den Unterſchied des Rechts 
und der Sittſamkeit (de differentiis justi et de- 
cori) zur Vertheidigung ſeiner Ehre; zugleich, 
ſagte er, wolle er darin reden über die Natur 
des Atheismus und über die wahre Weiſe, ihn 
zu widerlegen. Er wählte dazu dieſelbe Stun— 
de, in welcher D. Pfeifer ſein Collegium ſchon 
ſeit einigen Tagen las. Kaum hatte Pfeifer 
davon gehört, ſo ließ er den Anſchlag abrei⸗ 
ßen, und brachte die Pluralität der theologi⸗ 
ſchen Facultät dahin, daß fie an das Univerfi- 
tätsgericht eine Supplik ſandte, man möchte 
dem Thomaſius das Collegium verbieten, weil 
ihm, dem Juriſten und Philoſophen, nicht zu⸗ 
komme über den Atheismus zu leſen. Dies 
geſchah; aber weil es mit der Clauſel geſchah, 
»da er etwas Erhebliches einzuwenden hätte, 
ſolches ad acta zu berichten, « ſo fing Thoma— 
ſius, der den Werth einer ſolchen Clauſel kann— 
te, ſein Collegium doch an, und die Studenten 


7 5 i . 1 111 


verließen größtentheils das Auditorium des D. 


Pfeifer, um ſich bey ihm zu verſammeln. Er 
begann mit dem Spruche aus dem Johannes: 
verwundert euch nicht, meine Brüder, ob Euch 
die Welt haßt; zeigte an dem Beyſpiele Chri⸗ 
ſti, Ariſtidis, Socratis, Luthers u. ſ. w., daß 
es eben kein Beweis für die Schlechtigkeit ei— 
nes Mannes ſey, wenn er viele Feinde habe; 
und erzählte dann ſeine Geſchichte und die Ab: 
ſicht ſeiner Vorleſungen: nemlich ſeine Ehre 
gegen ſeine Feinde zu retten. — Pfeifer aber 
berichtete die Sache ſogleich ans Conſiſtorium; 


dieſes befahl darauf, daß er das Collegium 


nicht leſen ſolle, bevor er ſich nicht gehörig ver: 
antwortet hätte. Pfeifer, der aus Mangel an 


Zuhörern ſeine Vorleſungen hatte einſtellen 


müſſen, kündigte ſogleich in einem triumphiren— 
den Tone die Fortſetzung derfelben an, *) Aber, 
weil in dem Bonfiftorialbefehl nur vom Colle⸗ 
gio und nicht von der Einleitung die Rede 


) Dies iſt eine Stelle aus dieſer Ankündigung: 
proximo die ad majorem Dei gloriam et confu- 
sionem Satanae, qui sibi suisque Atheis jugulum 

peti videt atque dolet, agrediemur alacriter 


evolutionem ipfarum quaestionum. 
* 


112 | 5 9 80 


war, ſo ließ ſich Thomaſius nicht irre machen, | 
fondern fagte nur feinen Zuhörern: aus dem 
Collegio könne freylich, wegen des Befehls, 
nichts werden, aber die Einleitung wolle er 
vollenden. Seine wüthenden Gegner bewirk⸗ 
ten darauf einen. . Befehl, worin dem 
Thomaſius die Befolgung des vorigen 
(denn man war im Conſiſtorio wol weniger 
Juriſt, als Thomafius!) bey einer Strafe von 
Funfzig Thalern von Neuem geboten wurde. 
Thomaſius ließ ſich von ſeinen Zuhörern be 
ſcheinigen, daß er das Collegium nicht zu leſe en 
angekündigt und folglich dem Befehl Gehor— 
ſam geleiſtet hätte; ſetzte dann ſeine Vorträge 
der Einleitung fort, und wandte ſich mit einer 
Supplik an das Oberconſiſtorium, die in einem 
ſolchen gefaßten und beſonnenen Ton geſchrie— 
ben iſt, daß man zwar darin den gehorfamen 
Unterthanen, aber auch den redlichen und gröb⸗ 
lich beleidigten Mann erkennt. Er beweiſ't 
darin Pfeifers Unwiſſenheit nnd böſe Abſicht 
wider ihn; wundert ſich über den Befehl des 
Conſiſtoriums, dem er gleichwol Folge gelei⸗ 
ſtet, und bittet um Nichts, als daß man ihm 
mit ſeinen Gegnern gleiches Recht widerfahren 
laffen, ihn wider ihre Beſchuldigungen, ehe 

man 


113 


man eine Execution oder Inhibition gegen ihn 
decretire, genugſam hören und nicht einſeitig 
den Berichten der Univerſität Glauben bey— 
meſſen möchte. N Mit dieſer Bittſchrift verband 
er, weil ihm der Befehl des Conſiſtoriums vor— 

enthalten war, eine andre, um Zeit, ſich zu 
verantworten, zu erlangen, und überſandte 
beyde an den Präſidenten des Conſioriums. 
Zugleich hatte er einen weitläuftigen Vorſchlag 
zur Güte, ſeinem Verſprechen gemäß, an ſeine 
Gegner, das Miniſterium, aufgeſetzt, worin er 
einigen derſelben zu Gemüthe führt, wie ſie 
ſich ohne Urſachen und Recht durch fremde Lei— 
denſchaft hätten verwirren laſſen in den An— 
ſchlag wider ihn, wie er ihnen dieſes verzeihen 
und mit ihnen ruhig, friedlich und freundlich 
leben wolle; Anderen ſtellt er vor, indem er 
ihnen den Urſprung und die Geſchichte ihrer 
Feindſchaft ins Gedächtniß zurück ruft, wie fie 
ſich durch Erbärmlichkeiten, Klätſchereyen und 
Gemeinheiten hätten verführen laſſen zu Unge— 
rechtigkeiten und bitterer Gehäßigkeit, und wie 
ihn das aufgebracht und zu Heftigkeiten ver— 
leitet habe. Dennoch hielt er es für möglich, 
ſich mit Allen zu verſöhnen, nur den Pfeifer 
ſchloß er aus, wofern dieſer ihm nicht ſeine 

H 


114 | | 
Beleidigungen abbitten „und ſich bey einer be⸗ 
ſtimmten Strafe verbinden toller, ihn * 
wieder auf der Kanzel zu nennen. 

Ehe er aber von dieſem Bols die 
Folgen fah, erhielt er vom Conſiſtorio den drit⸗ 
ten Befehl, auch die Einleitung nicht zu leſen, 
bevor er ſich gehörig verantwortet hätte, bey 
einer Strafe von 100 Goldgulden. Obwol 
nun Thomaſius Zeit gehabt hatte, ſeine Ehre 
zu retten, und den Angriffen des D. Pfeifer 
"den Stachel zu entreißen, fo machte er feinen 
Gegnern doch einen neuen Arger. Er ließ 
nemlich die Studenten, wie gewöhnlich, ſich 
verſammeln, und fing alsdann ſeinen Vortrag 
damit an, daß er freylich jetzt auch nicht mehr 
die Einleitung leſen dürfe, daß er aber, um ſie 
ſchadlos zu halten, ihnen philoſophiſche Vor⸗ 
leſungen eröffnen wolle von den Borurtheilen 
(de praejudiciis): eine Ausflucht, durch welche 
er ſeinen Gegnern entging und den Weg zu 
jeder Vertheidigung offen behielt. Da der 
Vorſchlag zum Vertrage durch Carpzovs una 
verſöhnliche Halsſtarrigkeit ſich aber gänzlich 
zerſchlug, und da Thomaſius, auf einen hinter— 
liſtigen Bericht der Univerſität, er habe den 
Termin zur Vertheidigung verſäumt, den Be⸗ 


| ; 115 
fehl erhielt ’ ſich innerhalb 14 Tage bey 30 
Goldgulden Strafe zu verantworten: fo über: 
reichte er, nachdem er die Acten erhalten hat⸗ 
| te, dem Gerichte zwey Schriften, die mit der 
ganzen Beſonnenheit und Kunſt des erfahre— 
nen Juriſten, mit der Kraft des beleidigten 
Mannes, und mit der Würde, welche dem Be: 
wußtſeyn des Rechts eigen iſt, verfaßt waren. 
In der einen vertheidigte er ſich nachdrücklich 
gegen die Beſchuldigungen des Miniſteriums, 
ie er alle für Lügen und Verleumdungen er: 
klärte und als ſolche zu beweiſen ſich eibot; 
in der andern erklärte er ſich über das, was er 
ſelbſt in ſeinen Suppliken wider Pfeifer und 
die theologiſche Facultät gejagt. Beydes ge: 
ſchah im Monat Auguſt, ) und zwar mit ſol⸗ 
chem Nachdruck und ſolcher Klarheit, daß das 
Gericht entweder die Schriften nicht überſandte, 
oder das Oberconſiſtorium, weil die Unſchuld 


a Wir haben das Datum zu den Factis nicht 
f hinzu geſetzt, weil wir glaubten, es läge 
wenig daran; die Dauer des Streits iſt aber 
darum zu bemecken, damit man in der Fort⸗ 
ſetzung der Erzählung, beurtheilen mag, wie 
weit er des Mannes Seele beſchäftigte, und 
wie groß feine Thätigkeit war, 


H-2 


116 *. N 
des Mannes zu einleuchtend und das Gewebe 
der Verleumdungen ſeiner Gegner zu enthüllt 
war, hielt es fürs Beſte, die Sache bey 
Seite zu legen. Zur Verwunderung Al⸗ 
ler, die Theil daran genommen hatten, 
geſchah nichts weiter, und dieſe Verwunderung 
war nm fo größer, je heftiger Thomaſius in 
den letzten Schriften ſeine Gegner angegriffen 
hatte. Jetzt wäre es an ihm geweſen, die 
Sache zu betreiben, und wahrſcheinlich würde 
es nicht unterblieben ſeyn, wenn nicht Alles 
ſtillſchweigend in die alte Ruhe gekommen, 
und wenn er nicht ſchon unterdeß von einer 
andern Seite in einen neuen Kampf verwickelt 
wäre, der nicht minder heftig werden, aber 
länger dauern ſollte. Und dieſer Kampf war 
es vielleicht, in welchen ſich, ſo wie der erſte 
den Alberti dem Außern nach zur Ruhe ge— 
bracht hatte, der Grimm ſeiner Gegner ein 
wenig beſänftigte, weil fie hofften, ihre Ab» 
ſicht würde erreicht werden, ohne daß ſie eben 
nöthig hätten, ſich länger der Verachtung der. 
Redlichen auszuſetzen. 

Wir haben oben angeführt, wie Thoma— 
ſius im Decemberſtück ſeines Journals 1688 
ein Buch des Herrn Hector Gottfried Maſius, 


* 


| a | 
Königl. Däniſchen Hofpredigers, »über den 
Vortheil, welchen die wahte (d. 9 die lutheri, 
ſche) Religion den Fürſten gewähre,« nach— 
drücklich, aber würdig und mit guten Gründen 
recenſirt und beſtritten habe; jetzt wollen wir 
die Folgen dieſer Recenſion, wenigſtens den 
Anfang derſelben, erzählen, denn ſie ſind gra— 
de der Kampf, von welchem wir ſo eben ſpra— 
chen. Kaum nemlich war das Stück des Jour⸗ 
nals gedruckt, ſo überſandte es ein Verwand— 
ter des Maſius, der in Leipzig ſtudirte, dem 
letztern, und ein zweytes Exemplar erhielt er 
von einem Bruder des D. Carpzovs, den wir 
oben kennen gelernt haben, zugleich mit einer 
Nachricht von den Vethältniſſen in Leipzig, 
und von der Geſinnung der theologiſchen und 
philoſophiſchen Facultät gegen Thomaſius. 
Dem Maſius war es ſo unbegreiflich, als es 
vielleicht unerhört ſeyn mochte, daß ein Luthe— 
taner einen Lutheraner wegen Behauptungen 
tadeln konnte, die er ja eben zum Vortheil 
des Lutheranismus vorgebracht hatte, und da 
er die Fürſten, weil er ihnen die Gewalt un: 
mittelbar von Gott ertheilte, auf ſeiner Seite 
zu haben glaubte, ſo trieb der gekränkte theo— 
logiſche Stolz den heftigen Mann zur Rache 


118 


gegen den unverſchämten Nicht Theologen, der 
ihn ſo nackt in ſeiner geiſtigen Armuth darge: 
ftellt Hatte; zumal da er durch Carpzov wuß⸗ 
te, daß er dabey auf die treueſte Unterftügung 
der vornehmſten Leipziger Gelehrten zählen 
konnte. In einem Briefe an feinen Verwand— 
ten in Leipzig, der dem Thomaſius durch einen 
Zufall in die Hände fiel, ſpricht er davon, daß 
nächſtens eine Widerlegung des letztern erfihei- 
nen, in welcher er derbe Hiebe erhalten 
würde, und die zwar wider ſeinen (des Ma⸗ 
fius) Willen, aber nicht ohne fein Wiſſen 
(ipso quidem non inscio sed tamen invito) ge⸗ 
ſchrieben würde; in einem zweyten Briefe aber, 
an einem ſächſiſchen Miniſter, deſſen Beichtva— 
ter er geweſen war, verklagt er gleichſam den 
Thomaſius und redet über ihn mit der vorneh⸗ 
men Verachtung, welche die Ohnmacht in ih— 
rer letzten Noth affectirt, als über einen Men— 
ſchen, den man keiner Antwort würdigen, ſon— 
dern nur zur gebührenden Inquiſition zu zie— 
hen fuchen müſſe. Bald darauf überſandte er 
jenem Verwandten ein Exemplar der Schrift,“ 


) Sie führt den Titel: abgenöthigtes Geſpräch 


von dem Bande der Religion und Sorietät, 


5 BT 
in welcher Thomaſius widerlegt ſeyn follte, 
Hund in welchem Geiſt (wenn man's anders 
Geiſt nennen dürfte) ſie geſchrieben war, 
wird man ſchon daraus errathen, daß fie in 
Leipzig fo begierig geleſen wurde, daß D. Pfei- 
fer ſich nicht entbrechen konnte, ſie zum gro— 
ßen Aergerniß ſeiner Gemeine während des 
Gottesdienſtes im Beichtſtuhle zu leſen, und 
daß er und ſeine Conſorten einen Leipziger 
Buchhändler durch Verſprechungen ſeine Ehr— 
liebe ſoweit zu benehmen ſuchten, daß er jenes 
Exemplar nachdruckte. Es dürfte ſchwer hal⸗ 
ten, Expectorationen der neuen Zeit, die es 
im Schimpfen doch zu einer wahren Virtuoſi— 
tät gebracht haben ſoll, aufzufinden, die reicher 
an Schimpfwörtern wären, als Herrn Schip— 
pings Geſpräch. Zwey Beſchuldigungen waren 
es, um welche fich das Ding drehte, und von 
welchen man hoffen mochte, daß ſie die Fürſten 
wider den Thomaſius aufbringen würden; die 


worinnen D. Masii interesse principum circa 
Religionem Evangelicam gegen eines neulichen 
Scribenten ernſthafte Gedanken vertheidigt 
wird, verfaſſet von Peter Schipping Th. C. — 
der Verleger hatte ſich geſchämt, ſich zu nen: 


nen; auch der Druckort war nicht angegeben. 


120 


eine, er habe geleugnet, die Majeſtät komme 


unmittelbar von Gott; und die zweyte, er 
habe die Majeſtät mit Maulſchellen vergli⸗ 


chen.“) Maſius ließ freylich dem Thomaſius 


„) Wir wollen die Stelle, worin dies liegen fol, 
aus dem Deremberſtücke des Journals herſetzen, 
theils um des Thomaſius Schreibart willen, 
theils aber, weil man in ſeiner Beweis und 

Disputirart vielleicht einige Ahnlichkeit mit 

einem andern großen Deutſchen erkennt, deſſen 

Geiſt und Scharfſinn ſich auch ſonſt am ſchön— 

ſten in der Polemik zeigte. Der Theologe A, 

um dem Obriſten B zu beweiſen, daß das Volk 

keine Majeſtät geben könne, weil es ſelbſt 
keine habe, ſagt zu dieſem: mein Herr leihe 
mir doch eine Tonne Goldes. B. der Herr 
wird mir verzeihen, ich habe keine. A. Da 
recht, wie ſollte denn der Conſens des Volks 
dem Könige die Majeſtät geben, da doch das 
Volk keine Majeſtät hat? das, das bleibt mir 
unumgeſtoßen. B. Kann mein Herr ſehen oder 
zehlen, wie viel ich Ohrfeigen im Schubfacke 
habe? A. Wie fragt mein Herr fo wunder: 
lich? B. Der Herr ſehe mich an, wo er wol⸗ 
le, er wird keine Ohrfeigen bei mir finden. 
Gleichwol habe ich das Vermögen, einem eher 


einen Dienſt mit ſo viel als er will zu leiſten, 


121 


ſagen: er habe die Schrift nicht geſchrieben 
Innd keinen Antheil daran, darum möchte er 
(Thomaſius) ihn aus dem Spiele laſſen, falls 
er ſie zu beantworten gedächte, ſonſt würde er 
5 

als mit hundert Thalern. Iſts nicht wahr, 
wenn der Herr Röhrwaſſer in ſeinem Hauſe 
pätte, und ich ſpreche ihn darum an, ſo kann 

er mir den Abfall von feinem Röhrwaſſer zu: 
kommen laſſen. A. Warumb nicht? B. Hat 
aber der Herr den Abfall ſelbſten? A. Das iſt 
aber ein unförmlich Gleichniß zwiſchen der 

| Majeſtät und dem Abfall vom Röhrwaſſer. 
B. Es iſt eben ſo förmlich, ja noch förmlicher, 
als zwiſchen der Majeſtät und einer Tonne 
Goldes. Aber damit der Herr ſteht, daß ich 
ihm auch ſeinem Begehren nach antworten will, 

er 0 da, ich will ihm die Tonne Goldes 
geben, ſobald er mir eine Obligation darüber 
wird gegeben haben. A. Dazu wollen wir 
bald kommen. Ich will ihm gleich eine aufſe⸗ 
tzen; und ſiehe da hat Er ſie. B. Ehe mir der 
Herr ſie giebt, iſt es da ſchon eine Dblige- 
tion? A. Mit Nichten, denn ich kann mir ja 
ſelbſt nicht verbunden ſeyn. B. So bin ich fie 
auch nicht anzunehmen ſchuldig. Denn wie 
will mir der Herr eine Obligation geben, wenn 


er fie ſelbſt nicht hat? — Wie nur Schip— 


122 | 1 


genöthigt ſeyn, ſich über feine Angriffe bey ſei- 
ner Königlichen Majeſtät von Dännemark zu 
beſchweren; aber Thomaſius, der das ange⸗ 
führte Geſtändniß des Maſius in Händen hat⸗ 
te, und überdem Ausdrücke wieder fand, wel⸗ 
che er ſchon aus den erwähnten beyden Brie- 
fen kannte, erklärte, wenn das Geſpräch auch 
nicht vom Maſtus ſelbſt ſey (wie er doch über— 
zeugt war), ſo habe Peter Schipping doch nach 
ſeinem Willen und unter ſeiner Auleitung es 
verfaßt: darum wolle er es auf ſein Drohen 
ankommen laſſen. Er ließ daher im Monate 
May und Junius ſeines Journals das ganze 
Geſpräch ſelbſt abdrucken, und machte dazu ei⸗ 
ne Reihe Anmerkungen „ die mit Mäßigung 


ping den Thomaſtus beſchuldigte, er habe in 
dieſer Stelle die Majeſtär mit Maulſchellen 
verglichen, ſo antwortete Thomaſius: Wenn 
Peter Schipping alſo argumentirte; Wer Hec⸗ 
tor heißt, der iſt lutheriſcher Pabſt. Atqui Ih⸗ 
re Excellenz der Herr Maſius etc. Ergo. Und es 
wäre zu allem Unglück ein Bettelvoigt, der 
auch Hector hieße, und ich gäbe von ſelbigem 
die Inſtanz, wer wollte ſo einfältig ſeyn und 
ſagen, daß ich dieſe beyden Hertores mit eins 


ander verglichen hätte? 


123 


und Würde geſchrieben waren, und die es ber- 
rathen, daß Thomaſius einen ſolchen pöbelhaf— 
ten Angriff gänzlich ignoriet haben würde, 
wenn er ſich nicht, in ſeinen Verhältniſſen, 
eine Vertheidigung und Rechtfertigung ſchul⸗ 
dig geweſen wäre. Maſtius aber, der es fühl 
te, daß, obwol Ihomafius es nicht gradezn 
geſagt hatte, die ganze Welt ihn für den Ber: 
faffer des Geſptachs halten mußte, und der 
feine innere Schlechtigkeit dadurch beglaubigte, 
daß er ſich ſchämte, ſich der Welt in der Ge— 
ſtalt zu zeigen, die er doch ſelbſt für die Welt 
gebildet hatte — Maſius, bewogen durch die 
angeführte Schaam, und aufgehetzt durch ſeine 
Leipziger Correſpondenten, glaubte ſich nicht 
beſſer reinigen und zugleich an ſeinem Gegner 
rächen zu können, als wenn er ſeinen König 
dahin brächte, daß er am ſächſtſchen Hofe die 
Beſtrafung des Thomaſius verlangte für den 
ſchmählichen Angriff auf ſeinen Hofprediger 
und für die Kühnheit, mit welcher er verklei⸗ 
nerlich von der Majeſtät der Fürſten geredet 
hatte. Dies geſchah wirklich im Monate Ju- 
nius, alſo grade um die Zeit, in welcher der 
vorige Handel ſo lebhaft war. Sobald Tho— 
maſius von dem Schreiben des Königs Nach— 


124 


richt erhielt, ſo wandte er ſich mit einer Gup- 
plik an das Churfürſtliche Geheimeraths Colle. 
gium, und erklärte, daß Maſius ſowol den 
König, als den Churfürſten betröge, und bat, 
gehört zu werden und um gemeines Recht. 
Die Supplik wurde an das Oberconſiſtorium 
übergeben, und dieſes ſchickte, indem es der 
Supplik nicht erwähnte, einen Befehl an die 
Univerfität, den Thomaſius darüber zu verneh— 
men, warum er wider die Schrift des Maſius 
geſchrieben, und ob und wo er zuerſt von die⸗ 
ſem angegriffen ſey? Das Gericht der Univer⸗ 
ſität lud den Thomaſius in Perſon vor ſich; 
da aber dies nicht im Conſiſtorialbefehl aus- 
drücklich beſtimmt war, ſo glaubte Thomaſius, f 


es habe ſeine Vollmacht überſchritten. Darum 


fandte er eine zweyte Schrift an das Obercou⸗ 
ſiſtorium, worin er ſich vollkommen zu verthei⸗ 
digen ſuchte. Er habe, ſagte er, ſich der Aka⸗ 
demiſchen Freyheit bedient, nach welcher ein 
Gelehrter ſein Urtheil über ein im öffentlichen 
Druck erſchienenes Buch fällen dürfe; er habe 
freylich die Lehren des Maſius für falſch er⸗ 
klärt, aber er habe es glimpflich und in der 
guten Abſicht gethan, nach ſeinen Kräften den 
Religionsfrieden zu erhalten; denn des Mar 


125 


fing Lehre: die Fürſten müßten, wo nicht aus 
Gottesfurcht, doch um ihres zeitlichen Vor— 
theils willen die lutheriſche Religion anneh— 
men, ſey ſchnurſtracks der Vermahnung des 
Apoſtels zuwider, daß man aus der Gottſelig— 
keit kein Gewerbe machen ſolle. Auf dieſe 
Weiſe fuhr er fort, nnd brachte Alles zu ſei— 
ner Rechtfertigung vor, was wir bey Schip— 
pings Schrift erzählt haben; endlich denuncir— 
te er den D. Pfeifer, weil er dieſes Pasquil in 
der Kirche geleſen, und den Buchhändler, der 
es nachgedruckt hatte. Aber das Oberconſiſto— 
rium befahl demungeachtet von Neuem, daß 
er ſich in Perſon vor dem Univerſitätsgerichte 
vernehmen laſſen ſolle; Thomaſtus ließ es ge— 
ſchehen, aber er führte nichts Neues für ſich 
an. Dies war im September, und dies war 
das Letzte, was in dieſem Jahre öffentlich für 
dieſe Sache gethan wurde; unter der Hand 
wollte man freylich den Thomaſius zum Wie— 
derruf und zur Abbitte gegen den Maſius 
durch allerley Drohungen und Inſinuationen 
vermögen: aber er war zu ſehr von der Ge— 
rechtigkeit ſeiner Sache überzeugt, als daß er 
dem ſchmählichen Vorſchlag hätte Gehör geben 
ſollen. | 


a 

Sonach ſchien dem Thomaſius ein ruhiges 
Ende des Jahrs zu erwarten; denn ſeine Leip⸗ 
ziger Gegner hatten ſich wider ſeine Vertheidi⸗ 
gung ja nichts vorzubringen getrauet, ‚und la: 
fius, ſchien es, mußte durch feine Rechtferti⸗ 
gung beſchämt werden, falls er der Schaam 
fähig war. Aber Ruhe war dem Mann in 
dieſem Jahre nicht und in dem folgenden noch 
weniger beſtimmt, und neue Ereigniſſe mußten 
zu auffallendern Folgen für ſein Leben ſich ver⸗ 
binden mit dem alten Groll ſeiner Gegner. 
Allein ehe wir dieſelben erzählen, wollen wir 
hier mit wenigen Worten ſagen, daß der Dop⸗ 
pelkampf, den Thomaſius beſtehen mußte, nicht 
die ganze Thätigkeit ſeines Geiſtes beſchäftigt 
hatte. Die Monate Julius, Auguſt und Sep⸗ 
tember ſeines Journals erſchienen regelmäßig, 
und wenn ſie auch eben nichts Wichtiges enthiel⸗ 
ten, ſo bewieſen ſie doch wenigſtens, daß die Furcht 
vor ſeinen Feinden weder ſeine Wahrheitsliebe 
zitternd, noch feine Freymüthigkeit ängſtlich ge⸗ 
macht halte. In der Necenfion des akademi⸗ 
ſchen Diebs von dem Engländer Abererembi, 
und in dem, was er über den Confucius ſagt, 
wird ein jeder das ganze Bild des Manns | 
wiederfinden, welches er ſich bey den frühern 


127 


Monaten von ihm gemacht hat. — Zu gleicher 
Zeit gerieth Thomaſius auf den Gedanken, weil 
er ſahe, daß das Studiren der jungen Leute 
in der Regel nur ein zweckloſes Zuſammen— 
ſchleppen einzelner Lehren und Regeln war, 
die neben einander in ihrem Kopfe lagen, oh⸗ 
ne ſich zu berühren, zu ergänzen und in ein⸗ 
b ander einzugreifen, auf den Gedanken — deſ— 
ſen Ausführung freylich die Kräfte Eines Man: 
nes leicht überſteigen dürfte — durch einen 
fortlaufenden Vortrag der Wiſſenſchaften in 
der Ordnung, in welcher die eine der andern 
am unmittelbarſten die Hand reicht, Einheit 
und Zuſammenhang in dieſelben zu bringen, 
und auf dieſe Weiſe die jungen Leute für das 
Leben zu erziehen. »Denn, ſagt er an einem an— 
dern Orte, ein jeder rechtſchaffener weiſer Mann 
ſoll die Fundamente von allen Stücken der Weis⸗ 
heit inne haben, weil ſie alle verknüpft ſeyn; 
daher wird man beym Mangel der General— 
Grundregeln der Weisheit keine Connexion 
bey ihm antreffen, und bleibt bey ihm arena 
sine calce,« Aus guten Gründen wählte er ſich 
diejenigen aus, die ſich der Jurisprudenz zu 
widmen gedachten, “) und kündigte dieſen (am 
K. Er will zu ſeinen Auditoren ſolche Leute, die 


188 


10. Juni) fein Vothaben an, in einem Pros 
gramm, in welchem er »der ſtudirenden Jugend 
einen Vorſchlag eröffnet, wie er einen jungen 
Menſchen, der ſich ernſtlich fürgeſetzt, Gott und 
der Welt dermaleins in vita civili rechtſchaffen 
zu dienen und als ein honnet und galant hom- 
me zu leben, binnen dreyer Jahre Friſt in der 
Philoſophie und singulis Jurisprudentiae parti- 
bus zu informiren geſonnen fey.« Ob der 
Weg, den Thomaſius einſchlägt, der rechte ſey, 
ob er nach Einem Princip zu Werke geht, und 
ob das, was er vorzutragen gedenkt, ge— 
nügt, ) — daran wird wol jeder, der es verſteht, 

5 | zwei: 


nicht puram putam philosophiam zu ihrem End» 
zweck geſetzet, und nach der Heydniſchen irri— 
gen Meynung ihr höchſtes Gut in speculatio- 
nibus ſuchen, ſondern Kor dermahleins ihre 
Philoſophie zu wirklichem Nutz des menſchlichen 
Geſchlechts anzuwenden trachten. — Warum 
er aber die puren puten Theologen ausſchloß, 
iſt leicht zu errathen. 5 

) Die Ordnung und die Gegenſtände feines 
Collegiums ſollten folgende ſeyn: 1) Von der 
Kunſt zu raiſonniren. 2) Von der Hiſtorie. 
3) philosophia practica, (Ethik.) 4) De discipli- 


na 


i 129 
zweifeln; aber die Idee zeigt das Streben des 
Mannes, und feine Ahndung des Beſſern. Ue⸗ 
ber dieſen Vorſchlag ſchrieb D. Pfeifer, 
um die Zuhörer abzuſchrecken, ohne ſich 
0 zu nennen, »ein wohlgemeyntes Gutach— 
ten, welches, obwol es manche Erinnerung | 
enthielt, die nicht zu leugnen iſt, doch zu ſehr 
die Abſicht ihres ergrimmten Verfaſſers ver: 
rieth, als daß es auf junge Männer, deren 
Sinn für Rechtlichkeit und Gradheit noch nicht 
durch Nebenzwecke unterdrückt iſt, hätte Ein⸗ 
druck machen können. Thomaſtus eröffnete im 
Herbſt ſein Collegium mit vielem Beyfall, und 
er würde es vollendet haben, wenn nicht neue 


na jucundi. 5) Von der Politik. 6) Vom Nutz 
der Particulier : Perfonen. 7) Von der Öko: 
nomie. 8) von der disciplina decori. 9) Von 

der Jratorie, ohn Bong der doctrina interpre- 
tandi. 114.18, 13) Von jure privato, - feudali, 
public und Ecclesiastico. — — Die disciplina 
jucundi ſollte ein Anhang zur Ethik ſeyn, und 
dieſe ſollte als Einleitung gleichſam N die Dos 
litik betrachtet werden. Wo der Staat die 
Sittlichkeit im Großen iſt, da iſt das — wie 
es auch die Alten wollten — ganz recht. 


A 


130 


Händel, die wir jetzt erzählen müffen, ihn dar⸗ 
an gehindert hätten. a 4 0 

Im Jahre 1686 waren einige Magiſter in 
Leipzig durch die Bemerkung des tiefen Ver⸗ 
falls des Studiums der Grundſprachen der hei⸗ 
ligen Schriften, und durch die Ueberzeugung, 
daß aus ihnen und nicht aus gelehrten Com⸗ 
mentaren oder aus ſcholaſtiſchen Spitzfindig⸗ 
keiten der Geiſt des wahren Chriſtenthums er⸗ 
kannt werden möge, auf den Gedanken gera⸗ 
then, der jungen Leuten ſo natürlich iſt, für 5 
ſich und in Gemeinſchaft dieſes Studium zu 
betreiben, damit der eine dem andern mit 
Rath und Hülfe an die Hand gehen und ſo 
die Gelehrſamkeit Aller einem jeden zu Theil 
werden möchte. Bald nahmen einige Studen⸗ 
ten an dieſen Übungen Antheil; und da der 
ſchöne Sinn der heiligen Schriften, den ſie 
früher nicht gefaßt hatten, ſie anſprach, und 
die Religioſität ihrer Gemüther erregte, ſo 
fühlten fie noch ſchneller, daß ihre Vereinigung 
nicht blos ihren Kenntniſſen vortheilhaft wer⸗ 
den, ſondern auch ihre Gottſeligkeit beleben 
und ſtärken könne. Als die Anzahl der Theil: 
nehmer größer ward, fo räumte ihnen D. Al: 
berti ein Zimmer ein und übernahm ſelbſt das 


1 | > 
Directorium der Geſellſchaft, die ſich jetzt eige⸗ 
ne Geſetze machte, und darin ihren Zweck alſo 
ausdrückt: zur Ehre des dreyeinigen Gottes, 
zum Wachsthum des neuen Menſchen, der 
gottſeligen Gelahrtheit, und der erklärenden 
Theologie, wie auch zu einem Beyſpiel eines 
heiligen Umgangs, die heiligen Bücher des Al— 
ten und Neuen Teſtaments in ihren Grund— 
ſprachen zu leſen, zu erklären und anzuwen— 
den. Bis in dieſes 1689 ſte Jahr wurde das 
Collegium alſo fortgehalten. Jetzt kam der 
Magiſter, Auguſt Herrmann Franke, der die 
Geſellſchaft miterrichtet, aber nachher abwe— 
ſend geweſen war, nach Leipzig zurück, und 
nahm nicht nur an dieſem Collegio, das man 
ein bibliſches nannte, wiederum Antheil, ſon⸗ 
dern fing auch an, andre Vorleſungen, theils 
über Schriften der Bibel, theils über die Hin— 
derniſſe des theologiſchen Studiums zu halten. 
Er verwarf alle menſchliche Autorität in Er- 
klärung der Schrift, legte ſie dar nach dem 
einfachen Buchſtaben, und drang nur auf ei: 
nen guten Willen, Reinheit des Herzens, Tiefe 
des Sinns und auf heilige Andacht. Anfäng— 
lich hatte man ihn mehr begünſtigt, denn gehin⸗ 
dert; als aber ſein religioſer Geiſt die jugend— 


J 


lichen Gemüther, die für alles Gute und SH 
ne fi fo leicht entzünden, und für Alles mit 
einem edlen Eifer ſchwärmen, was ihre leben: 
dige Phantaſie lebhaft ergreift, aufregte; als 
die Studenten in großer Menge in feinen Hör: 
faal ſtrömten, und die theologiſchen und Philos 
ſophiſchen Vorleſungen, die ihnen bisher Eins 
und Alles geweſen waren, unbeſucht blieben: 
da fing man an, aufmerkſam zu werden, und 
die Sache für gefährlich zu halten, was ſie in 
Rückſicht der Theologen und Philofophen‘ denn 
auch wirklich war. Und da einige von den 
Studenten, aus Mangel an religioſem Gefühl, 
oder aus Unwiſſenheit, weil ſie die heiligen 
Schriften in der Grundſprache nicht leſen konn⸗ 
ten, oder aus dem Bewußtſeyn der Unreinheit 
ihres Lebens und der ſchnöden Neigung, dieſe 
Unreinheit fortzuſetzen, die Lebensweiſe ihrer 
Gefährten ungern ertragen, und ſie deswegen, 
(weil Franke ihnen die Ausübung der Fröm⸗ 
migkeit, praxis pietatis, zu zeigen ſich bemühe⸗ 
te,) mit einem Gpotinamen, (denn hinter dem 
Spott verbirgt ſich die Leerheit von ſich ſelbſt) 
Frömmler, Pietiſten, genannt hatten: ſo faßte 
man dieſen Namen auf, und mit dem Namen 


meynte man den Beweis für eine neue Secte 


133 


zu haben. Die Theologen, unter denen, wie 
leicht zu erachten, die Carpzove und Albertis 
oben an ſtanden, unterließen nicht, davon al— 
lerley Nachrichten nach Dresden und überall 
hin zu verbreiten, die im Munde des Gerüchts. 
höchſt ſeltſam wurden, und ſie ergriffen die er⸗ 
ſte Gelegenheit, die neue Secte heimlich zu 
denunciren. Darauf erging aus dem Chur— 
fürſtlichen Kirchenrath ein Schreiben an die 
Univerfität, Erkundigung einzuziehen, wer die 
Pietiſten, was ihre Lehre, ihr Thun und ihre 
Sitten wären? Dieſer Befehl nun wurde 
Veranlaſſung, die Wuth zu offenbaren, mit 
welcher man bisher den Beyfall, den die Vor— 
leſungen des frommen Franke erhalten, _gefe: 
hen hatte; und ſie offenbarte ſich auf eine em— 
pörende Weiſe. Anſtatt den Franke etwa zu 
befragen über ſeine Abſicht und ſeine Lehre, 
brachte die theologiſche Facultät durch allerley 
Schändlichkeiten Zeugen wider ihn und ſeine 
Genoſſen auf, die zum Theil aus jenen ſchlech— 
ten Studenten erwählt ſeyn mochten; man 
vernahm dieſe über Artikel, und ihn ſelbſt über 
64 andre inquiſikoriſch. Franke, deſſen from— 
mes Gemüth durch ein ſo ſchlechtes Betragen 
bewegt werden mußte, der aber nicht genug 


154 


die Rechte kannte, um ſich gehörig felbft zu hel⸗ 
fen, wandte ſich vertrauungsvoll an den Tho⸗ 
maſius, der die Unwürdigkeit ſeiner Gegner 
aus eigner Sache kannte, und verlangte von 
ihm ein rechtliches Bedenken, ob man mit ihm 
nach gemeinem Rechte verfahren ſey? Thoma⸗ 
ſius nahm keinen Anſtand, obgleich ſeine eigne 
Lage kritiſch genug war, dem unſchuldig Ver⸗ 
folgten zu rathen und zu helfen, und ertheilte 
ihm ein »Responsum,« worin er das Betragen 
der theologiſchen Facultät nicht nur dreiſt mit 
allen den ſchwarzen Namen brandmarkt, die 
es verdient, ſondern auch zeigt, daß jeder 
Schritt in dieſer Sache nicht nur den Charac— 
ter edler Männer ſchände, ſondern auch den ge— 
meinen Rechten gänzlich zuwider ſey. Er be— 
weiſet ihnen aus den Acten, daß fie, die An: 
kläger der Pietiſten, ſich nicht entblödet, ihre 
Richter zu ſeyn; daß ohne Judicia ſogleich 
widerrechtlich mit der Special-Inquiſition an: 
gefangen, da dies unerhört ſey und ſie gar 
kein Corpus delieti beygebracht; daß die Arti: 
kel lächerlich, gottlos, impertinent und heimtü⸗ 
ckiſch ſeyen u. ſ. w.; ja, er giebt zu verſtehen, 
daß zwey Zeugen, die eigentlich nur Klatſche⸗ 
reyen ausgeſagt hatten, den Acten nach von 


135 


Carpzob und Alberti und Pfeifer inſpirirt ge: 
weſen. Und dieſem Bedenken ſetzte er kühn 
ſeinen Namen vor. 

Wie dieſes Bedenken aber yo feine Geg: 
ner gewirkt haben mag: das braucht nicht ges 
ſagt zu werden; und was ſie dawider einwen— 
den konnten, iſt auch leicht zu vermuthen: es 
ſey ſchon ein Beweis für Frankes ſchlechte Ga: 
che, hieß es, daß er ſich an einen ſolchen be⸗ 
kannten Verläumder, wie Thomaſius, gewen— 
det habe! Dieſer aber that nichts, ihren 
Grimm zu beſänftigen. Er las vielmehr ſein 
Collegium über die Vorurtheile immerfort, 
und gab ſeinen Feinden, die durch eine Menge 
Späher und Horcher auf ihn lauern ließen, 
wol manche Gelegenheit zum neuen Ärger. 
Endlich, als er ſeinen Zuhörern das Weſen 
der Heucheley beſchrieb und ihnen eine Menge 
Kennzeichen angab, woran ein Heuchler zu un⸗ 
terſcheiden ſey, ſo fühlten ſie ſich dadurch aber— 
mals ſo ſehr getroffen, und zugleich ſchienen 
ihnen dieſe Außerungen des Thomaſius zu ei: 
net neuen Anklage ſo geeignet, daß ſie im An— 
fange des 1690ſten Jahrs beſchloſſen, fie nicht 
länger zu verſchieben. Dieſe Kennzeichen ſind 
auch in der That ſo deutlich, was Thomaſius 


136 f 


auch gar nicht leugnet, von feinen Gegnern 
entlehnt, daß ein jeder an ihnen das Bild er— 
kennt, zu welchem ſie geſeſſen hatten; ja ſie 
ſind ſogar in den Ausdrücken entworfen, deren 
fie ſich gegen ihn, oder er ſich gegen fie 
bedient. An ihren Früchten follen die 
Heuchler zu erkennen ſeyn, und zu dieſen 
Früchten rechnet er z. B., daß ſie ihre Laſter 
für Tugend geben, und durch ihre Rachgier 
Gottes Ehre befördern zu wollen lügen; »daß 
ſie der heiligen Schrift, die alleine die Richt⸗ 
ſchnur des wahren chriſtlichen Glaubens und 
der Gottesfurcht ſeyn ſollte, eine andre Ne— 
ben Richtſchnur an die Seite ſetzen, nemlich 
menſchliche Autorität, oder von Menſchen ger 
machte Glaubensbekenntniſſe, z. B. die Augs⸗ 
burgiſche Confeſſion, die ſogenannte kormulam 
concordiae und was des tollen Zeuges mehr 
möchte ſeyn;« daß ſie die, welche andrer Mey⸗ 
nung wären, verfolgten; daß ſie die wahren 
Chriſten, welche auf die Ausübung chriſtlicher 
Tugend drängen, als ihre Widerſacher be— 
ſchimpften, ſie z. B. Pietiſten nennten, ſie bey 
dem Volk verhaßt zu machen ſuchten; daß ſie 
mit groben Lügen die wahren Chriſten ange— 
ben, fie durch das Zeugniß ihrer Jünger und, 


137 
Stipendiaten beweiſen wollten, die fie als 
Emiſſaren in die Lectionen ihrer Gegner ſen— 
deten u. ſ. w. Bey Allem dieſen ſuchte er 
Stellen aus dem N. T. als Beweiſe anzufüh⸗ 
ren, obwol es des Beweiſes nicht bedurfte. 
Seine Gegner aber, fobald ihre Horcher ihnen 
dieſe Außerungen des Thomaſtus hinterbracht 
hatten, ſendeten »im heftigen Eifer über die 
in ihren wertheſten Perſonen verletzte Ehre 
Gottes« eine Anklage wider ihn nach Dres: 
den, worin fie anführten, daß er in feinen Bor: 
leſungen von den Borurtheilen, wider feinen 
Beruf, die heilige Schrift eigenes Gefallens 
nach feinem Kopfe erkläre, das Pietiſtiſche Un: 
weſen ungeſcheut vertheidige, und daß er die— 
ſes Alles ſeinem Gebrauch nach in deutſcher 
Sprache thäte, damit der gemeine Mann deſto 
mehr dadurch geärgert werden möchte. 9 Was 
Mies vom Oberconſiſtorio aus auf dieſe Ankla— 


* Ihomafius hat im Zken Theile der gemiſchten 
Händel die Vorleſungen von den Vorurtheilen 
ziemlich ausführlich mitgetheilt. Die 2 Beſchul⸗ 
digungen der Sekte Theologen aber paſſen 
nur allein auf die Vörlefüng, die er den roten i 

x Februar 1690 hielt, und von der wir die Ausg: 


* 


züge geliefert haben. 2 


138 


ge erfolgte, das hängt mit den Folgen eines 
andern Handels, der ſich unterdeß entſponnen 
hatte, ſo genau zuſammen, daß wir dieſen erſt 
erzählen müſſen, ehe wir es anführen können. 
Dieſer Handel war folgender. i 

Im Jahre 1689 vermählte ſich Herzog 
Moritz Wilhelm zu Sachſen ; Zeig mit der 
Prinzeſſin Maria Amalie, Friedrich Wilhelm 
des Großen, Churfürſtens zu Brandenburg 
Tochter und Wittwe des Herzogs Carl von 
Mecklenburg Güſtrow. Politiſche Berhältniffe 
zwiſchen dem ſächſiſchen Churhauſe und den 
fürſtlichen Häuſern machten auch von dieſer 
Seite die Verbindung dem Herzog Moritz 
wünſchenswerth; aber eben dieſelben verur— 
ſachten, daß man ſie am Churhofe ſehr ungern 
ſahe. Weil man indeß mit Brandenburg eine 
friedliche Nachbarſchaft zu erhalten wünſchte, 
ſo wagte man nicht, ſich der Vermählung öf— 
fentlich zu widerſetzen; aber man erwartete 
und hoffte, daß die Theologen, hinter deren 
geiſtliche Maske die Politik ſo gern und ſo oft 
ihr weltliches Angeſicht verbarg, im heiligen 
Eifer dasjenige zur Ehre Gottes verlangen 
| würden, was man dem Vortheil des Churfürſten 
ſo zuträglich hielt. Nemlich Herzog Moritz 


139 


war ein Zweig des ächtlutheriſchen Churhau— 
ſes; die Prinzeſſin Maria Amalie hingegen 
war der reformirten Kirche zugethan, und die 
Sächſiſchen Theologen ſahen ſich ſchon ſeit 
langer Zeit an als die beſtellten Pfleger des 
Haſſes der Lutheraner gegen die Reformirten 
für ganz Deutſchland. Dennoch erſchien erſt 
in der Michaels meſſe ein unbedeutendes Büch— 
lein, unter dem Titel »der Fang des edlen 
Lebens durch fremde Glaubens-Ehe,« das aber 
nicht einmal von einem Sächſiſchen, ſondern 
von einem Brandenburgiſchen Unterthanen, 
| Philipp Müller, Probſt zu Magde⸗ 
burg, geſchrieben war. Der Verfaſſer hat: 
te ſich ſo wenig, als der Verleger genannt, 
und auch die fürſtlichen Perſonen, gegen die 
es gerichter war, wurden verſchwiegen, aber 
der Menſch iſt noch an vielen andern Dingen 
kenntlich, als an dem Namen, und ein Fürſt 


noch mehr als ein gemeiner. Der Verfaſſer 
erklärt ſich darin aufs heftigſte gegen die Ehen 
ungleicher Glaubensgenoſſen, und giebt mans 
cherley Entſcheidungen, wie man ſich zu verhal: 
ten habe, wenn man unchriſtlich genug geweſen 
iſt, ſich in Verbindungen der Art einzulaſſen. 
Aber die Schlechtigkeit ſeiner Principien, die 


149 


Verworrenheit feines Räſonnements und die 
Unbeholfenheit und Dunkelheit ſeiner Schreib— 
art ) würden ſchwerlich dem Thomaſtius eines 
Gegenworts würdig geſchienen haben, wenn 
nicht die Sache, von welcher die Rede war, 
ſo viel Aufſehen gemacht und die Aufmerkſam⸗ 
keit beyder Confeſſionsberwandten auf ſich ger 
zogen hätte. Bey feinen liberalen Grundfägen 
aber, nach welchen er jene Vermählung gewiß 
) Der Gang wee zur dieſem Bu⸗ 
che iſt wirklich merkwürdig. Der Reale 


geht von dem Spruche aus: 1 keiner lebt 


ihm ſelber u. fü w. und ſchärft. es 
aufs kräftigſte ein, daß auch es ni 
ſem Geſtändniſſe ausgeſchloſſea wären. Bey 
dieſer Betrachtung fällt ihm ein Surſt ein, der 
ſeine Tochter mit einem katholiſchen Prinzen 
nicht habe verheyrathen wollen. Daraus folgt 
denn, daß unter die Hinderniſſe der Ehe, auch 
der Unterſchied der Religionen gehöre. Dies 
bringt ihn natürlich auf den Gedanken, davon 

. die Urſachen aufzuſuchen; und das geſchieht 
denn auch. — Mancher Schriftſteller ſoll um 
den Anfang verlegen ſeyn: der Fehler 

— liegt nur da, daß ſie den Uebergang nicht 


verſtehen! 


14 
geen fah,: konnte es dem Thomaſius nicht gleich⸗ 
gültig ſeyn, wie man darüber dachte, und Mül⸗ 
lers Schrift gab ihm nur die Veranlaſſung, 
darüber ein kräftiges Wort zu ſagen, weil er 
wußte, daß bey gewiſſen Stimmungen der Ge— 
müther auch das ſchlechteſte und gehäffigfte 
| Produkt brgierig geleſen wird, und nicht ohne 
Einfluß bleibt. Daher ſchrieb er »Erörterung 
der Ehe und Gewiſſens⸗Frage: ob zwey fürſt⸗ 
liche Perſonen im römiſchen Reiche, deren eine 
der Lutheriſchen, die andere der Reformirten 
Religion zugethan iſt, einander mit guten Ge⸗ 
wiſſen heyrathen können? Auf Veranlaſſung 
einer fameuſen Schrift, derer Titel: Fang des 
edlen Lebens durch fremde ‚Glaubens: Ehe,« 
f Nachdem er ſich das Recht, als Juriſt über 
dieſe Frage zu urtheilen, nicht ohne bittern 
Spott vindicirt hat, ſpricht er von den Unter⸗ 
ſchiede der Religionen, von den Spaltungen 
der chriſtlichen, von dem Verfahren der erſten 
Kirche, bey ſolchen Vorfällen, von dem lir: 
fprunge der Spaltung zwiſchen den Proteftan: 
ten, als welche im Glaubensfundamente Eins 
wären, und eben nicht Urſache hätten, ſich ‚ge: 
genſeitig zu verdammen, und beſtimmt dann 


genau die Gränze feiner Unterſuchung, nemlich, 


142 
ob eine ſolche Ehe zwiſchen Lutheranern und 
Reformirten mit gutem Gewiſſen vollzogen 
werden könne. Er erklärt dabey ausdrücklich, 
das eine andre Frage, ob ſie vortheilhaft, klug | 
und nützlich ſey? von ihm unerörtert bleiben ö 
ſolle, und durch dieſe Erklärung hoffte er den 
Unwillen des Churſächſiſchen Hofes zu vermei⸗ 
den. Alsdenn bejaht er die Frage gradezu, 
und zeigt, daß eine ſolche Ehe göttlichen und 
menſchlichen Rechten gemäß fey, daß die Für⸗ 
ſten hierin nicht von ihren Theologen abhin— 
gen, daß die Stellen der Bibel, welche in Mül. 
lers Schrift dawider angeführt waren, nicht 
paßten, und widerlegt endlich ber e ſo 
weit ſie hierher gehörte. 
Während er dieſe Schrift ausarbeitete wur⸗ 
de ihm von einem vornehmen Refotmirten ei. 
ne Disputation “) von einem Wittenbergiſck en 
Theologen, D. Caspar Löſcher, gezeigt, in wel⸗ 
cher dieſer die Unverſchämtheit hatte, nebſt 
vielen andern abgeſchmackten Dingen, die Ne: 
formirten zu beſchuldigen, ſie lehrten in ihrem 
Catechismus, es ſey ihr einziger Troſt im Le: 
ben und im Tode, daß ſie nicht zu glauben 


) De devitandis haereticis. 


143 


brauchten, Chriſtus ſey für fie geſtorben; und 

im heiligen Eifer hinzu zu ſetzen: der Herr 
ſchelte dich Satan! Ein Blick auf die erſte 
Frage des Heidelberger Catechismus überzeug— 
te den Thomaſius ſo bündig von der groben 
Lüge des Manns, daß er ſeiner eignen Ueber⸗ 
zeugung kaum glauben konnte. Voll Schaam 
und Arger über die Frechheit, mit der Löſcher 
den Satz völlig umgedreht hatte, feste er fox 
gleich eine heftige Stelle gegen ihn in ſeine 
Schrift. Er nannte zwar weder ihn noch ſein 
Buch; aber er ſprach ſo würdig ſein empörtes 
Herz aus, und führte ſeinem Gegner ſo man— 
che Stelle des N. T. zu Gemüthe, daß dieſer 
Rauf Rache denken mußte, um darin feine 
Schmach zu erſticken. Denn zu feiner Ber: 
theidigung wußte Caspar nichts anzuführen, 
als die elende Ausflucht, er habe die Wanner 
tion nicht ſelbſt gemacht, 

Gegen das Ende des Jahrs ließ Thoma⸗ 
ſius das Buch drucken, und widmete es dem 
Herzog Moritz. Dieſer ließ ihn ſogleich zu ſich 
kommen, erzeigte ihm viele Ehre, und ließ ihm 
»ein recht fürſtlich Präſent von hundert 
Thalern« auszahlen. Aber ein noch größeres, 
von 100 Species-Ducaten, erhielt er von Ber: 


144 


lin, obgleich er nicht einmal ein Exemplar an 
den Churfürſten geſandt hatte. Dies letzte 


kann als Beweis dienen, daß Thomaſius blos 


aus Wahrheitsliebe und Uleberzeugung dieſe 
Eheſache vertheidigte, und nicht etwa in der 
Abſicht, wie man wol vermuthen mochte ſich 
das Brandenburgiſche Haus geneigt zu machen, 


und ſich für den Fall der Noth einen Ausweg 


zu eröffnen, wiewol auch dies keinen Tadel 


verdienen würde. Die Leipziger und Witten⸗ 


berger Theologen hatten die Sprache des Tho⸗ 
maſius nur mit Schmerzen ertragen; dieſe 
Schmerzen hatten ſich vermehrt, wie fie die 
Belohnungen erfuhren, die er für eine Schrift 
wider einen ächtlutheriſchen Theologen erhal⸗ 
ten hatte; aber am größeſten wurden ſie, als 
man in Berlin entdeckte, Müller ſey Verfaſſer 
von dem Fang des edlen Lebens, ihn deßwe⸗ 
gen ohne Weiteres nach Spandau führte, und 
in der Bekanntmachung dieſes Vorfalls die 
Schrift des Thomaſius ſehr rühmte. Sie rech⸗ 
neten 1 ihm die Verhaftnehmung Müllers zu, 2 
19 0 achte⸗ 

) Dazu hatten fie nach dem Erzählten bienbar- 
feinen Grund, wol aber verdankte Müller im 
Jahre 1691 dem Thomaſtus ſeine Beſreyung. 


Wenig: 


145 


achteten ſich für verbunden, »zur Beförderung 
göttlicher Ehre und zur Vertheidigung ihrer 
formulae concordiae ihn wenigſtens in gefäng— 
liche Haft zu bringen,« und, ſetzt er hinzu, 
»fie würden einen Faſt-, Buß- und Bettag 
wider mich ausgeſchrieben haben, wenn ſie nur 
gedurft hätten.« Man hatte jetzt mehr Hoff: 
nung, als je, ihn zu ſtürzen: einmal war das 
Oberconſiſtorium fo oft des Thomaſius wegen 
von mehreren Seiten behelligt, daß es endlich 
wol mißtrauiſch gegen ihn werden mußte; 
zweytens war ein Carpzob, Samuel Benedict, 
Mitglied deſſelben, und ſein Haß gegen den 
Thomaſius war bekannt; und drittens war der 
Einzige, der den Tho maſtus bisher ſoweit ge⸗ 
ſchützt hatte, daß man nicht längſt widerrecht— 
lich mit ihm verfahren war, der Oberhofmar— 
ſchall Haugwitz, durch ſeine letzte Schrift gegen 
ihn aufgebracht, und hatte es laut geſagt, 
»Thomaſius habe ſich den Teufel reiten laſſen, 
daß er die unkluge Ehe des Herzogs Moritz 
vertheidigt habe, und er verdiene dafür nach 


Wenigſtens übergab dieſer dem Churfürſten 
deßwegen eine Supplik, und nicht lange nach» 
5 ber wurde Müller dem Gefängniffe entlaſſen. 


K 


146 

dem Königsſtein geführt zu mwerden.« ) Die 
Leipziger Theologen wollten lieber hinter der 
Decke bleiben, theils weil es da auf jeden Fall 
ſicherer war, theils auch, um den Wittenber— 
gern Gelegenheit zu laſſen, ſich als würdige 
Verbündete zu beweiſen. Dieſe wagten daher 
die Anklage, in welcher fie zwar auch anführ: 
ten, daß er wohlverdiente lutheriſche Theolo— 
gen in ſeiner Schrift gröblich beleidigt und den 
Reformirten geſchmeichelt, und daß er dadurch 
ein Brandenburgiſches Interdict gegen die Unis | 


) Als dieſer Miniſtex⸗ nach dem Tode Johann 

Georgs IV., 1694, ſeine Stelle niederlegen und 
ſich aus Sachſen wegbegeben mußte, ſo ſagte 
Thomaſins, wenn er jetzt noch von dem r 
urtheile der verborgenen göttlichen Gerichte be⸗ 
fangen wäre, ſo würde er ſagen, der Minis 
ſter ſey darum von Gott geſtraft, weil er we⸗ 
nigſtens causa sine qua non ſeiner Verjagung 
geweſen ſey: aber jetzt achtete er ſich ihm per: 
bunden, und bedauere ſein Unglück. — Indeß 
ſcheint es, daß Thomaſius im Grunde doch 
überzeugt war, daß die Zulaſſung feiner Ver— 
treibung ein Körnchen in die Waage der rä— 


chenden Nemeſis gegen den Miniſter geweſen. 


147 


verſität Wittenberg veranlaßt habe; aber der 
Hauptpunkt war die Beſchuldigung, wofür ſie 
gar keinen Beweis würden gehabt haben, wenn 
es dazu gekommen wäre, daß er die hohen 
Vorfahren ſeiner Churfürſtlichen Durchlaucht 
ſchändlich geläſtert habe.) 

Dieſe Anklage kam mit der der Leipziger 
Theologen wegen des Collegiums von den 
Vorurtheilen, von der wir oben ſprachen, zu 
gleicher Zeit in Dresden an. Darauf erließ 
das Oberconſiſtorium ohne Weiters auf die 
Eingabe der Leipziger am 10. May einen Be— 
fehl an die Univerſität, den Thomaſius unge⸗ 
ſäumt vot ſich zu fodern, ihm das Mißfallen 
des Churfürſten über feine bisherigen Schritte 
zu bezeugen, und ihm bey einer Strafe von 
200 Rggfl. alle und jede öffentliche und Pri— 
vatvorträge zu unterſagen, wie auch die 
Herausgabe irgend einer Schrift zu verbie- 
ten. Auf die Beſchuldigungen der Wit— 
tenberger hingegen ſoll befohlen ſeyn, ſich ſei— 

) Es iſt gunz unbegreiflich wie fie die Unver— 
ſchämtheit haben konnten, ſo etwas zu ſagen. 

In dem Buche kommt nichts vor, was dahin 


5 gedeutet werden könnte. 


© 
9) 


148 


ner Perfon zu verſichern. Dieſen letzten Be⸗ 
fehl hat Thomaſius aber nicht geſehen, denn. 
das frühzeitige Triumphjauchzen ſeiner Gegner 
rettete ihn. Nemlich ſein Schwager, der Li— 
rentiat Rechenberg, der auch fein Lehrer gewe— 
fen, war Rector der Akademie. Deßwegen ge: 
brauchte man die Vorſicht, dieſem nur den erſten 
| Befehl mitzutheilen, den letzten aber, auf daß 
Thomaſius nicht gewarnt werden möchte, zu 
hinterhalten, und ihn erſt, wenn er vor Ge— 
richt erſchiene, zu übergeben, damit er alsdann 1 
deſto ſicherer in Verhaft genommen werden 
könnte. Thomaſins hatte bisher mit ſeiner 
Familie allein von Vorleſungen und Schrif⸗ 
ten gelebt, aber ſchon im Februar war 
ihm der letztere Erwerbzweig abgeſchnitten. 
Er hatte ſich nemlich verlauten laſſen, er wolle 
ſeine Monate dem Heren Maſius dediciren, 
und dieſer, der nicht viel Gutes von ihm er⸗ 
warten mochte, wirkte durch den Dänis 
ſchen Agenten in Dresden den Befehl wider 
ihn aus, daß er Nichts ohne Leipziger Cenſur 
ſollte drucken laſſen: in Leipzig aber durfte er 
nicht hoffen, etwas cenſirt zu bekommen. Als 
er daher jetzt Nachricht erhielt von dem einen 
Gebote, wodurch ihm auch die zweyte Nah— 


149 


cungsquelle auf einmal verſtopft wurde, und 
das andre wol ahnden mochte, ſo beſchloß er, 
ſogleich, dieſem zuvor zu kommen. Er ſchrieb 
deßwegen an die Univerſität: er wolle eine 
kleine Reiſe machen; man möchte ſein Außen— 
bleiben nicht übel nehmen. Seine Gegner, die 
vermutheten, er ſey an den Hof gegangen, 
und wußten, was er daſelbſt zu erwarten hatte, 
hielten ſich ihrer Beute gewiß; er aber ging 
nur nach Zeitz, um von dem Herzog Mori 
und ſeiner Gemahlin Abſchied zu nehmen, kehrte 
dann zurück und reiſete abermals ab, ehe ſie 
ſeine Rückkunft ahndeten. Er hatte es längſt 
bey ſich ausgemacht, ſich, wenn es nöthig wer— 
den ſollte, in den deutſchen Staat zu begeben, 
der fo oft, zu feinen Glück und zu feiner Grö— 
ße, dem unſchuldig Verfolgten eine ſichere Frey— 
ſtatt und einen gaſtfreundlichen Aufenthalt ge: 
währte, weil er es weiß, daß er auf einem fee 
ſtern Boden ruht, als die Einheit der Mey— 
nungen und des Glaubens — in den Bran⸗— 
denburgiſchen. Er ſetzte ſich alſo auf die Poſt 
nach Berlin; und ehe ſeine Feinde es gewahr 

wurden, wie ſie von ſich ſelbſt hintergangen | 
waren, und ihn verfolgen laſſen konnten, hatte 
er ſchon die Gränze des Landes erreicht, deſſen 


150 1 


edle Regierung ihn ſchützte gegen ihre ohnmäch⸗ 
tige Wuth. ) Darauf ließ das Oberconſiſto— 
rium in Dresden durch den Schöppenſtuhl in 
Leipzig nach den vorgelegten Arten einen Aus: 
ſpruch thun, ob Thomaſius die Verhaftung ver— 
dient habe? und da dieſer Ausſpruch bejahend 
war, ſo ließ es ſeine Mobilien in Beſchlag 
nehmen; feine Familie mußte in Leipzig zurüd: 
bleiben. | I 
Sobald Thomaſius in Berlin angekommen 
war, wandte er ſich an die Churfürſtliche Re— 
gierung, ſtellte ihr feine Lage por, und bat um 
ihren Schutz, und um die Erlaubniß, ſich in 
Halle nieder laſſen, und der ftudirenden Ju— 
gend, die ſich etwa dort bey ihm verſammeln 
möchte, Vorleſungen halten zu dürfen. Chur— 
fürſt Friedrich III., der es von ſeinem großen 
Vater her wußte, daß es nicht eben die ſchlech— 


) Thomaſius erzählt, er habe ſeine Abreiſe gar 
nicht heimlich betrieben; er habe 4 Tage vor 
ſeiner Reiſe nach Zeitz die Poſt beſtellt, und 
öffentlich von einigen Freunden Abfchied ge⸗ 
nommen. Dennoch hatten ſeine Feinde nichts 
gemerkt. Daher war er in ſpätern Jahren 
überzeugt, daß Gott ihre Angen verblendet 
und ihn ſichtbarlich geſchützt habe. 


151 


teſten Unterthanen ſind, welche ihres Glaubens 
und ihrer Meynungen wegen vertrieben wer— 
den, der von dem liberalen Geiſte beſeelt wur— 
de, den Preußens Genius allen ſeinen Regen— 
ten einhauchte, und der dem Thomaſius (der 
einen bedeutenden Freund, Pufendorf, in Ber— 
lin hatte) ſchon zum voraus geneigt war, 
nahm keinen Anſtand, ihm ſeine Bitte zu be— 
willigen. Mit der Erlaubniß, ſich in Halle 
niederlaſſen und Collegia leſen zu dürfen, mach— 
te er ihn zu ſeinem Rath mit einem Gehalt 
von 500 Thlr. jährlich. Thomaſius ſchrieb 
darauf nach Leipzig, daß er dem Befehl des 
Dresdener Oberconſiſtoriums gehorchen, und 
in Leipzig keine Vorleſungen halten wolle. 
Aber im April kündigte er in einem lateini— 
ſchen Programm *) der Welt an, daß er nach 
Trinitatis in Halle Vorträge anfangen würde, 
als wohin er Alle einlud, die daran Theil zu 
nehmen Willens ſeyn möchten. Dieſe Vorleſungen 
fing er denn auch wirklich an, und ſie waren der 
Grund, daß zu Halle, wo bisher nur eine Rit— 
terakademie, wie man die Schule nannte, gewe— 
ſen war, jene berühmte Anſtalt entſtand, der 
) Intimatio prima lectionum philosophicarum et 


jaridicarum publicarum et privatarum. 


152 


Friedrich III. — als König J. — die Rechte ei⸗ 


ner Unjverſität gab, und von der Deutſchland, 
berechtigt durch die väterliche Fürſorge Frie⸗ 
dtich Wilhelms III., Vieles erwartet für das 


Wahre und das Gute und das Schöne! Wie 


es aber mit ſeinen erſten Vorleſungen in Halle 
ausgefallen iſt, das wollen wir den Thoma. 


* 


ſius ſelbſt erzählen laſſen. Nach mehrern N 


Jahren redet er ſeine Gegner unter andern 
alſo an: ) »Leget doch einmal eure Blind— 
heit ab, und fanget an zu erkennen, daß Gott 
wider euch ſtreitet, und daß Er Thomaſium 
wider Euch in Schutz genommen, auch alle 
Eure Anſchläge wider ihn zu nichte gemacht. 
Sehet, da ihr ihn aus feinem Vaterland ver: 
jagetet, da ihr durch D S. B. Carpzovium ſo 
heftig wider ihn ſchriebet, *) ſprach Gott zu 


) In der Apologie, die 1696 erſchien. 

9 Dieſer Carpzov, von dem wir ſchon oben 
ſagten, daß er ein Mitglied des Conſtiſtoriums 
geweſen, oder vielmehr Aſſeſſor, ſollte, wie 
ſein College der ehrwürdige Spener, ſeine Ge— 
dünnen über den Pietismus dem Churfürſten 
eröffnen. Spener that das mit feiner gewöhn⸗ 
lichen liebevollen Beſcheidenheit und Sanft⸗ 


muth, Carpzos hingegen mit dem ganzen Ei⸗ 


153 


ihm: du ſollſt geſegnet ſeyn. Er kam nach 
Halle und fand keine Zuhörer hier; es war 
auch noch lange nicht eine firme und gewiſſe 
Reſolution gefaſſet worden, eine Univerſität ſo 
geſchwinde hier zu ſtabiliren. Wie ſchmählich 
lachetet ihr damals Thomaſium aus und wie 
hämiſch ſpottetet ihr ſeiner, er würde die Af— 
fen hier ausnehmen. Thomaſius aber ver— 
trauete Gott, und ſetzte ſich hieher. Er warb 
keine Studenten herzukommen, ſondern notifi— 


fer der Rechkgläubigkeit, der den Carpzoven a 
eigen war. Bey dieſer Gelegenheit ſuchte er 
den Churfürſten von Neuem gegen »den bes 
kannten böſen Menſchen Thomafius,« den Spe⸗ 
ner ganz aus dem Spiele ließ, zu erbittern, 
und ſchrieb mit dem fürchterlichſten Grimm 
über ihn, damit der Churfürſt von Sachſen 
ſich feiner Beſtrafung wegen an den von Brans 
denburg wenden möchte. Er ſagt unter an: 
dern: ſonderlich hätte D. Thomaſtius, ein no» 
toriſcher Erzböſewicht, dieſen Schwarm (den 
Pietismus) weil er ſehr bequem zur Verwir⸗ 
rung der Edvangeliſchen Kirchen und Akade— 
mien, deren beyder Feind er ſich in ſeinen 
Schand ⸗Chartequen uwe, defendiret. — 
Darauf beziehet ſich dieſe Stelle. 


5 


154 

tirke nur ſeine Ankunft. Ihr machtet ihm von 
dem Anfange feiner Lectionen durch Eure Crea— 
turen ſoviel Hinderniß und Verdruß, als ihr 
nur konntet, er fand ſehr wenig, f die ihm zu 
helfen und Sr. Churfürſtlichen Durchlaucht 
gnädigſte Intention zu befördern ſich angele— 
gen ſeyn ließen; ja es waren etliche ſo offen⸗ 
herzig, daß ſie ihn fragten, ob er denn bey 
Anfang ſeiner Lectionen etliche Auditores in 
Vorrath hätte, denn hier in Halle würde er 
keinen einzigen bekommen. Thomaſius aber 
ließ ſich nichts abſchrecken, ſondern fing ſeine 
Lectionen in Gottes Namen den Montag nach 
Trinitatis A0. 1690 an. Er hatte das erſte 
Mal über 50 Auditores, und hat ſie von da 
an, ſo lange er alleine hier und noch keine 
Reſolution von Aufrichtung einer Univerſität 
gefaſſet geweſen, (welches in die anderthalb 
Jahre ausgetragen,) nie unter zwanzig, wohl 
aber mehr Auditores beſtändig gehabt, die ſei— 
ne Lectionen beſucht, oder ſich ſeinetwegen hier 
aufgehalten. Gott gab Gnade, daß die ganze 
Zeit über, ſo lange er alleine geweſen, kein 
Unfug oder Unglück fürgegangen, oder über 
einige feiner Zuhörer, die ſich bey ihm inferibis 
ren laſſen, das Geringſte wäre geklagt worden. 


155 


So daß ©. Churfürſtliche Durchlauchtigkeit zu 
Brandenburg, als Selbige A0. 1691 aus dem 
Carlsbad hierdurch nach Dero Reſidenz ging, 
und gewahr wurde, daß eine ſolche und ziem: 
liche Anzahl der ſtudirenden Jugend von aller— 
hand Ständen ſich bey ihm eingefunden hat— 
ten, von dato an gnädigſt ſich refolvirten, das 
vorhabende Univerſitäts-Werk feſte zu fegen, 
maſſen von der Zeit an auch andere Herren 
Profeſſores nach und nach her vocirt wurden. « 
Das erſte, was Thomaſius in Halle dru— 
cken ließ, war eine Disputation, die er ſeinem 
neuen Landesherrn widmete, und die von der 
Glückſeligkeit Churbrandenburgiſcher Untertha— 
nen wegen der durch ſcharfe Edicte verbeſſerten 
Stände, handelte. ) Dieſe kleine Schrift 
haucht den Geiſt, von dem von jetzt an mehre— 
re Schriften des Thomaſius einen Anſtrich ha— 
ben — den Geiſt des Pietismus. Aus einigen 
ſeiner frühern Werke könnte es ſcheinen, als 


) Sie war latein und hat folgenden Titel: De, 
felicitate subditarum Brandenburgensium ob 
emendatum per edicta Electoralia statum eccle- 
siasticum et politicum, summis lineis ad um- 
brata, und iſt im erſten Bande feiner Dissertat. 


Academic, die ı8£e. 


156 | 
ob die unſelige Aufklärerey, der ſich unſer Zeit⸗ 


alter um ſo mehr zu ſchämen hat, jemehr es 


ſich darauf brüſtete, für Deutſchland durch den 
Thomaſius ihren cuhmloſen Anfang genommen 
hätte. Und es iſt allerdings wahr, daß der 
Satz, der ihr zum Grunde liegt, und der an 
ſich ganz richtig iſt, von Thomaſius zu: 
erſt ausgeſprochen und befolgt wurde: der 
nemlich, in Religionsſachen ſchlechthin keine 
Autorität anzuerkennen, ſondern alles ſelbſt 
einſehen und unterſuchen zu wollen: aber 
Thomaſius wollte Licht, das leuchtet und 


wärmt, nicht eine kalte Durchſichtigkeit; und 


wenn auch die Aufklärerey mit ihm ihren 


Anfang nahm, fo hat er ihr das Daſeyn nicht 


gegeben. Davon iſt der größte Beweis, daß 
die Frömmigkeit der Pietiſten ſo ganz ſeinen 
Beyfall hatte; und wenn dies für feine Phi⸗ 
loſophie eben kein rühmliches Zeugniß wäre, 
(obwol es mit der wahrſten Philoſophie beſte— 
hen kann) ſo raubt das ſeinem Werth und 
ſeinem Verdienſte nichts. Leugnen läßt es ſich 
freylich wol nicht, daß ihm eigentlich die Wi: 
derwärtigkeiten des Lebens nur ſo empfänglich 
machten für die gottſelige Anſicht der Pieti- 


ſten: aber ohne jene Widerwärtigkeiten würde 


7 


} 1 


197 
er auch vielleicht nie aus ſeiner Jugend Un— 
ſchuld gekommen ſeyn; und religios war er 


immer. Der Menſch und die Welt ſtehen in 


* 


einem ſolchen Verhältniſſe zu einander, daß ſte 
es gegenſeitig um einander verdient haben, 
8 ſie ſich gegen einander äußern: die letzte 
geht ihren ewigen Gang und trotzt des Men: 
ſchen eingreifender Ohnmacht: er aber hat ei— 


ne Zuflucht in ſich ſelbſt, die ihm das Äußere. 


gleichgültig macht. Die Freude zu wirken iſt 
ergötzend; das Bewußtſeyn, es gewollt zu ha: 
ben, genügt. Dies Bewußtſeyn war jetzt des 
Thomaſius Eigenthum; ſpäterhin war es jene 
Freude, deren Außerung wir ſchon gehört. 
Aber zu ſeiner Liebe für den Pietismus 
mag auch feine Weiſe zu philoſophiren nicht 
wenig beygetragen haben. Wer fromm genug 
iſt, ſich Gott und Vorſehung nicht entreißen 
zu laſſen: was bleibt dem bey dem Eclecticis— 
mus, der nichts begründet, übrig, als die My- 
ſtik, in die er ſich vor der Philoſophie ret— 
tet? — In der gegenwärtigen Disputation 
ſpricht Thomaſius von der Nothwendigkeit ei— 


ner Reformation für alle Stände, die er deß— 


wegen, und befonders den geiſtlichen, ſchildert. 
Dann zeigt er, daß im Brandenburgiſchen ſchon 


158 
viel zur Verbeſſerung der beyden Hauptſtände, 


des geiſtlichen und weltlichen — (der dritte iſt 


ihm der Hausſtand) — geſchehen ſey; für je— 
nen durch ein Edict Friedrich Wilhelms des 
Großen, worin er allen Zank und alle Schmä⸗ 
hung der Lutheraner und Reformirten gegen⸗ 
ſeitig ſtreng unterſagt; für dieſen durch einen 


* 


Befehl Friedrichs III. in welchem das Duelli⸗ 


ren verboten wird: das letzte mußte dem Tho⸗ 
mafius bey der Gründung einer neuen Univer— 
ſität — denn fo ſah er Halle ſchon an; er 


nennt den Churfürſten den Stifter, und dieſe 
Disputation die erſte Frucht der Univerſität — 


allerdings höchſt wichtig ſeyn: wegen beydes 
preif’t er die Brandenburger glücklich. Bey 
dem erſten Edicte hatte er auch die Frage auf⸗ 
geworfen, ob man einem Lutheraner verbiethen 
könne, reformirte Predigten zu beſuchen? und 
hatte ſie dahin beantwortet, daß ein ſolches 
Verbot nicht nur wider die Befehle des Chur— 
fürften ſeyn, ſondern auch der lutheriſchen Res 


ligion — (welche, Falls ſie die einzig wahre 


wäre, ja wohl vor aller Anſteckung ſchützen 
müßte) — eben nicht zur Ehre gereichen wür— 
de. Er hatte dabey einige harte Ausdrücke 
gebraucht, z. B. daß das hölzerne Joch des 


159 


Pabſithums durch das Lutherthum nur in ein 
eiſernes verwandelt ſey. Dies gab Veran- 
laſſung, daß er ſogleich wieder in Halle auf 
die Kanzeln gezogen, und daß heftig wider ihn 
gepredigt wurde, wie aus einer Vertheidigung 
der Disputation erhellt, die er wenig Tage 
nachher drucken ließ, und worin er ſeinen Geg— 
ner mit den Worten Sirachs abwies: verſtehſt 
du die Sache, ſo unterrichte deinen Nächſten, 
wo nicht, ſo halt dein Maul zu. 

Mit demſelben Anſtrich von Pietismus 
ſind auch die drey letzten Monate feines our: 
nals geſchrieben, die wir eben deswegen nicht 
eher angeführt haben, und auch deßwegen 
nicht, weil ſie unordentlich erſchienen, und weil 
das Decemberſtück, durch die Unruhen, in wel⸗ 
chen Thomaſius lebte, erſt gegen das Ende 
dieſes 169o0ſten Jahrs ausgegeben wurde. Ein 
großer Theil der darin recenſirten Schriften 
betrifft die Religion, und manche ſogar den 
Streit der Pietiſten mit ihren Gegnern. Aber 
auch dem Übrigen ſieht man es an, daß es von 
einem Manne geſchrieben iſt, der in der Re: 
ligiofität der Pietiſten, wenn die regſame Le— 
bendigkeit feines Geiſtes auch der frommen Er: 
gebung nnd der gottfeligen Beſchauung minder 


— 


160 


fähig war, *) den ſchönſten und ſicherſten Weg 
zum Heil der Welr erblickte. Daher ſind ei⸗ 
nige Außerungen erklärlich, die ſonſt bey ei⸗ 
nem Mann von einem ſolchen Geiſte, wie Tho⸗ 
maſius beſeelte, unerklärlich bleiben würden. 
Wir ſagen erklärlich, denn wir wollen nicht 
entſchuldigen, was nicht zu entſchuldigen iſt. 
Aber auch ſo ſind ſie es nur dadurch, 
daß jene Überzeugung des Thomaſius, von der 
Heilſamkeit der Pietiſtiſchen Anſicht, noch neu 
war: denn jede neue Überzeugung verdunkelt 
Alles andre durch den Glanz, mit welchem ſie 
ſelbſt hervottritt; und dadurch, daß Thomaſius 
die Dinge, über welche er ſprach, nicht genug 
kannte. Dahin gehört folgende Außerung, 
durch welche er einen Autor gegen den Huetius 
vertheidigt, der ihn mit großem Recht, und 
noch lange nicht hart genug, angegriffen hat⸗ 
te. »Es iſt die Frage, ob der Verfaſſer deß⸗ 

| wegen 


4 


*) In der Geſchichte der Weisheit und Thorheit 
ſagt Thomaſiue: ſeine Neigung ſey mehr für 
den Democrit, aber ſein Sinn ſey für den He⸗ 
raclit; denn es ſey menſchlich, die Thorheit 
der Welt zu belachen, aber chriſtlich, fie zu 


beweinen. 


161 


wegen eine ewige Schande verdiene, daß er 
geſagt, es würde wenig Schade ſeyn, wenn 

gleich alle Heydniſche Poeten und Philoſophen 
mit Feuer verbrennt würden. Ich getraue mir 
gar leichte zu behaupten, (freylich zu behaup— 
ten; aber die Behauptung zu beweiſen, wäre 
ihm wol unmöglich geweſen!) daß, wenn wir 
die Acta Apostolorum und die Kirchengeſchichte 
bis auf Conſtantin vollſtändig hätten, wir alle 
heydniſche Philoſophen und Dichter, auch den 
Livius und Tacitus, wenn wir gleich dieſelben 
vollkommen hätten, darum geben follten.« 
„Denn, « ſetzt er hinzu, und damit beweiſ't er 
ſeinen Glauben an ein Höheres, nach welchem 
das Gute nicht verlohren geht, wenn es zu 
verſchwinden ſcheint, »die Philoſophie wäre 
deßhalben nicht untergegangen, wenn die heid⸗ 
niſchen Philoſophen wären verlohren worden; 
ja«e — und dies erklärt des Thomaſius Ans 
ſicht — »wenn die Bücher dieſer Philofophen 
nicht geweſen, ſo wären nicht ſo viele Ketze— 
reyen in der erſten Kirche entſtanden, ſo hätte 
des Teufels liebſtes Schooskind, die ſcholaſti— 
ſche Theologie, mit der Vereinigung Chriſti 
und Belials nicht ſo viel Schaden in der Chri— 
ſtenheit anrichten können;« und darin hat Tho— 

L 


162 5 
maſtus Recht! Überhaupt ift es die Ruchloſig⸗ 
keit des geiſtlichen Standes, der im blinden 
Secteneifer ſeine ganze Thätigkeit erſchöpfte, 
und das unreligioſe Chriſtenthum des Zeital⸗ 
ters, was um ſo mehr ſeinen Unwillen erregt, 
je ſchönere Tage er von dem Pietismus, ‚ in 
welchem er die Morgenröthe einer i Re⸗ 
ligion ſah, erwarten mochte. u 

Mit dieſem Jahrgange endigte Shomaflus, 
fein Journal, das in der Geſchichte deutſchen 
Literatur beſtändig merkwürdig bleiben, deſſenFol⸗ f 
gen wenigſtens Deutſchland noch empfinden 
wird, wenn es ſelbſt und ſein Verfaſſer auch 
vergeſſen werden. *) „In der Abdankung, « ſagt 


) Sobald Thomaſius das Beyfpiel gegeben hat⸗ 
te, ſo erſchienen noch in dieſem Jahrhunderte 
folgende Zeitſchriften: Monatliche Unterredun⸗ 
gen von Tenzel, 1689, nachher erhielten ſie 
den Titel: Curieuſe Bibliothek. — Ein Un⸗ 
bekannter ſetzte Thomaſtus Gedanken fort, 
aber nur N Monate lang. — Mouvellen 
aus der gelehrten und Curieuſen Welt, 1692, 
von Zenner, der den Titel bald änderte in: 
Parnaß. — Des franzöſiſchen Helicons Monats⸗ 
früchte von Talandern 1696. — Monatliche 


Auszüge von Eccard 1700. — Die gelehrte 


163 


er, daß es vielleicht mit dem erſten Jahre ge: 
ſchloſſen worden wäre, wenn er nicht feinen Geg⸗ 
nern hätte beweiſen wollen, daß ein Mann, 
der Entſchloſſenheit hat und den Schutz ſeiner 
gerechten Sache, ſeine Freyheit gegen jeden 
Angriff vertheidigen und erhalten müſſe; jetzt 
habe er ſie behauptet: und eben deswegen, 
weil die Welt dies eingeſtehe, wolle er keinen 
weitern Gebrauch davon machen. Dann ent— 
ſchuldigt er ſich noch über einzelne Punkte, 
und vindieirt ſich das Recht, was er ausgeübt 
hatte, ſein Urtheil über Bücher zu fällen: in 
gelehrten Dingen, ſagt er, ſollen nicht die 
Stimmen gezählt, ſondern der ſoll gehört wer— 
den, der's verſteht. 2 
Thomaſius dedicirte dieſen Jahrgang ſeir er 
monatlichen Gedanken »allen ſeinen Feinden, 
inſonderheit aber Herrn Hector Gottfried Maſio.« 
In der Zwiſchenzeit nemlich war gegen das 


Welt oder unpartheiiſche Conferentien 1700. — 
Sa die Aufzahlung der Zeitſchriften des folgen: 
den Jahrhunderts dürfen wir uns nicht ein 
laſſen; aber eine Geſchichte derſelben wäre 
ſehr verdienſtlich, und würde den Geiſt dieſes 


Jahrhunderts kennen lehren. 


L 2 


164 


Buch des letztern von einigen reformirten Theo», 

logen ihre Religion, wie es Recht war, ver⸗ 
theidigt. Sie hatten ſich dabey nicht ſelten 
auf den Thomafius. berufen; und Maſtus hat⸗ 
te in feinen Antworten ) heftig auf dieſen ge⸗ 
ſchimpft „ ihn einen Pasquillanten genannt, 
und geſagt, der König von Dänemark habe 


die Monate May und Junius, (worin die 


Schippingſche Schrift abgedruckt und beant⸗ 


wortet war,) verdammt, daß ſie von dem Hen⸗ 


ker öffentlich verbrannt werden ſollten. Dies 
beſtimmte den Thomaſius, einen Gedanken, 
den er ehemals nur ſcherzend geäußert hatte, 
auszuführen, und ſeinen Monaten eine lange 
Zuſchrift an die genannten Herren vor zu ſetzen, 
in welcher er ihnen auf ſeine gewohnte Weiſe 
»die Haut wäſcht,« ihnen ihre Schlechtigkeit 
vorhält, über die angedrohte Verbrennung 
ſpottet, weil ja Maſius »ſeine eigne Arbeit, 
Schippings herrliches Opus, welches in jenen 
Monaten ja auch enthalten, mit verbrennen 
laſſen würde, « und ſich darüber freuet, daß er, 
weil die beyden Stücke noch nicht verbrannt 
wären, das Vergnügen haben konnte, auch ſie 
dem Herrn Maſius zu dediciren u. ſ. w. | 


„) Befonders in feiner Dania orthodoxa. 


165 


Ulnterdeß war die Familie des Thomaſius 
noch immer in Leipzig, und auf feinen Mobi⸗ 
lien ruhete der Beſchlag. Er ſchrieb deswegen 
im September an das Geheimerathscollegium 
in Dresden, legte ihm die Sache von Neuem 
vor, wie auch feine jetzige Beſtallung, und bat, 
da man nicht auf dem Wege der Rechte mit 
ihm verfahren fey, und er ſich zu beweiſen ge: 
traue, man habe ihn mit einer peinlichen An— 
klage fälſchlich berüchtigt, daß man den Bes 
ſchlag von ſeinen Mobilien wiederum aufhe— 
ben, und ihm die Anklage der Wittenberger 
zuſtellen möchte, damit er feinen ehrlichen Na— 
men retten könne. Er erhielt zur Antwort, 
der Churfürſt fey abweſend. Deßwegen, und 
weil er von dem Ausſpruche des Schöppen— 
ſtuhls, er habe die Verhaftung verdient, nichts 
wußte, beſuchte er ſeine Familie in der Meſſe: 
ihm geſchah auch nichts zu Leide. Um aber, 
was er für ein großes Glück des Lebens hielt, 
im Kteiſe der Seinigen leben zu können, fo 
bat er ſeinen Landesherrn, ſich ſeinethalben in 
Dresden zu verwenden. Dies geſchah; aber 
Thomaſius erhielt keine andre Antioort, als 
daß ihm von einigen Hofleuten kund gethan 
wurde, die Acten über ſeine Sache würden 


66 


verſiegelt aufbewahrt: es würde ihn aber kei⸗ 
ner hindern, wenn er ſeine Familie und das 
Seinige ohne Weiters abholte. Dieſes that 
Thomaſius denn auch im Juli 1691, und da 
ein neuer Verſuch, das Urtheil der Schöppen, 
welches er unterdeß erfahren hatte, aufzuhe⸗ 
ben, ebenfalls umſonſt geweſen, ſo ließ er die 
Sache in Ruhe, bis er nach einigen Jahren, 
wie wir alsdann erzählen werden, von Neuem 
gereizt, ſich genöthigt ſah, feine Unſchuld der 
Welt vor die Augen zu legen. | | 
Noch in Leipzig hatte Thomafius eine 
Vernunftlehre gefhrieben. die er ſchon in 
dem großen Collegio, das einen fortlaufenden 
Vortrag aller (dem Juriſten) nöthigen Wiſſen⸗ 
ſchaften enthalten ſollte, zum Grunde gelegt 
hatte. Sein Cenſor aber wollte, wie ſich er⸗ 
warten läßt, ihm die Erlaubniß des Drucks 
nicht ertheilen, unter dem Vorwande, ſie ſey 
ja deutſch geſchrieben; und das wäre nichts. 
Deßwegen war es dem Thomaſius erſt in dies 
ſem 169 1ſten Jahre möglich, fie erſcheinen zu 
laſſen.“) Schon 1621 war eine Logik in deut⸗ 
) Der Titel iſt: Einleitung zu der Vernunft⸗ 
Lehre, worinnen durch eine leichte, und allen 


vernünftigen Menſchen, waſerley Standes oder 


167 


ſcher Sprache unter dem Titel: Kurzer Begriff 
der Verſtandlehre zu der Lehrart, herausgekom— 
men, aber die war, ſie mag es verdient ha— 
ben oder nicht, ſo ſehr in Vergeſſenheit gera— 
then, daß Thamaſius Unternehmen ganz neu 
erſcheinen mußte. In der Vorrede ſpricht er 
theils über die Einrichtung des Collegiums, theils 
über die Gründe, die ihn beſtimmt, dieſes Buch 
zu ſchreiben, und ſo zu ſchreiben, wie er gethan; 
und erzählt dann die Geſchichte eines Werks 
von einem Qartefianer *) gegen feine Einleitung 
in die Hofphilofophie, die er gegen ihn zu ver- 
theidigen ſucht. Er geſteht, daß ſein Werk 
ſelbſt mit dieſer Einleitung ziemlich einerley 
Zweck habe, nur mit dem Unterſchiede, daß die: 
fe die gemeinen Irthümer habe beſtreiten ſol— 
len, jenes aber die Sätze der Wahrheit ſelbſt 
aufſtelle; und weil es für das Collegium 
nur der Leitfaden ſeyn ſolle, ſo würde es nur 


aus Hypotheſen, Definitionen, Axiomen, Pro— 


Geſchlechts fie ſeyn, itändiiche Manier der 
Weg gezeiget wird, ohne die Syllogiſtica das 
Wahre, Wahrſcheinliche und Falſche von ein⸗— 
ander zu entſcheiden und neue Wahrheiten zu 
erfinden. — 


J Rhegini specimen logicae Cartesianae. 


168 


pofitionen und Obſervationen beftehen. End— 
lich geſteht Thomaſius, daß ſeine Vernunftleh⸗ 
re zwar in manchen Stücken andern Philoſo⸗ 
phien nahe kommen dürfe, daß ſie aber doch 
keiner gleich ſey, ſondern die Mitte zwiſchen 
dem Plato, dem Epicur, dem Ariſtoteles und 
dem Carteſius halte. Nach dieſen Geſtänd⸗ 
niſſen möchte man denn allerdings bange mer: 


den und eben nicht viel erwarten; aber, da 


es nicht zu leugnen iſt, daß Thomaſtus ſeit 
ſeiner Hofphiloſophie weiter, obgleich nicht viel 
weiter, gekommen iſt, (wobey Tſchirnhauſens 
Arzeney ziemlich mitgewirkt haben mag) und 
da er zuerſt ſolche Dinge in deutſcher Sprache 
vorzutragen wagte, ſo wollen wir einiges aus— 
heben, was den jetzigen Standpunct des Tho⸗ 
maſius bezeichnen dürfte. Ar 
Ohne ſich mit ſeiner Philoſophie zu den 
bekannten großen Gegenſtänden, wenigſtens 
dem Anſcheine nach, zu erheben, welche die 
Metaphyſik zum Object zu haben pflegte, 
nimmt Thomaſius die Welt und den Men— 
ſchen, wie ſie ihm empiriſch gegeben ſind, mit 
ihren Tugenden und Fehlern, und fängt im 
erſten und zweyten Hauptſtück, wovon jenes 


von der Gelahrtheit überhaupt, dieſes aber 


169 
von der Vernunftlehre beſonders redet, darüber 
an zu räſonniren, zu erklären und zu erläu⸗ 
tern, auf die gewohnte, bekannte und beliebte 
Weiſe. Die Gelahrtheit iſt ihm eine Erkennt⸗ 

niß, durch welche der Menſch das Wahre von 
dem Falſchen und das Gute von dem Böſen 
zu unterſcheiden vermag; um, wie ſich verſteht, 
ſeine und andrer Menſchen Wohlfahrt im ge: 
meinen Leben und Wandel zu befördern. Die 
Vernunftlehre unterweiſet den Menſchen, ſeine 
Vernunft — d. h. dem Thomaſius, die Gedan— 
ken überhaupt in Erkenntniß der Wahrheit — 
recht zu gebrauchen. Aber die Vernunftlehre 
iſt ein Theil der Gelahrtheit, alſo ein Theil 
der Erkenntniß der Wahrheit, und wiederum 
iſt ſie auch ein Inſtrument derſelben, alſo das 
Organ, wodurch dieſe Erkenntniß erkannt wird. 
Bey dieſer weitläuftigen Auseinanderſetzung 
ſcheint dem Thomaſius der Gedanke vorzuſchwe— 
ben: die Wahrheit muß durch ſich ſelbſt er— 
kannt werden. Im dritten Hauptſtücke, von 
der menſchlichen Vernunft und deren Wirkun— 
gen, macht er eine Beſchreibung des Menſchen, 
wie er ſie ſchon früher gegeben hat, und 
kommt endlich durch eine Vergleichung des 
Menſchen mit den Thieren dahin, daß das 


1 


170 


Denken eigentlich den Menſchen zum Menſchen 
mache. Das Denken nun iſt ihm noch, wie in 
der Hofphiloſophie, »ein innerliches Reden von 
den Bildungen, die durch die Bewegung der 
äußerlichen Körper, vermittelſt der andern 
Gliedmaßen dem Gehirn eingedrückt werden. 
Aber er merkt doch, daß es damit nicht gethan 
iſt. Nemlich dort vergaß er anzuzeigen, wel⸗ 
che äußerliche Körper denn durch ihre Bewe— 
gung Bildungen in ſein Gehirn drückten, und 
zwar ſolche Bildungen, daß ſein innerliches 
Reden davon grade dieſe Definition vom Den: 
ken, die er doch wol dachte, wurde. Davon 
ahndet er etwas, und mochte durch Tſchirnhau⸗— 
fen zu dieſer Ahndung gekommen ſeyn. Dep: 
wegen fügt er bald hinzu, daß er auch »dieſe 
innerliche Rede in ſeinem Gehirn empfinde, 
wiewohl dieſe Empfindung viel feiner ſey, als 
die, welche von der Bewegung äußerer Körper 
herrühren; — (aber wo rührte denn dieſe 
her?) — und ſie beſtehe in nichts Anderem, 
als daß er bedenke, daß er denfe,« Da das 
Denken nur vermittelſt der äußern Sin⸗ 
ne geſchieht, fo ſchien dem Thomaſius zu 
dem Bedenken des Denkens ein innerer Sinn 
zu gehören. Zu den äußerlichen rechnet er dar 


171 


her nicht blos die Organe, die man gewöhnlich 
ſo nennt; denn er erklärt ausdrücklich, daß 
man nicht darunter ſolche Sinne verſtehen ſol— 
le, als auch die Thiere haben; ſondern er rech— 
net dazu »eine wirkliche Sinnlichkeit,« worun⸗ 
ter er nichts anders verſtehen kann, als den 
Begriff, der den Objecten gegenüberſteht; der 
innere Sinn hingegen iſt das Wiſſen um je— 
nen Begriff. Wahrheit iſt nun ein innerlicher 
Beyfall des Menſchen, daß ſich etwas ſo ver⸗ 
halte, als er denket. Dieſen Beyfall ſcheint 
Thomaſius zwiſchen die äußern und den in⸗ 
nern Sinn zu ſetzen, und ihn gleichſam aus 
dem Zuſammenfallen beyder entſtehen zu laf: 
ſen. Daher heißt die Wahrheit auch eine Ue— 
bereinſtimmung der Gedanken und der Beſchaf— 
fenheit der Dinge außer den Gedanken. Bey 
dieſem Satze ſetzt Thomaſius hinzu: »Du mußt 
aber nicht fragen, ob der Verſtand mit den 
Dingen, oder die Dinge mit dem Verſtande 
übereinkommen müſſen, ſondern dieſe Harmo— 
nie iſt ſo beſchaffen, daß keins der andern 
Nichtſchnur iſt, ſondern dieſe Harmonie von 
beyden zugleich präſupponirt wird. Die 
Wahrheit iſt nur eins, obwol es viele Wahr— 
heiten giebt. Dies kommt daher: es gibt eine 


f 172 

erſte Grundwahrheit, (primum principium) die 
nicht bewieſen wird, weil ſie keines Beweiſes 
bedarf; ſie wird ſchlechtweg und ohne Weiters 
eingeſehen. Die Grundwahrheit kann nur Ei⸗ 
ne ſeyn; denn wären ihrer auch nur zweye, 
ſo hätten beyde entweder eine Verknüpfung oder 
ſie hätten keine; hätten ſie eine Verknüpfung, 
ſo wäre eben dieſe die Grundwahrheit; hät: 
ten ſie keine, ſo würde es keine Wahrheit ge⸗ 
ben, weil die Harmonie nicht entſtehen könnte, 
die dazu gehört. Die Grundwahrheit iſt ein 
Begriff aller Wahrheiten; alle Wahrheiten 
ſind mit der Grundwahrheit verknüpft, und 
zwar ſo, daß wer ſie begreifen will, der muß 
nicht nur die Grundwahrheit eingeſehen haben, 
ſondern auch ihre Verknüpfung mit derſelben 
zugleich mitbegreifen. Ja dieſe Verknüpfung 
darf nur gezeigt werden, fo iſt gezeigt, daß et: 
was wahr ſey: denn der Beweis iſt nichts 
anders, als die Darthuung, wie eine Wahr: 
heit mit der erſten Grundwahrheit verknüpft 
ſey. Was demnach mit der Grundwahrheit 
übereinſtimmt, das ſtimmt überein mit den in— 
nern und den äußern Sinnen, die als zwey 
Ringe in jenem Grundringe hängen, und durch 
ihn vereinigt ſind. Was aber vermittelſt die⸗ 


173 


ſer beyden Ringe dem Hauptringe angehängt 
wird, das heißt eigentlich bewieſen. | 
| 166 Wir könnten dieſe Sätze, die in dem Bu⸗ 
che ſehr weit aus einander liegen, aber doch 
in der Ordnung vorkommen, in welcher wir ſie 
größtentheils angeführt haben, noch mit vielen 
vermehren, die alle, wie dieſe, eine Ahndung 
der höhern Anſicht verrathen, obgleich andre 
ſich dagegen finden, die beweiſen, daß es 
auch nichts weiter als Ahndung war; aber 
wir glauben, dies wird genug ſeyn, um den“ 
Standpunct des Thomaſtus zu bezeichnen, 
wenn wir nur noch die Grundwahrheit (pri- 
mum principium) mit ſeinen Worten werden 
ausgeſprochen haben. Dieſes Princip, das fo: 
ganz unmittelbar eingeſehen, und durch wel⸗ 
ches jede Wahrheit bewieſen werden ſoll, ift:- 
»owas mit des Menſchen Vernunft überein— 
ſtimmt, das iſt wahr, und was des Menſchen f 
Vernunft zuwider iſt, das iſt falſch;« und das 
wird die Bemerkung, die wir ſo eben machten, 
beſtätigen. Es iſt in der That nicht leicht, den 
Thomaſius — ich möchte nicht ſagen, zu ver⸗ 
ſtehen, ſondern aus ihm klug zu werden, eben 
weil er bald ſo hoch zu ſtehen ſcheint, und 
dann auf einmal wieder in die Niederung fällt, 


174 
ohne daß man weiß, wie die Sache zuſam⸗ 
menhängt.) — Von den noch nicht ange: 


führten Hauptſtücken handelt das vierte, von 


den Kunſtwörtern der Logik. In dieſen Ab⸗ 
ſchnitt nennt er, um dies noch anzuführen, die 
Exiſtenz der Dinge dasjenige Objective, wo: 
durch der Menſch überhaupt inne wird, daß 
etwas ſey; das Weſen aber iſt die Art und 
Weiſe, mit der ein Ding empfunden wird: je⸗ 
ne iſt ſonach dieſelbe, dieſes ſo verſchieden, als 
die Dinge ſelbſt, denn fie iſt ja eben ihre Ver 
ſchiedenheit. Ein. jedes Ding außer des Men⸗ 
ſchen Gedanken (ens reale) iſt entweder ein ur— 
ſprüngliches, Gott, oder es rühret von dieſem 
her. — In den folgenden Hauptſtücken han⸗ 
delt Thomaſius: von der Wahrheit; von der 
erſten und unbeweislichen und von andern un⸗ 
ſtreitigen Wahrheiten und von der Demonftra: 
tion; von den unftreitigen Unwahrheiten; von 
den unerkannten Dingen; von den wahrſchein⸗ 
lichen und unwahrſcheinlichen Dingen; von der 
Erfindung neuer Wahrheiten, und von den 
Irrthümern und deren Urſprung. — Von der 
) Auch Leibnitz ſagt irgendwo, daß feine Philo- 
ſophie, die er silvestris et archipodialis nennt, 


fo ſchwer zu verfleben fen. 


| 175 
Syllogiſtik hingegen kommt kein Capitel vor: 
Thomaſius hielt nichts auf ſie, und ſelbſt beym 
Dispüt wollte er lieber mit Socrates fragen, 
als mit den Scholaſtikern Schlüſſe machen. 
N Noch in eben dieſem Jahre kam die Aus⸗ 
übung der Vernunftlehre heraus, deren Zweck 
der Titel angiebt: »Ausübung der Vernunft— 
lehre oder kurze deutliche und wohlgegründete 
Handgriffe, wie man in feinem Kopfe aufräur' 
men, und ſich zur Erforſchung der Wahrheit 
geſchickt machen, die erkannte Wahrheit andern 
beybringen; andere verſtehen und auslegen, 
von anderer Meynungen urtheilen und die 
Irthümer geſchickt widerlegen folle.« Nach⸗ 
dem Thomaſius ſich in der Vorrede mit einem 
andern Gegner feiner Hofphilofophie abgefun— 
den, redet er in fünf Hauptſtücken: von der 
Geſchicklichkeit, die Wahrheit durch eignes Nach— 
denken zu erlangen, Andern die Erkenntniß des 
Wahren beyzubringen, Andere zu verſtehen, 
von Andrer Meynungen zu urtheilen, und An 
derer Irthümer zu widerlegen; und er giebt in 
der That manche gute Lehren für den Hausbe— 
darf, die freylich ſeinem Zeitalter neuer ſeyn 
mochten, als dem unſrigen, die aber auch jetzt 


* 


noch Befolgung verdienen und ſtets verdienen 

werden.) | | Wie ee 
Zu gleicher Zeit las Thomaſius im Som⸗ 
merhalbenjahre fünf Collegia. Er kündigt ſie 
in einem Discurs an, in welchem er über den 
Zuſtand von Halle ſpricht. Von andern Aka⸗ 
demien, ſagt er, ſeyen freylich ſo viele große 
Gelehrte hervorgegangen als Männer aus dem 
Trojaniſchen Pferde; Halle könne ſich derglei— 
chen nicht rühmen, aber es ſey, wie die Natur, 
mit Wenigem zufrieden, und dies wenige ſey 
ſehr viel, nemlich eine vollkommne Freyheit im 
Vortrage und Unabhängkeit von fremder Au⸗ 
torität. Unter den Collegien ſelbſt iſt, außer 
der Fortſetzung des großen, eintz über den deut⸗ 
ſchen Styl. Es war dem Thomaſius nicht ge⸗ 
nug, die Sprache ſeines Vaterlandes auf den 
Lehrſtuhl gebracht zu haben: »er ſuchte ſie 
4114 auch 


») Ich babe nur die fünfte Ausgabe die ſes Buchs 
erhalten können, die 1719 gedruckt iſt. In die⸗ 
fer iſt die Sprache merklich fortgerückt. 1711 
war ſchon die vierte Auflage erſchienen: ein 
Beweis, mit welchem Beyfall das Werk auf 
genommen wurde, und in welchem Zuſtande 


die Philoſophie geweſen ſeyn mag. 


5 = 


| 7 177 


j 
auch von dem Lehrſtuhl herab zur Deutlichkeit 


und Artigkeit, d. h. zu einer natürlichen Reis 


nigkeit zu erheben, auf daß ſie andern Men⸗ 

5 ſchen, mit denen wir reden, nicht verdrieslich, 

unanmuthig und ungeſchickt vorkomme.« Denn 

95 es ſchien ihm »eine große Unförmlichkeit, daß 


ein Menſch ſich befleißigen ſollte, in fremden 


Sprachen Vollkommenheit zu erlangen, hinge— 


gen ungeſchickt wäre, in ſeiner Landesſprache 


deutlich und artig zu reden und zu ſchreiben.« 


Und doch hatte ihn eine zwölfjährige Erfah⸗ 


rung gelehrt, daß auch diejenigen unter ſeinen 
Zuhörern, »die ihr gut Latein von Schulen 


mitgebracht, wenig oder gar kein Teutſch ge⸗ 


konnt.« Er ließ ſeine Zuhörer Arbeiten in 
deutſcher Sprache machen, und dieſe von ihnen 
ſelbſt laut vorleſen, damit auch ihre Ausſpra⸗ 
che und Declamation angenehm und zierlich 
werden ſollte. Mit dieſen Vorleſungen aber 
verband er andre »über die Erkenntniß guter 
Schriftſteller,« in welchen er allgemeine Re: 
geln für die Beurtheilung der Bücher aufftell: 


te — (die auch in feiner Ausübung der Ver: 


nunftlehre vorkommen) —; beſonders aber, 


weil er wußte, wie junge Leute mit einer Art 
von Verehrung an dem Urtheile der Journali— 
M 


u 
ſten hängen, aus bekannten Ulſachen, und auch 
darum, weil es, durch die Feſtigkeit, mit der es 
ſich gleich bleibt, und, ſo oft man es wieder 
lieſet, durchaus auf dieſelbe Weiſe hervortritt, | 
ſich den Schein einer ausgemachten Wahrheit f 
und Untrüglichkeit erwirbt, die das veränderte 
Wort entbehren muß — beſonders, ſage ich, 
ſprach er über die Journale, characteriſirte ih. 
ren Geiſt, und ſuchte ſeinen Zuhörern zu be⸗ 

weiſen, daß es auch eine Beurtheilung der 
Beurtheilung gebe. Endlich verband er mit 
jenem Collegio eine Disputirübung, wofür er 
gleichfalls die deutſche Sprache beſtimmte. — 
Für den Winter kündigte Thomaſius Borle- 
ſungen über ſeine göttliche Rechtsgelahrtheit 
an in einer Rede »über Die. Freyheit der jetzi⸗ 
gen Zeiten gegen die vorigen, « worin er jene 
gegen dieſe ſehr erhebt, nicht ſowol wegen deß, 
was fie waren, als was fie zu werden ver: 
ſprachen. Der Zuſtand der Studirenden ſey 
durch Ausrottung des Penalismus, deſſen Herr⸗ 
ſchaft er ſelbſt noch erlebt habe, unendlich ver— 
beſſert; ſchwerer habe es gehalten mit den 
Lehrenden, aber man dürfe doch vieles von ih: 
nen hoffen. Nicht nur die Ethik ſey verbeſſert, 
— durch Grotius, Pufendorf und ihn ſelbſt — 


„„. 
fondern die Philoſophie überhaupt habe die 
| Ariſtoteliſche Bürde abgeſchüttelt. Die Medi: 
ein fange an beſorgt zu ſeyn, nicht nur um 
die Wiederbringung der verlohrnen, ſondern 
N auch um die Erhaltung der von Gott verliehe— 
nen Geſundheit. Die Rechtsgelahrtheit begin: 
ne den Jammer der ächzenden Armen zu be⸗ 
jammern, und »die unterdrückte Gottesfurcht 
oder das wahre Chriſtenthum hebe, alles 
Schreyens, Läſterns und Tobens der falſch be⸗ 
rühmten Kunſt unerachtet, ihr Haupt empor, 
und der Herr ſtärke den ſchwachen Arm derer, 
die auf ihn vertrauen, daß ihre Feinde und 
Verfolger vergebens wüten und immer mehr 
und mehr mit ihren Köpfen anlaufen und zu 
Schanden werden. « | 

Auch der Polemik mußte Thomaſius in die: 
ſem Jahr ihr Opfer bringen; und er that es, 
wo nicht beſſer, doch anſtändiger als jemals. 
Oben ift erzähle, wie Thomaſtus feinem Geg⸗ 
ner, dem D. Maſius den letzten Jahrgang ſei⸗ 
nes Journals dedicirt, und was er ihm darin 
geſagt habe. Nicht lange darauf verkündigte 
die Zeitung aus Kopenhagen, daß daſelbſt auf 
Befehl des Königs eines Pasquillanten, des 
Chriſtian Thomas, Schmähſchriften wider den 

0 M2 


180 


Herrn D. Mafius auf dem Markte durch des | 


Büttels Hand cum infamia Autors u) offent⸗ 


lich verbrannt wären in Gegenwart vieler 
Menſchen. Den Befehl dazu hatte M aſius 
ſchon im Jahr 1689 ausgewirkt, ſobald Tho⸗ 


maſius im May den erſten Theil des Schip⸗ 
pingſchenGeſprächs hatte abdrucken laſſen, ſammt 


ſeiner Beantwortung; äber er hatte keinen Ge⸗ 


brauch davon gemacht, erſtlich weil das ſchon ge⸗ 
ſchehen war, was er verhüten wollte, nemlich den 


Abdruck des zweyten Theils, ſpäterhin auch, weil 
er meynte, ſeinen Zweck erreicht zu haben, als 
dem Thomaſius verboten wurde, nichts wider 
ihn drucken zu laſſen. Als dieſer aber in Halle 
ihn in der Dedication ſeiner Monate mit der 
Schuld des ganzen Streits, und zwar aus gu⸗ 


ten Gründen, belud, ſo konnte der aufgebrach— 


„) Thomaſtus ſpottete ſpäterhin über die ganze 
Geſchichte und erinnerte über dieſen Ausdruck, 


er ſey ſo unbeſtimmt in dem Befehle gebraucht, 


daß man nicht wiſſe, ob der Autor der Schrif⸗ 
ten oder der Autor, der den Königlichen Be⸗ 
fehl ausgewirkt habe, gemeynt ſey? Er fragte 
dabey, ob Herr Maſius und fein Peter Schip— 
ping gegenwärtig geweſen; und warum wol 
dieſer es ſo geruhig geſchehen laſſen, daß auch 
fein Geſpräch mit verbrannt worden ſey? 


181 


f | 

te Mann ſich nicht mäßigen, ſondern machte 
ſich zum Gelächter der verfländigen Welt. 
Sobald Thomaſius die Zeitung erhalten hatte, 
ſetzte er eine Schrift auf, welche das Recht der 
| Fürſten, Bücher zu verbrennen, unterſuchen 
ſollte, aber er wurde abgehalten, ſie bekannt 
zu machen. Der Streit nemlich zwiſchen dem 
Maſius und den reformirten Theologen war 
unterdeß heftig fortgeſetzt, und der erſte hatte 
in ſeinem »treuen Lutherthum« die ganze res 
formirte Religionsparthey von Neuem auf das 
Niedrigſte ihrer Grundſätze und ihres Glau— 
bens wegen beſchuldigt. Zugleich aber hatte 
er auch ſie mit einer »ähnlichen Illumination“ 
bedroht. Deßwegen klagten die reformirten 
Geiſtlichen den Maſius bey ihren Landesherren 
an, und Thomaſius denuncirte zu gleicher Zeit 
das Verfahren der Dänen wider ihn dem ſei— 
nigen: denn dies glaubte er der Klugheit ſchul— 
dig zu ſeyn. Der Churfürſt von Brandenburg 
ſchrieb deßwegen an den däniſchen König, und 
verlangte, indem er die Anklage und die Be⸗ 
weiſe der Theologen und die Denunciation des 
Thomaſius beylegte, eine Verfügung, die zu 
ſeiner und ſeiner Unterthanen Genugthuung 
gereichen ſollte. Mafius vertheidigte ſich da: 


182 | | | . 5 


gegen, indem er vor ſeinem König ſein treues 


Lutherthum als das allerchriſtlichſte Werk be⸗ Be 


ſchrieb und den Thomaſius von Neuem bes 


ſchimpfte, indem er feine Schriften für Schand⸗ 
ſchriften ausgab, und ſtatt des Beweiſes ſich 


der ſchönen Wendung bediente, daß dies allge⸗ 
mein bekannt ſey, als welche jeden Beweis 


überflüßig macht. Darauf ließ dieſer ſein Buch 
drucken unter dem Titel: „Attilae Friedrich 
Frommholds ) rechtsgegründeter Bericht, wie 
ſich ein ehrliebender Scribent zu verhalten BR 
be, wenn eine auswärtige Herrſchaft feine ſonſt 


approbirte Schriften durch den Henker ver⸗ 


brennen zu laſſen, von einigen Paſſionirten 
verleitet worden, « und ſetzte ihr aus Luthers 
Schriften ein Motto vor, das die Welt ihm 
ſchwerlich als Beſcheidenheit angerechnet hat.“) 


Jer nannte ſich Attila Friedrich, weil ihn die 
ſchöne Zuſammenſtellung der Taufnamen des 
Maſius ſo luſtig vorkam; dieſer hieß bekannt— 


lich Hector Gottfried. Darum nannte Tho⸗ 


maſtus den Büttel, etwas unpaſſend, Achilles. 
*) Facile est Lutherum eximere Bibliothecis; at 

non facile illum eximere e pectoribus hominum, 

nisi refellantur illius insolabilia argumenta, nisi 


contrarium doceat Pontifex sacrae seripturae te- 


* 
u 


| 183 


Ih 


Er nannte nicht ſeinen Namen, weil er glaub⸗ 
te, der thue nichts zur Sache: denn er nannte 
weder den Maſius, noch ſeine eigene Schrif— 
ten, noch was mit ihnen vorgegangen war, 
ſondern er blieb ganz bey dem Allgemeinen, 
wiewol auch ſo der Unterrichtete Alles verfte: 
hen mochte. . 
Die Schrift iſt mit Würde und Kraft ge⸗ 
ſchrieben, und ſagt der däniſchen Regierung 
derbe Wahrheiten. Thomaſius geſteht das 
Recht, eine Schrift durch den Henker verbren⸗ 
nen zu laſſen nur dem Landesherrn in dem 
Falle zu, wenn ſie eine offenbare Schandſchrift 
iſt, oder wenn fie . bey Streitigkeit — einen 
Irthum enthält, der offenbar (und nicht etwa 
durch ſophiſtiſche Konſequentien herausgekün⸗ 
ſtelt) die allgemeine Ruhe des Staats gefährs 
det: aber einem ausländiſchen Fürſten ſpricht 
er das Recht geradezu ab, es wäre denn, daß 
er für den Schriftſteller bey ſeinem Landes— 
herrn keine Beſtrafung auswirken könnte; und 
er nennt es Gewaltthätigkeit, wenn das Verbren⸗ 
nen dennoch ſogar einem Buche widerfährt, 
‚stimonüs. — Nec desunt ingenia, quae flecti 
5 eis possunt, terreri fumis non possunt. Veri- 


tas nescit opprimi, etiamsi opprimatur Lutherus. 
& 


184 i , \ 


von dem es nicht bewieſen iſt. daß es eine 
Schandſchtift ſey. Dem Schtiftſteller aber, 
der von einem Höhern Gewalt leidet, räth er, 
mit Stolz dieſe Beſchimpfung zu verachten, 
welches die ſüßeſte Rache ſey, und an den 
Spruch eines perſiſchen Weiſen zu denken: 
Laſſet die unvernünftige Beſtie wüthen, ſo 
lange ſi ſie win. At 1 ſie an zu Weß eren 
Zorn. 


Auf dieſe Schrift ſandte Maſius eine an⸗ 
dre in die Welt, um ſie zu beantworten; *) 
auch erſchien noch eine von einem Dritten für 
den Maſius: ) da aber Thomaſius es ſei⸗ 
ner unwürdig hielt, auch nur Etwas dagegen 
zu ſagen, ſo war dies das Ende ſeines Streits 
mit dem Maſius, außer daß er 1624 auch die 
Geſchichte der letzten Gch einer Gegner 
erzählt. 


2 Vernunftgegründeter Bericht, was von einem 
Scribenten zu halten, deſſen Schriften durch 
den Henker verbrennet — von Aetium Die: 
trich Ehrenhold. ' | 


„) Christianus minime Christianus, oder das 
Ebenbild Christiani Thomasii — von Siegfried 


Benzen. 1692. 


| 185 


| Im folgenden Jahre, 1692, gab Thoma⸗ 
ſius ein andres zu feinem großen Collegis ge: 
höriges Werk heraus, nemlich ſeine Sittenleh— 
re. Er gab ihr folgenden Titel: »von der 
Kunſt, vernünftig und tugendhaft zu lieben, 
als dem einzigen Mittel zu einem gläckſeligen, 
galanten und vergnügten Leben zu gelangen, 
oder Einleitung der Sittenlehre.« Mehrmals 
hatte er, wie wir wiſſen, von den Unvollkom⸗ 
menheiten der gewöhnlichen Ethiken geſpro— 
chen, und beſonders der Ariſtoteliſchen, und die⸗ 
ſem Mangel wollte er durch eine neuere und 
beſſere Anweiſung zur Tugend abhelfen. Daß 
ſein Weg neu war, wenigſtens als Sittenlehre, 
das leugnete man nicht, und daß er beſſer war 
als die, welche man gewöhnlich zu wandeln 
pflegte, das wurde von den meiſten feiner Zeit 
genoffen anerkannt.) Etwas Scientifiſches 
wird man von dem Eklektiker wol nicht er⸗ 
warten; aber auch von der Idee der Moral, 
die darauf ausgeht, alle Moralität, die nur 


*) Ein Beweis dafur iſt unter andern wol der, 
daß ſchon 1720 die fiebenfe Auflage davon ge— 
druckt wurde. Dies iſt diejenige, welche ich vor 
mir habe, und iſt in einem faſt ganz reinen 


und richtigen Deutſch verfaßt. 


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186 


das Product des Streits zwiſchen Neigung | 


und Pflicht iſt, in welchem dieſe den Sieg be⸗ 


hält, und die aufhören muß, wenn der Streit 1 


aufhöret, überflüßig. zu machen; von einem 
allgültigen Geſetz, das regierend eingreifen ſoll 
in der Menſchen Thun und Wollen bey den 


großen, wie bey den kleinen Verhältniſſen des 


Lebens — verräth Pe Werk des Thomaſius 
auch nicht eine Ahndung. Ja nicht einmal der 
Begriff der Pflicht iſt ihm dabeny eingefallen; 
ſondern es iſt vielmehr ein wohlgemeyntes, gut⸗ 
müthiges Räſonnement, das die Menſchen 
nicht eben nimmt, wie ſie ſind, eben ſo wenig, 
als es ſie zu machen ſucht, was ſie ſeyn ſollen, 
ſondern das nach einem gewiſſen Romanideal 
die Glückſeligkeit der Menſchen preiſet, die auf 
Wackefieldſche Weiſe zufrieden leben in häus⸗ 


licher Freude, voll Liebe gegen andre Menſchen, 


die ihnen gleichen, und voll Gutmüthigkeit ge: 


gen ſolche, die ſie nicht leiden können. Ja 


man könnte einen guten Theil des Werks, oh: 


ne ihm zu nahe zu treten, eine Eheſtandsdis⸗ | 


ciplin nennen, das zwar recht gute Menſchen 
beſchreibt, das aber nie als Regulativ fürs Le: 
ben etwas bedeuten kann. Nemlich Thoma⸗ 
ſius ſetzt die größte Glückſeligkeit des Men⸗ 


. 


— 


187 


ſchen — (daß er die Glückſeligkeit aber als 
das Höchſte annimmt, was es für den Men⸗ 
ſchen giebt, dafür wird er nicht nur Entſchuldi⸗ 
ger, ſondern auch Per diger finden. wie es 
; Necht iſt) — in die Gemüthsruhe oder in die 
Beluſtigung des Gemüths, dieſe aber läßt 
er aus der vernünftigen Liebe ihren Urſprung 
nehmen, ſo wie ſie dieſelbige wiederum bewirkt; 
und die vernünftige Liebe iſt nicht etwa vom 
Willen des Menſchen abhängig, ſondern ſie 
kommt und geht, wie es Gott gefällt, ohne 
daß ſie ſich erzwingen oder abhalten ließe. 
Freylich werden wol einige Regeln dabey ge— 
geben, um dies gleichſam einzuſchränken, und 
die Liebe vernünftig zu machen: aber damit 
wird es ſchwerlich gethan ſeyn. ) Uns ſcheint, 


38 Bio meiſten Moraliſten unſerer Zeit wol 
nicht einen ähnlichen Fehler begehen? Das Sit⸗ 
kengeſetz iſt nicht für einen guten Menſchen, denn 
nur die Kranken bedürfen des Arztes. Iſt aber 
der Menſch nicht gut, wie ſoll er da das Gu⸗ 
te wollen? Der gute Wille macht ja eben den 
Menſchen gut; woher hat er denn dieſen Wil⸗ 
len, ehe er gut iſt ? Iſt er gut, ehe er gut iſt? 
Und wenn ein jeglicher unter den Guten ſeyn 


ſollte wie der Wind, von dem man nicht weiß, 


188 Na 
daß wenn Thomaſius hier auch eine neue 1 
Bahn zu brechen glaubte, es doch ein dreyfa⸗ 
cher Einfluß von Außen war, was ihn, bey 
dem richtigen Gefühl der Unzulänglichkeit der 
Sittenlehre ſeiner Zeit, auf dieſe Verbeſſerung, 
wofür er ſie wenigſtens hielt, gebracht hat: 
der Pietismus, Epicurs Philoſophie nach Gaſ⸗ 
ſendus, und ſeine eigne häusliche Lage in ei⸗ 
ner Welt, von der er — nach einer Maxime, 
die er in ſeiner erſten Schrift ſchon aus⸗ 
ſprach — der Meynung war, ein weiſer Mann 
müſſe das beſte daraus zu machen ſuchen, was 
ſich am Schicklichſten daraus machen laſſe. 
Was den Pietismus anlangt, ſo ſcheint er 
zwar in der Vorrede, und auch im Werke ſelbſt 


woher ſein Brauſen kommt, und wohin es 
fährt —: wo bleibt da die Moral? Daß die⸗ 
ſe Frage ſich beantworten läßt, und daß ſie | 
ä beantwortet iſt: das weiß ich wol; ich wollte 
nur fragen, ob der größte Theil unſerer Mo— 
raliſten ſich wol einen Skrupel über derglei— 
alſo ob ſte durch 


die neuen Veränderungen in der Philoſophie 


chen Fragen gemacht habe? 


wol weiter gekommen find , als Thomaſtus 


war? ) 


189 
die Religion ganz von ſeiner Sittenlehre ab— 
zuſondern, aber das widerſpricht unſter Mey— 
nung nicht. Er theilt dort die Menſchen in 
drey Klaſſen, in Beſtien, Menſchen und Chri⸗ 
ſten, und ſagt, ſein Zweck und der Zweck der 
Sittenlehre ſey nur, die. erften zu den zweyten, 
die Beſtien zu Menſchen zu machen, “) dieje— 


*) Und zwar find es nur junge Leute dieſer 
Art, für die er feine Sittenlehre geſchrieben 
hat. „Denn, fagf er, find fie (die noch in 
der Beſtialität ſtecken) bey Shen ſo werden 
ſie wohl thun, wenn fie meine Sittenlehre 
ungeleſen laſſen, indem ich ſte nicht vor ſie 
geſchrieben, und wohl weiß, daß es Menſchen 

Vermögen übertrifft, einen alten Kerl, der 
noch eine Beſtie iſt, aus dieſem Stand heraus— 
zureißen.⸗« Eine Beſtie von einem Menſchen 
beſchreibt er in einem Programm „vom elen⸗ 
den Zuſtand der Studenten“ alſo: »fie ſey 
derjenige, der wider die Regeln der allen 
Menſchen gemeinen Vernunft nicht allein die 
Wo lluſt, oder den Ehrgeiz oder den Geldgeiz 
ſich täglich hinreiſſen läßt, und, von ihnen 
angetrieben, ſchändliche, ſchädliche und liebloſe 
Thaten verrichtet, ſondern auch darob einen 


Gefallen hat, und immer dichtet und trachtet, 


Ben, 2 

nigen aber die Chriſten wären — ori 
er nicht alle verſteht, die ſich ſo nennen ( 
ſeyen über die Sittenlehre hinaus; und darin 
fühlt er richtiger als die eiften. der neuern 
Motraliſten. Aber, ſo wie der Pietismus im 
Gemüthe des Chriſten durch den Geiſt göttli⸗ 
cher Liebe ſchöne Ruhe im Sturm des Le— 
bens, kindliche Heiterkeit im Nebel der Welt, 
fromme Ergebung beym Wechſel des Schick⸗ 
ſals, und kurz das, was man die Gottſeligkeit 


— 


nannte, und worein man das Weſen der Reli⸗ 
gion ſetzte, entſtehen ließ, fo wollte Thoma⸗ 
ſius, wie es uns ſcheint, durch den Geiſt 
menſchlicher Liebe dem Menſchen jene Gemüths⸗ 
ruhe erwerben, in die er das höchſte Gut ſetzt, 
was der Menſch, ohne Chriſt zu ſeyn, errei⸗ 
chen könnte, um ihn zu der höhern des Pietis⸗ 
mus geſchickt zu machen. Das Ideal zu dieſer 
Gemüthsruhe aber gab ihm Epicurs, durch Gaſ— 
ſendus gerettete, Wolluſt, und dieſes Ideal fand er 
wahrſcheinlich am meiſten realiſirt im Schooße ſei⸗ 
ner Familie. Nun glaubte er ferner alle Leiden: 


ſchaften und Neigungen, die, wie er meynt, 


wie er in denenſelben es immer höher und 


höher bringen möge. 


191 


jedem Menſchen ohne Ausnahme, nur anders 
und anders gemiſcht, beywohnen, in die vier 
Klaſſen, des Geldgeizes, des Ehrgeizes, der 
Wolluſt und der vernünftigen Liebe eintheilen 
zu dürfen; und da ſich keiner dieſer Affecten 
nach ſeiner Meynung, ausrotten, aber wol die 
Quantität des einen, durch die Vergrößerung 
der Quantität des andern, vermindern läßt, ”) fo 


) Er ſagt dies ſehr oft. Die vier Hauptaffer⸗ 
ten, die tauſend Modißcationen fähig wären, 
leitet er in der Dedication des Werks an den 

Fürſten von Anhalt, von den vier Tempera— 
menten her. »Wer ein rechtes Phlegma hat, 
iſt der gernihkeigſte Menſch, und muß noth⸗ 
wendig auch der größten Glückſeligkeit und 
der vernüuftigen Licbe fähig ſeyn.““ — (Er 
ſcheint hier zu vergeſſen, daß er in einer an⸗ 
dern Schrift von dieſem Jahre dem Phlegma 

Langſamkeit des Verſtandes beylegt: oder iſt 
die etwa nöthig zu der größten Glückſelig⸗ 

keit und der vernünftigen Liebe?) — „Bey 
dem Sanguiniſchen iſt Bie Wolluſt die oberſte 
Gemüthsneigung. Ein Cholericus iſt ſchon wei— 
ter von dem Phlegma entfernet, und bey 
demſelben raget die Ehrbegierde über die am 


dern Affecten empor. Die Melancholiſchen, 


19° 
dachte er darauf, den Testen Affect zu erheben 
und dadurch die drey erſten zu verſenken. Auf 
dieſe Weiſe ſcheint uns ſeine Sittenlehre ent⸗ 
ſtanden zu ſeyn. ER 7 | 

In der Vernunftlehre bac er dis babes 
heit beſchrieben als eine Erkenntniß, die nicht 8 
nur das Wahre von dem Falſchen, ſondern 
auch das Gute von dem Schlechten zu unter⸗ 
ſcheiden wiſſe; von jener Seite wurde ſie 
dort abgehandelt, und hier beginnt er en dies _ 
ſer. Gut ift überhaupt das, was mit dem An⸗ 
dern überein kommt, d. h. was das Andre in 
ſeiner Dauer erhält und ſein Weſen vermehrt. 
Davon iſt die Anwendung auf das, was gut 
für den Menſchen iſt, leicht gemacht. An dem 
Menſchen iſt Alles gut, denn es ift ihm ja 
von Gott gegeben, bis auf den Willen, der 
nun einmal nicht gut iſt: denn in ihm iſt der 
Urſprung alles Übels. ‚Pens fpielt der Wil⸗ 
le nachher eine große Rolle. Wie es möglich 
iſt, daß er beſſer werde? — die Frage wirft 
Thomaſius nicht einmal auf, aber daß er von 
Außen, durch andre Menſchen dazu gebracht 

werden 
gleichwie ſie die wunderlichſten ſind, alſo iſt 
der ſtärkſte Trieb bey ihnen zur Geldliebe.« 


. 193 
. werden müſſe, und daß daher der Menſch für 
den Menſchen gut ſey — das ſagt er aus- 
drücklich. Wie aber der erſte gute Menſch 
gut geworden iſt? das hat er unbeantwortet 
gelaſſen. Übrigens verwirft Thomaſius mit 
Recht die alte Eintheilung des Guten, (bonum) 
in das ehrbare (honestum), nützliche (utile), 
und angenehme (jucundum); und behauptet, 
daß es nur Ein Gut gebe, welches, von einer 
andern Seite angeſehen, einen andern Namen 
erhalte. In Rückſicht ſeines Urſprungs (von 
Gott) heißt es, wie er ſagt, honestum; in 
Rückſicht ſeiner ſelbſt, jucundum; und in Rück⸗ 
ſicht der Wirkung, utile. Die praktiſche Philo: 
ſophie oder die Sittenlehre iſt ihm nichts anders, 
»als die Gelahrtheit, die dem Menſchen wei— 
ſet, wie er glücklich leben, wie er das höchſte | 
Gut erreichen fell,«e Sie muß ihm alſo zunächſt a 
zeigen, worin dies beſtehet. Es beſtehet aber 


weder in dem Verſtande und ſeinen Objecten 
— wovon nemlich die Vernunftlehre gere— 
det —, noch in dem Willen, und was ihn 
angehet, ſondern ſo wie der verderbte Verſtand 
und Wille in ihrer Vereinigung die ſinnliche 
Begierde iſt, ſo iſt auch das höchſte Gut in der 
Vereinigung des unverderbten oder des geheil— 
5 N 


4. 


ten Verſtandes beym Erkennen, und des un— 
verderbten Willens beym Begehren zu fu: 
chen.) Bey einer ſolchen Vereinigung ent⸗ 
ſteht im Gemüthe des Menſchen Ruhe und 


*) Ueber das beſtändige Verbundenſeyn des Ber. 
ſtandes und Willens wollen wir ae Stelle 
abſchreiben, die zugleich beweiſen mag, wie 
richtig Thomaſius im Einzelnen ſteht, und wie 
gut er ſich ausdrückt. Ueber die ſcheinbare Er⸗ 
fahrung, daß der Menſch oft das nicht will, 
was er als gut begreift und einſteht, ſagt er: 
Wenn wir die Sache genau überlegen wollen, 
werden wir finden, daß nicht ſowol der Wille 
dem Verſtande, als Wille und Verſtand zu⸗ 
ſammen dem vorhergehenden Willen und 
Verſtand zuwider ſind. Ein ſeinen Begierden 
„ Menſch hat ja etliche ruhige 
Augenblicke, darinnen er das wahrhaftige Gu— 
te erkennen mag, und in denſelben Au⸗ 
genblicken iſt auch der Wille bereit darnach zu 
ſtreben. Dieweil aber die Begierden alsbald 
wieder die Oberhand erhalten, ſo währet der 
vorige Wille nur einen Augenblick, aber 
es verändert ſich auch mit dem Willen 
ſofort der Verſtand, daß der Menſch 
zur Zeit, da er nach dem Antriebe ſeiner Be⸗ 


gierden ſein Thun und Laſſen einrichtet, auch 


A 19 
Beluſtigung, und dieſe iſt das höchſte Gut. 
Sie wird alſo beſchrieben, daß ſie darin beſte— 
he, daß der. Menſch weder Schmerzen noch 
Freude über etwas empfinde, und in dieſem 
Zuſtande ſich mit andern Menſchen, die eine 
ſolche Gemüthsruhe beſitzen, zu vereinigen 
trachte. Dieſes letzte Verlangen ſtört aber die 
Nuhe nicht, ſondern iſt gleichſam das Lebens: 
princip derſelben, auf daß der Menſch nicht in 
dieſem Zuſtand erſterbe; und es wird geſtillet, 
dieſes Verlangen durch die vernünftige Liebe, 
die nichts anders iſt, als eine Vereinigung der 
Gemüther, die das höchſte Gut beſitzen. Wie— 
derum iſt von dieſer vernünftigen Liebe die 
Gemüthsruhe eine nothwendige Folge; und 
alſo zwiſchen beyden eine Wechſelwirkung, 
durch welche die eine nicht iſt ohne die andre. 

Dies wird in den beyden erſten Abſchnit— 
ten des Buchs weitläuftig abgehandelt; der 
dritte redet von Gott; aber es iſt klar, daß 


nothwendig die Sache, wornach er ſtrebet, vor 
das größte Gut halten, und die vorigen Ge— 
danken ändern muß; welches ein jeder Menſch 
nur bey ſich ſelbſten abnehmen kann. ec — Du 
ber verabſcheuete er den Irrenden auch nicht, 


ſondern er bedauerte ihn 


N 2 


196 | | N | „ 

Thomaſius dieſen nicht etwa darum in ſeine 
Sittenlehre bringen muß, daß et als wo⸗ 
zu ihm die meiſten Moraliſten nöthig ha— 
ben —, als Executor des Geſetzes auf die Aus⸗ 
übung deſſelben halte, ſondern er kann nur 
kindlich zu ihm hinſchauen als dem gütigen 
Geber der menſchlichen Glückſeligkeit. Wir 
wollen hier nicht unbemerkt laſſen, denn es ge⸗ 
reicht dem Thomaſius zur Ehre, daß er das 
uralte: aus Nichts wird nichts, welches man 
fo lange, als eine evidente Wahrheit allgemein 
anerkannt hatte, und welches vielleicht noch 
von Vielen ohne Bedenken als wahr ange— 
nommen wird, aus richtigen Gründen, bey Er⸗ 
wähnung der Schöpfung beſtreitet. Er fühlt 
es ganz beſtimmt, daß man den Satz, wenn 
er wahr ſeyn ſoll, grade umdrehen und fagen 
müffe: Alles wird aus Nichts, was da wird; 
und daß man die beyden Sätze, daß Nichts 
Etwas ſey, und daß aus Nichts Etwas werde, 
verwechſele. Jener ſey falſch, dieſer wahr: 
denn was da werde, müſſe ja wohl aus Nichts 
werden, in fo fern es werde. — Sür den 
Zuſtand feines Zeitalters aber iſt die Angſtlich— 
keit merkwürdig, mit welcher er die Behaup: 
tung wagt, daß die natürliche Erkenntniß von 


*. f 197 


keinem andern Gottesdienſt etwas wiſſe, als 
von der aus kindlichem Vertrauen und Ehr— 
furcht herrührenden Begierde, ſein Leben nach 
Gottes Willen anzuſtellen. Er erklärt dieſen 
Satz, »damit unbedachtſame ſich nicht daran 
„ärgern, und die in den Vorurtheilen der alten 
Lehre Erſoffene nicht Gelegenheit nehmen, ihn 
boshafter Weiſe zu Läftern, « wohlbedächtig dar 
hin, daß er nur leugnen folle, man könne oh⸗ 
ne Offenbarung erweiſen, daß Gott einen äus 
ßerlichen Dienſt von den Menſchen verlange; 
dennoch mußte er darüber mit Placcius einen 
Streit beſtehen! — Und wie ſehr die Schick— 
ſale ſeines Lebens auf ſeine Vorſtellungen ge⸗ 
wirkt hatten, und wie kühn ihn der Gedanke 
an ſie machte, das iſt aus dem Schluſſe dieſes 
Kapitels zu erkennen, wo er den Aberglauben 
für ſchlechter erklärt, als den Atheismus. Er 
endigt alſo: „Faſt die ganze Welt ſteckt in 
dem Aberglauben bis über die Ohren, und deß— 
wegen läßt man ſich ſo eifrig angelegen ſeyn, 
daß arme Volk auf den äußerlichen Gottes⸗ 
dienſt zu treiben, und ſelbſten zu verfechten, 
den innerlichen aber als eine Phantaſterey 
auszuſchreyen, weil jener gar wohl mit dem 
Aberglauben beſtehen kann, ja öfters nichts als 


198 


Aberglauben iſt. Wiewol es nun wenig Athei⸗ 
ſten giebt, ſo ſchreyen doch die Abergläubiſchen 
gewaltig wider dieſelben, hauptſächlich darum, 
daß ſie die vernünftigen Leute, die ihnen zu⸗ 
wider ſind, als Atheiſten auszurufen Gelegen— 
heit kriegen. Und gewiß, wenn man ſich in 
den Hiſtorien ein wenig umſieht, ſo iſt dieſes 
ein uralter Streich, daß man rechtſchaffene 0 
Philoſophen, und faſt alle, für Atheiſten aus⸗ 
geſchrieen. Dannenhero pflegen vernünftige 
Menſchen dieſe Anmerkung zu machen, daß ge⸗ 
meiniglich derjenige, der von einer dergleichen 
unvernünftigen Beſtie auch zu unſerer Zeit für 
einen Atheiſten ausgerufen wird, ein rechtſchaf⸗ 
fener und tugendhafter Mann zu ſeyn pflege. 

Der folgende Abſchnitt ſoll nun die Mittel 
unterſuchen, wie zu dieſer vernünftigen Liebe, 
oder zu der Gemüthstuhe, zu gelangen ſey, 
und er iſt beſonders allen Eheſtands⸗ Candida⸗ 
ten, und allen die im Begriff ſind, ſich eine 
Liebe zu erkieſen, ſehr zu empfehlen. Denn er 
geht alle Arten von Liebe durch, von welchen 
man nur gehört hat, und weiſet, indem er die 
Abwege vermeiden lehrt, auf die ſicherſte Stra— 
ße zum Ziel. — Durch ſeine vernünftige Lie⸗ 
be, meynt Thomaſius, ſey viel mehr gewon— 


| 199 


nen, als wenn er das dunkele Wort Tugend 
gebraucht hätte. »Man muß Meiſter ſeyn, 
ſagt er, in der Biebe; und die Liebe iſt nicht 
mäßig, fondern fie hat allezeit etwas zu thun. 
Zu geſchweigen, daß bey Beſchreibung der Tu: 
gend das dabey erforderte Mittelmaaß theils 
ſehr dunkel, theils vielem Zank unterworfen 
iſt. Aber die Liebe iſt das rechte Maaß aller 
Tugenden, und ohne dieſelbe iſt die Tugend 
todt. Ja, wo Liebe iſt, bekümmere ich mich 
um keine Mittelmaaß. In der Liebe kommen 
alle Tugenden weit beſſer zuſammen, als nach 
der gemeinen Rede in der Gerechtigkeit. All— 
zugerecht — (d. h. dem Tho maſius, wenn man 
alle die Forderungen an andern in jedem Falle 
macht, zu welchen man ein Recht hat: die 
Grenze der Moral iſt auch nicht immer beob— 
achtet von dieſer Seite )) — iſt ſchon unver: 


) „die Gerechtigkeit, heißt es an einer andern 
Stelle, iſt dasjeuige Theil der Liebe, das dem 
Menſchen das Vermögen giebet, den andern 
zu dem, was er ihm willig leiſten ſollte, zu 
zwingen; derowegen kann wol Liebe ohne Ge⸗ 
rechtigkeit, nicht aber Gerechtigkeit ohne Liebe 
ſeyn. Ja es verliehrt die Gerechtigkeit den 


- 200 


nünftig; aber man kann des Guten fo wenig, 
als der vernünftigen Liebe zu viel thun. 
| Aber weil man doch nicht ganz mit ſei⸗ 
nem Weibe und mit ſeinen Freunden allein le⸗ 
ben kann, ſo wird in den folgenden Abſchnit⸗ 
ten die vernünftige Liebe eingetheilt in die All⸗ 
gemeine und die beſondere. Jene, ſich auf die 
Gleichheit aller Menſchen gründend, iſt mehr 
negativ, mehr ein Mangel des Haſſes, als ei⸗ 
ne wirkliche Liebe, und ſchließt fünf Tugenden 
in ſich, die Leutſeligkeit, Wahrhaftigkeit, Be⸗ 
ſcheidenheit, Verträglichkeit und die Gedult. 
Dieſe aber iſt die Vereinigung zwoer Tugend— 
liebenden Seelen — (daß Thomaſius hier das 
Wort Tugend gebraucht, was er ſo dunkel fine 
et, iſt ſonderbar genug) BON die eine wechſel⸗ 
ſeitige Hochachtung zum Grunde hat, aus wel⸗ 
cher ſorgfältige Gefälligkeit erwächſet, die wie⸗ 
derum eine vertrauliche Gutthätigkeit hervor⸗ 
bringt, aus der ſich endlich eine völlige Ge⸗ 
meinſchaft alles Vermögens und alles vernünf⸗ 
tigen Thuns und Laſſen erzeugt. Darauf ſucht 
Thomaſius zu beweiſen, daß die Gelbftliebe 
Namen der Liebe, wenn man den Zwang wirk⸗ 
lich braucht.“ | 0 


4 201 


nur in der Liebe anderer wurzele, und dieſe zur 
Richtſchnur habe, daß der Menſch nur um der 
vernünftigen Liebe Willen ſein Leben durch 
Mäßigkeit, Reinlichkeit und Tapferkeit zu ers 
halten, und endlich, daß er die vernünftige 

Liebe in allen geſelligen Verhältniſſen des Le⸗ 
bens zum Grunde legen ſolle. 

Aus dieſem Abſchnitt wollen wir zum Be— 
ſchluß noch zwey Stellen abſchreiben, weil Tho— 
maſius darin ein Paar Fragen beantwortet, 
die auch noch die Caſuiſtik unſerer Zeit befchäfs 

tigt haben. Sie werden zum Beweiſe dienen, 

daß faſt alle Moralen, wenn ſie nur konſe— 
quent ſeyn wollen, bey ganz verſchiedenen 
Principien einen beſtimmten Fall ſo ziemlich 
auf gleiche Weiſe entſcheiden. »Wenn jemand 
behaupten wollte, ſagt er, ich dürfte meines Le— 


* 
bens Erhaltung nicht meines Freundes Leben 


nachſetzen, weil mein Freund ja mehr in mir, 
als in ſich ſelbſt lebe, woraus zu folgen ſchei— 
ne, daß ich mehr auf mich, als auf ſein Leben 
zu erhalten ſehen müſſe: ſo iſt hierauf zu ant⸗ 
worten, daß die Regeln der Liebe auch gleich— 
falls von mir forderten, mehr in einem Freun⸗ 
de, als in mir zu leben, und alſo ſein Leben 


dem meinigen vorzuziehen, und daß, wenn ich 


1 * 4 
ET c r Ä——U—U —ͤUœ‚H !!. —T——. — —— 


202 


mit dieſer Gegenliebe nicht een wäre, ich 
auch der Liebe meines Freundes nicht werth 
ſey. Ja, ſprichſt du, auf ſolche Weiſe wird 
ja folgen, daß in der Liebe nicht ein Herz und 
eine Seele, ſondern zween widerſprechende | 
Willen anzutreffen ſeyen, indem ein jeder vor 
dem andern ſterben und des andern Tod ver— 
hindern will; ſolcher Geſtalt wird Liebe nicht 
Liebe, oder doch die Uneinigkeit Liebe heißen. 
Aber, o angenehmer Streit! o vergnügſame 
Uneinigkeit! Dieſes iſt das Einzige Parado: 
rum in der Weltweisheit, deſſen Wahrheit 
wohl von andern Menſchen empfunden werden 
kann, daß es der Vernunft nicht zuwider ſey, 
und von dem man doch in der Vernunft keine 
deutliche Urſache findet, daſſelbe zu demonſtri— 
ren.« Gegen einen Nichtfteund würde die 
Antwort indeß wahrſcheinlich entſcheidend ge⸗ 
weſen ſeyn, man ſolle mehr ſich ſelbſt au a 

ten ſuchen, als ihn. 

»Ob denn die vernünftige Liebe uns nicht 
auch verbinde, die von unſern Feinden für uns 
zu beſorgende gewaltſame Gefahr und Schmach 
mit Gedult zu ertragen, und auch für dieſel⸗ 
ben unſer Leben zu laſſen, oder ob wir nicht 


vielmehr dieſelbe mit Gegengewalt und auch 


203 


wohl mie Ertödtung unfers Gegners, der Liebe 
unbeſchadet, abtreiben können?« — Nach An: 
führung mehrerer Entſcheidungsgründe iſt die 
Antwort: »Eine wirklich uns bedrohende, inſte⸗ 
hende Gewalt brauchen wir nicht gedultig aus: 
zuhalten, ſondern dürfen ſie mit Gegengewalt 
und felbft mit Ertödtung unſers Gegners zu— 
zurüdtrieben. Ich rede aber von inſtehender 
Gewalt; wegen der bloßen Bedrohung brau— 
chen wir dieſes gewaltſame Mittel nicht. «) 
Eine andre kleinere Schrift dieſes Jahrs 
hatte größtentheils eine polemiſche Tendenz. 
Die Veranlaſſung dazu war folgende. Tho— 
maſius hatte ſeinem Landesherrn zum Neu— 
jahrsgeſchenk eine neue Erfindung angeboten, 
mit der er ſich viel beſchäftigt zu haben ſcheint, 
und auf die er, weil er fie kühn feine Wiſſen⸗ 
ſchaft nennt, nicht wenig ſtolz war. Er hatte 
ſie ihm angeboten als »eine neue Erfindung 


) Die Ausübung der Tugendlehre kam vier Jah⸗ 
re ſpaäter: und dann werden wir davon reden. 
Von der Einleitung iſt auch eine lateiniſche 
Ueberſetzung; die ich babe, iſt vom Jahre 1706, 
und in einem ſchlechten Latein geſchrieben. 
Der Titel iſt: Introductio in philosophiam mo- 


N. 
Talem. 


204 

einer wohlgegründeten und für das gemeine 
Weſen höchſt nöthigen Wiſſenſchaft, das Ver⸗ 
borgene des Herzens anderer Menſchen auch 
wider ihren Willen aus der täglichen Conver⸗ 
ſation zu erkennen.« In dieſem Schreiben an 
den Churfürſten hatte Thomaſius die Wiſſen⸗ 
ſchaft ſelbſt nicht verrathen, ſondern nur das, 
was der Titel verkündigt, zu beweiſen geſucht: 
die Wohlgegründetheit derſelben, durch die Er⸗ 
fahrung, die er ſelbſt damit gemacht, und die 
Andre durch einen natürlichen Scharfblick ge: 
macht hatten, ohne daß ſie die Regeln der 
Kunſt, in deren Auffindung er eben ſein Ver⸗ 
dienſt ſetzt, gekannt hätten; die Nützlichkeit 
und Nothwendigkeit derſelben befonders für 
einen Fürſten, bedurfte bey einem Fürſten des 
Beweiſes nicht. Er rechnete ſie zu den edel⸗ 
ſten Wiſſenſchaften „ aber er war doch beſchei— 
den genug, noch Eine auszunehmen, die er für 
edler gelten ließ, nemlich die wahre und inner: 
liche Erkenntniß Gottes. Auch nimmt er eine 
Klaſſe von Menſchen aus, die durch ſeine Wiſ⸗ 
ſenſchaft, wenigſtens de ihn ſelbſt, unerkenn⸗ 
bar ſey, diejenigen, die in einem hohen Grade 
wahre Chriſten find, »weil dazu eine übernas 
türliche göttliche Wiſſenſchaft erfordert werde, 


N Ar 205 
1 welcher er ſich billig noch einer der gering 
en Schüler zu ſeyn erkannte.« Um über ſei⸗ 
e neue Wiſſenſchaft alle zudringlichen Anſin— 
ungen von ſich entfernt zu halten, hatte er 
rey Probleme aufgeſtellt, durch deren Löſung 
jan beweiſen ſollte, daß man verdiene, ſeine 
ignen Fragen und Probleme vom Thomaſius 
rörtert zu erhalten. Zugleich hatte er in dieſem 
Shreiben unterſucht, woher es doch komme, 
aß die Wiſſenſchaften in Frankreich, England 
nd Holland empor gekommen, bey den Deut: 


1 


chen hingegen ſo langſam fortgeſchritten ſeyen? 2 
Ind der edle Mann war, bey ſeiner Liebe zu 
en Wiſſenſchaften um der Wiſſenſchaften mil: 
en, die ſich lebendig und kräftig genug fühlte, 
ie widrigen Verhältniſſe der Welt, wenn nicht 
u beſiegen, doch zu überdauern, — er war 
icht mit der gewöhnlichen Antwort zufrieden 


jeweſen, daß die Urſache in dem Mangel an 
Freygebigkeit der Großen, und in dem langfa- 
nern Geiſte der Deutſchen liege: »denn die | 
Weisheit ift nicht intereſſirt, ſondern fie ift an 
ſich ſo ſchön, daß ſie viel höher zu ſchätzen iſt, | 
als alle fürſtliche und königliche Munificenz,« 
und »der Teutſche hat vielleicht mehrmals der 
Schwere ſeines Geiſtes leichte Flügel gemacht, 


206 


als der Franzoſe feine Flatterhaftigkeit durch 
die gehörige Gedult firirt hat:« — fondern 
Thomaſius hatte die Urſache gefunden in dem 
Mangel der göttlichen Freyheit. »Sie iſt es, 
ſagt er, die Allem Geiſte das rechte Leben 
giebt, und ohne welche der menſchliche Ver⸗ 
ſtand gleichſam todt und entſeelt zu ſeyn 
ſcheint. Der Verſtand erkennet keinen Ober⸗ 
herrn als Gott, und daher iſt ihm das Joch, 
das man ihm aufbürdet, wenn man ihm eine 
menſchliche Autorität als eine Richtſchnur vor⸗ 
ſchreibet, unerträglich, oder aber, er wird zu 
Allen guten Wiſſenſchaften ungeſchickt, wenn 
er unter dieſem Joch erliegen muß, oder ſich 
demſelben durch Antrieb eiteler Ehre und Geld: 
gierde, oder einer eitelen Furcht freywillig un⸗ 
terwirft. — Die Freyheit iſt es allein, was 
den Holländern und Engländern, ja denen 
Franzoſen ſelbſt (vor der Verfolgung der Re: 
formirten) fo viel gelehrte Leute gegeben, da⸗ 
hingegen der Mangel dieſer Freyheit die Scharf⸗ 
ſinnigkeit der Italiener und den hohen Geiſt 
der Spanier ſo ſehr unterdrückt.« — Daher 
erwartet Thomaſius viel für Deutſchland von 
der Freyheit, welche das Brandenburgiſche Haus 
ſeinen Unterthanen verhieß und gewährte. 


207 


Gegen diefe Meynung hatte der Magiſter 
Tentzel, der Herausgeber der Curieuſen monat— 
üben Gefpcäge, disputirt, und befonders über 
die neue Erfindung des Thomaſius etwas na: 
ſeweis⸗ bedenklich geredet. Er hatte die drey 
Probleme des Thomaſius zu beantworten ver⸗ 
ſucht, und, obwol es ihm ſchlecht gelungen, 
dafür dem Thomaſius drey andre vorge: 
legt, die nicht nur ſeinen Zweifel an die 
Kunſt verrathen, ſondern auch dem Tho— 
maſius, etwas ſpitz, zu verſtehen geben, daß 
Er zum wenigſten der Mann nicht ſey, eine 
ſolche Kunſt zu erfinden. Thomaſius hatte ge⸗ 
gen Tentzeln bey frühern Angriffen eine Ge— 
dult bewieſen, die man nicht an ihm gewohnt 
iſt: aber dies hieß ihn an ſeiner ſchwachen 
Seite faſſen; denn er war noch gar zu ſehr 
von dem Werthe ſeiner Erfindung überzeugt, 
als daß er, auch gegründeten, Einwürfen hät— 
te Gehör geben ſollen. Daher ſchrieb er: 
»mweitre Erläuterung durch unterſchiedene Exem— 
pel des unlängſt gethanen Vorſchlags wegen 
der neuen Wiſſenſchaft, Anderer Menſchen Ges 
müther erkennen zu lernen: auf Herrn Ten: 
tzels Zunöthigungen publicirt « Aber der klein— 
ſte Theil des Werks beſchäftigte ſich mit jener 


© 


9083 

Wiſſenſchaft. Tenzel nemlich hatte, wie er den 1 
Beyfall bemerkte, den das Thomaſiſche Jour- 
nal erhielt, angefangen, eine ähnliche Zeitſchrift 
ſchon 1689 herauszugeben, worin er auf dieſel⸗ 
be Weiſe, wie Thomaſius in der ſeinigen, ver⸗ 
fuhr, und dieſem ſogar in der Form und dem 
Tone nachahmte. Er hatte ſogleich angefan— 
gen, durch Anſpielungen den Thomaſius zu 
necken; dieſer aber beſchloß — was jeder klu— 
ge Journaliſt gegen einen jüngern Nebenbuh⸗ 
ler beſchließen ſollte —, zu thun, als ob er 
gar nicht wüßte, daß ein Tentzel in der Welt 
wäre: denn er ſah es ein, daß er das your: 
nal des Letztern ſelbſt heben würde, wenn er 
ſich mit ihm in Streitereyen einließe. Darauf 
fing Tentzel an, ihn zu nennen; eine Schrift, 
die Thomaſius für ein Pasquill gegen ſich 
hielt, verdeutſcht aufzunehmen; mit der Mie⸗ 
ne, ihn vertheidigen zu wollen, ſeine Au⸗ 
ßerungen nicht ohne Bitterkeit zu beſtrei— 
ten, und ſeine Angriffe immer ärger und är⸗ 

ger zu treiben. Es iſt nicht zu leugnen, Ten— 
gel bewies oft eine Gelehrſamkeit, welche viel- 
leicht die des Thomaſius übertreffen möchte; 
auch waren manche Bemerkungen gegen die— 
ſen nicht ohne Grund: aber man muß doch, 

ohne 


209 


ohne Vorliebe für den Thomaſius, geſte— 
hen, daß dieſer gewöhnlich gegen ihn im 
Vortheil war. Tentzels Gründe waren oft ſo⸗ 
phiſtiſch, um nicht, mit Chomaſius, hämiſch zu 
ſagen; ſeine Tendenz war niedriger, als die 
des Letztern, ſein Witz war nicht ſelten gemein 
und geſucht, die Derbheit deſſelben beym Tho— 
maſius artete bey ihm oft in Plattheit und 
Unflätigkeit aus. Da Thomaſius aber nicht 
zur Antwort zu bewegen war, ſo hatte er, mü— 
de länger in die Luft zu ſchlagen, das ganze 
16goſte Jahr nichts wider ihn geſagt. Aber 
da Thomaſius in der Dedication ſeiner Mona— 
te an ſeine ärgſten Feinde, den Tentzel unter 
die Deos minorum gentium gezählt hatte — 
(freylich im Vergleich mit ſeinen ärgſten Fein— 
den: Tentzel aber meynte die Vergleichung 
läge zwiſchen dem Thomaſius und ihm) — ſo 
freuete er ſich, an dieſer neuen Schrift fein. 
Müthgen zu kühlen; und ſie ſelbſt mochte ihm 
Hoffnung geben, den Thomaſius zur Antwort 
zu bringen. Dieſe Hoffnung ward auch ſchnell 
erfüllt. Thomaſius beſchuldigt ihn, er ſey ger 
dungen von ſeinen Leipziger Feinden wider ihn 
zu ſchreiben und ihn zu ſchmähen, und aus 
dieſem Princip erklärt er alle ſeine Angriffe, 
O 


210 


die er ihm nach der Reihe vorhält; alsdenn 
zeigt er ihm »ſeine vielfache Schnitzer,« ver— 
theidigt ferner ſeine eigene Meynung über den 
Mangel der Gelehrten in Deutſchland, und 
weiſet endlich den Magiſter in Rückſicht Mine: 
neuen Wiſſenſchaft zurück. 

Was nun dieſe Wiſſenſchaft gelöst u 
fo erhellt aus dem, was er hier ſagt, aus den 
Verſuchen feiner Zuhörer, die er in der Ge, 
ſchichte der, Weisheit und Thorheit anführt, 
und aus der Ausübung der Sittenſehre N 

: Er nimmt an, daß alle Menſchen aus 
den vier bekannten Affecten zuſammengeſetzt, 
und daß einer von dieſen der herrſchende ſeyn 
müffe. Dann, iſt er der Meynung, daß der 
Menſch ein durchſichtiges Weſen ſey, das 
durch ſeine Handlungen und ſeine Worte ſein 
Innres verrathe, und daß die Verſtellung, die 
ohnehin nur eine kurze Zeit dauern könne, 
von einem ſcharfſehenden Auge leicht durch— 
ſchauet werde. Endlich muß man mit der 
Selberkenntniß im Reinen ſeyn, und die Ber: 
miſchung der Affecten an ſich ſelbſt erkannt 
haben. Für den herrſchenden Affect ſetzt 
er 60 Grad, und für den geringſten 5; die 
beyden andern liegen in der Mitte. Iſt der 


211 


Geldgeitz der größte: jo iſt die vernünftige 
Liebe der kleinſte, und umgekehrt. 

6 Thomaſius dedicirte dieſe Schrift dem 
Doctor Meyer *) in Hamburg. Diefer hatte 
im Namen des ächtlutheriſchen Miniſteriums 
daſelbſt eine Schrift gegen den frommen Spe— 
ner herausgegeben; ein Ungenannter hatte 
ihm darauf geantwortet; und Meyer, der dar— 
in nicht aufs Glimpflichſte behandelt wurde, 
ſchrieb dagegen eine neue Schrift, in welcher 
er heftig auf den Verfaſſer der vorigen ſchimpf— 
te, und nicht undeutlich zu verſtehen gab, er 
halte dafür, daß Thomaſius es ſey. Thoma— 
ſius antwortete nicht darauf, weil Meyer ſich 
nicht genannt hatte, “) als aber dieſer in feis 


) Der Mann war Schwediſcher Kirchenrath, 
Profeſſor der Theologie zu Kiel, Prediger an 
der Jacobskirche in Hamburg, und hieß Jo— 
hann Friedrich. 

) Er hatte ſich Nicolaus de Pio Zelo genannt. 
Thomaſius ſagt, er habe Meyern gar nicht 
für den Verfaſſer der Schrift halten mögen, 
unter andern auch deßwegen, weil er gar 

kein tien comparationis habe finden können, 
warum er ſich jenen Namen gegeben. Nico- 
laus ließe ſich freylich erklären, das hieße vi- 


O 2 


212 


nem „Mißbrauch der Freyheit der Btäubigen 
zum Deckel der Bosheit, worin er, wie Tho⸗ 
maſius ſagt, nicht nur »den wahrhaftig from⸗ 
men und in ſeiner Lehre und Leben untadelhaf: 
ten Herrn D. Spener vor den Augen der ganzen 
Welt grob geſchmähet und geläftert, « ſondern 
auch ſeine Schmähungen gegen Thomaſius x 
wiederholte, und ihn einen Calumnianten, Pas: 
quillanten und Ehrendieb nannte, ſo glaubte 
Thomaſius ihm eine Antwort ſchuldig zu ſeyn. 
Zwar hatte er den Namen Thomafiug nicht 
hingeſchrieben: aber er hatte den Mann, durch 
die Anführung des Verbrennens ſeiner Schrif⸗ 
ten, ſo deutlich bezeichnet, daß ein hoher Grad 
von Unverſchämtheit dazu gehörte, um nad 2 
her darauf zu trotzen, Ban er ihn ja Br: ge | 
nannt habe. a n 
Thomaſius erklärt in Die W 


* 
d. 


ctor et subactor popufi; aber das de Pio ze-— 
102 — Viel eher würde er ein Gleichniß ger 
funden haben, wenn er ſich auch den Namen 
des bekannten Juriſten Nicolai de Passeribus 
gegeben hätte, „indem doch zum wenigſten Ew. 
Hochwürden viel beſſer als viel Sperlinge im 
Plurali, wegen ihrer ſonderbaren Leibes und 


Gemüthsgaben zu achten find.“ 


1 


— 213 


; daß er jene erſte Schrift gegen Meyer nicht 
verfaßt, fo wie er überhaupt keine Schrift ge: 
ſchrieben habe, zu welcher er ſich nicht entwe⸗ 
der gleich genannt, oder doch nachher bekannt 
hätte. Dann hält er ihm ſein unredliches, un⸗ 
chriſtliches und untheologiſches Betragen vor, 
daß er auf einen bloßen Verdacht, zu welchem 
er gar keinen Grund gehabt, ihn fo ſchmählich 
beſchimpft hätte. Dabey macht er einige An⸗ 
ſpielungen auf Meyers Leben und Charakter, 
die der Prediger wohl gern in Vergeſſenheit 
begraben hätte: aber obgleich dieſes kein Lob 
verdient, ſo verdient Thomaſius doch dafür 
entſchuldigt zu werden. In einem unreligioſen 
Zeitalter, wie das unſrige, in welchem die lite⸗ 
ratiſchen Werke nur Produkte des Geiſtes und 
der Kunſt ſind, iſt es eines redlichen Man⸗ 
nes unwürdig, in gelehrte Streitereyen Per: 
ſonlichkeiten einzumiſchen; aber wo über 
Glauben und Religioſität die Rede iſt; 
wo die motaliſche Exiſtenz angegriffen 
wird, wie iſt da ein verketzernder Ankläger, 
und ein muthmilliger Berläumder anders zu 
entlarven, als wenn man der Welt feine Per: 
ſon und Leben zeigt? — Darauf verfaßte D. 
Meyer »ein freundliches Schreiben« an den 


214 
Thomaſtus, unter dem Titel: »der ſich ſelbſt 
verurtheilende Chriſtian Thomaſius, daß er ein 
Calumniante und Ehrendieb fey.« Denn er 
hatte die ſchöne Invention, wie Thomaſius 
ſagt, der Welt weiß zu machen, der letzte ha⸗ 
be ſich ſelbſt dadurch für einen Ehrendieb er: 
klärt, weil er die Stelle in ſeiner frühern 
Schrift auf ſich bezogen, worin er doch von 
ihm nicht genannt worden: aber damit konn⸗ 
te ſich nur Meyer täuſchen. Thomaſius hat, 
wie wir erzählt haben, viele und grobe Schmä— 
hungen erfahren: er hat darauf oft lachend, 
manchmal bitter, aber ſtets mit einer ge— 
wiſſen heitern Ruhe, die dem Gefühle gerech— 
ter Sache eigen iſt, geantwortet: aber ſo 
ſcheint ihn nichts bis in ſein tiefſtes Leben em— 
pört zu haben, als dieſes freundliche Schrei 
ben des D. Meyer. Er nennt es »ein abſcheu⸗ 
liches Ding, das des elenden Mannes Verfall 
in die Viehiſchheit bezeugt.« Und wahrlich, 
wenn man Meyer (und feines Gleichen) aufs 
treten und ſich eines fröhlichen Troſtes rühmen 
hört, weil er »um ſeines Heilands Ehre 
Schmach leidet; wenn er ſich mit dem ſanf— 
ten Geiſte Jeſu brüſtet, während er die Ehre 
des Andern zu ſchänden ſucht; wenn er mit 


215 


feinem inbrünſtigen Gebet für den Thomafius 
groß thut, von ſich ſagt, daß er ſeine Hände 
aufhebe ihn zu ſegnen, daß er ein erleuch— 
teter Chriſt und ein Mann ſey, geſchickt heili⸗ 
ge Dienſte zu leiſten in dem Augenblick, wo er 
die Welt des Schändlichſten von dem Thoma— 
ſius überreden möchte: dann wird man dieſem 
den heftigen Zorn gegen den feigen Gleißner 
gern verzeihen, und nicht umhin können, ſich 
mit der Aufgeklärtheit unſerer Zeit, wenn gleich 
nur komparative, zu verſöhnen. Thomaſius 
ließ Meyers Schreiben mit nöthigen Anmer— 
kungen wieder abdrucken, und »legte fo die 
ganze Sache zur Entſcheidung den Hohen und 
Niedern vor, die noch ſchwarz und 1 0 zu 
unterſcheiden wiſſen.« | 

Am Ende dieſes Jahrs gab Thb maſms ei⸗ 
nen Beweis von einem neuen Talent, von dem 
der Beredtſamkeit, worin er, wenn er Öelegen: 
heit gehabt hätte, es auszubilden, großen 
Ruhm, wie es uns ſcheint, hätte erlangen mõ⸗ 
gen. Er hielt nemlich eine Trauerrede auf 
den Tod des Geheimen Raths und Canzlers 
von Seckendorf, welche der neuen Univerſität 
wegen nach Halle gekommen war. Es waren 
unterdeß mehrere Profeſſoren nach dieſem Orte 


| | 
216 . 


berufen ‚und Thomaſius felbft war zum zwey⸗ 
ten ordentlichen Lehrer der Rechtsgelahrtheit 
ernannt, indem ſein alter Lehrer, Samuel 
Stryck, der ſeitdem Frankfurt um Wittenberg 
vertauſcht hatte, die erſte Profeſſur erhielt. Zu 
den Profeſſoren hatte man, wohl nicht ohne 
den Einfluß des Thomafius, größtentheils 
Männer gewählt, die dem Pietismus zugethan 
waren, und ſogar einige, denen er fein Entſte⸗ 
hen verdankte; auch war der ehrwürdige Spe— 
ner im vorigen Jahre von Dresden, wo er 
Oberhofprediger geweſen, nach Berlin als 
Probſt und Prediger gegangen. | Dadurch ger 
ſchah es, daß Halle der Mittelpunkt des Pie: 
tismus wurde, und daß noch lange nachher 
von jedem Theologen daſelbſt der Name Pietiſt 
als unabtrennbares Prädicat ausgeſagt wurde. 
Aber anfänglich hatte der neue Geiſt in Halle 
keine freye Stätte gefunden, und ſo wie Tho⸗ 
maſtius wegen feiner erſten Schrift ſogleich auf 
die Kanzel gebracht war, ſo hatte ſich der Haß 
der Prediger, der von Leipzig und Wittenberg | 
aus unterhalten wurde, fortdauernd fehr leben: 
dig gezeigt gegen »die neuen Heiligen. « Da⸗ 
durch, und weil auch die Profefforen unter ein: 
ander nicht vollkommen einig ſeyn mochten, 


217 


wurde die neue Anſtalt, ehe fie recht gegründet 
war, in eine heilloſe Uneinigkeit geriſſen; aber, 
da Thomaſius, wiewohl er an Allem, was ge— 
ſchah, nähern oder entferntern Antheil hatte, 
dieſen Antheil der Welt nicht immer durch 
Schriften gezeigt hat, ſo können wir uns auf 
die Geſchichte dieſer Verhältniſſe, die eine Ge— 
ſchichte der Univerfität werden würde, nicht 
einlaſſen. Nur das wollen wir bemerken, daß 
Seckendorf guten Theils darum nach Halle ge— 
ſandt war, um die Gemüther zu beſänftigen, 
und Ruhe und Frieden Beer herzuſtellen. 
Auf welche Weiſe dies geſchehen ſey, das wird 
der leicht begreifen, der ſeinen Chriſten-Staat 
kennt, auch mag man es daraus ſchließen, 
daß Thomaſius in der Trauerrede bey ſeinem 
Grabe feine Verdienſte um die junge Univerfi: 
tät ſo unendlich erhebt.) Aber der Ton, mit 


) Thomaſtus erhebt irgendwo Lohenſtein und 
| Hoffmannswaldau fo ſehr, daß er meynt, „‚fie 
könnten wol ſechs Virgilen den Kopf bieten.“ 
Vielleicht war dieſe Außerung nur Nachſicht 
gegen den Zeitgeſchmack; aber, daß er, wenn 
ser Gelegenheit dazu gehabt hätte, ſelbſt in ih⸗ 
re Sprache hätte verfallen können, das bewei- 
ſet dieſe Rede. Eine Periode mag es bezeu— 


welchem er in dieſer Rede über ſich ſelbſt 
ſpricht, kontraſtirt ein wenig ſonderbar mit dem, 
in welchem er das folgende 1693ſte Jahr, die 
Studenten anredet, und ihnen »ihten elenden 
Zuſtand« — das Verſunkenſeyn in die Beſtia . 
lität — vorhält in einem Programm, das ih: 


nen fein Vorhaben eröffnet, „wie er künftig fei: 
ne Lehrart einzurichten, auch über die Kirchen⸗ 
Hiſtorie, die Morale, die historiam Juris Roma- 
no-Germanici, die Institutiones Justiniani und 
den Proceß publice zu leſen geſonnen fey. « 
Vergleicht man wer die Sprache dieſes Pro: 
gramms mit denen, welche er in Leipzig anzu— 
ſchlagen pflegte: ſo möchte es auf den erſten 
Blick ſcheinen, daß er jetzt gedacht habe, wie 
viele, weil er die Studenten nicht brauche, ſo 
habe er das Recht, ſie nach ſeiner Laune eben 
nicht fein zu behandeln; und man würde irre 
werden an dem Character des Thomaſius, 


gen. »Die guten Theils allhier formirte neue 
Univerſität würde dieſen herben Fall mit blu: 
tigen Zähren beweinen, wenn nicht durch Ver⸗ 
liehrung dieſes ihres edelſten Haupts fie zu: 
gleich ihrer Augen beraubet, und von Gott 
gleichſam wiederum zu einem zerſtümmelten 


Körper aus gerechtem Zorn gemacht worden ⸗ 


1 


219 


wenn man ſich nicht erinnerte, daß ſeine neue 
religioſe Überzeugung fein Verhältniß zu ih: 
nen verändert, und, von jener Überzeugung aus, 
veredelt hätte. Schon die veränderte Anrede 
ſollte das beweiſen: in Leipzig nannte er die 
Studenten »meine Herren,« und redete mit ih: 
nen in der dritten Perſon; jetzt redet er ſie 
an, »meine wertheſten Brüder und Freunde,“ 
und ſpricht, wie es richtig iſt, in der zwey— 
ten.) Das Programm aber erregte, wie 


u Ich kann nicht unterlaſſen, den Schluß des 
Programms abzuſchreiben, theils weil es uns 
den Thomaſius als Lehrer noch mehr kennen 
lehrt, theils auch aus andern Urſachen, die ſich 
von ſelbſt ergeben. — „Dieweil es leicht ge⸗ 
ſchehen kann, daß der eine oder der andre 
über meine Lectionen ein Dubium bekommt, 
daß ich nicht zuvor ſehen kann, und es alſo 
nöthig iſt, wenn er daſſelbe bey Zeiten commu— 
nieirt; hiernächſt auch ein gut Vernehmen zwi⸗ 
ſchen den Lehrern und Zuhörern. geſtiftet wird, 
wenn jene dieſen freyen Zutritt verſtatten, 
dieſe aber ſich deſſen mit Beſcheidenheit und 
in gutem Vertrauen bedienen: als gebe ich 
hiermit einem jeden unter Euch freyen Acceß 
zu mir, und ſetze hierzu täglich die Nachmit⸗ 


fagsfinnden von Eins bis drey Uhr aus. Ich 


220 \ Ka | $ 5 


man aus einem der folgendenßſieht, doch den. 
Unwillen der Studenten, »weil es ihnen die 
Wahrheit unverblümt gefagt.« Thomaſius | 
aber »hielt das allgemeine Gemurmel für ein 
gutes Omen und für die erſte Wirkung der 
Arzeney, die nothwendig Reißen im Leibe ver⸗ 
urſachen mußte, wenn ſie wirken ſollte. Und 
darin betrog er ſich nicht; denn die Anzahl 
ſeiner Zuhörer war dennoch ſehr groß, und 
ſelbſt in den Vorleſungen über ſeine göttliche 
Rechtsgelahrtheit, hatte er mehrere als jemals 
zu Leipzig.“), N 
verſpreche Euch geneigt Gehör und ee 
Autwort und biete Euch den Gebrauch meiner 
Bücher an. Jedoch mache ich drey kleine Erin⸗ 
nerungen, gegen welche nicht Wenige von Euch 
anzuſtoßen aepflogen, 1) Macht keine unnö⸗ 
thigen Complimente und verſpart die wunder⸗ 
lichen Titel, bis ihr zu Leuten kommt, die 
ſolche gern hören. 2) Bringet Euer Begehren 
kurz und deutlich für. 3) Wenn Euch geant⸗ 
wortet worden, und ihr nichts weiter zu fra⸗ 
gen habt, ſo nehmet bd euren Abſchied wie— 
der, es wäre denn, daß ich euch ſelbſt nöthigte 
zu bleiben.““ | 9355 
) Das Programm, worin er dies erzählt, iſt 


vom Jahre 1694, und iſt das erſte, in welchem | 


In dieser Jahre ließ Thomaſius drt 
weiſe zwey Schriften drucken, eine in deutſcher 
und die andere in lateiniſcher Sprache, die ei— 
nerley Titel und einerley Tendenz, aber nicht 
einerley Inhalt hatten; nemlich »die Geſchich— 
te der Weisheit und Thorheit« und „Historia 


sapientias et stultitiae.« Nach dem vielver⸗ 


ſprechenden Titel dieſes Buchs glaubt man ſich 


zZuerſt ſehr getäuſcht, wenn man ſtatt einer Ge 
ſchichte der Weisheit und Thorheit — man 
mag ſich unter beyden gedacht haben, was man 
will eine Anzahl kleiner Abhandlungen von 
verſchiedenen Verfaſſern “) findet, die durchaus 
nicht mit einander zuſammen zu hängen ſchei— 


Halle Nie Churbrandenburgiſche Friedrichs 1 

N verſität genannt wird. g 

9 Mehrere ſind von dem Vater des Thomaſius, 
die dieſer unter ſeinen Papieren gefunden. 
Nur wenige find vom Thomaſtus ſelbſt. Die 
Bemerkungen über das Leben und die Lehre des 
Carteſius, find von Leibnitz; ein Beweis, daß 
zwifchen dieſem und dem Thomaſius eine freund- 
ſchaftliche Verbindung ſtatt fand. Leibnitz er: 
wähnt des Thomafius oft rühmlichſt in feinen 
Briefen, und läßt feinem Scharfſinn alle Ge— 
rechtigkeit wiederfahren, obgleich er 3 ſeine 


Philoſophie nicht viel zu halten ſcheint. 


222 5 


nen, a bald über die Reformation der Uni: 
verſitäten Luthers Meynungen erzählen, bald 
das Leben eines Ketzers oder eines Enthuſiaſten 
oder eines Philoſophen, wie des David Geor: 
gen, des Elias Stiefel, des Abälard, beſchrei— 
ben, bald von einem Schlafredner berichten, 
bald die Bruder- und Schweſterliebe in den 
erſten chriſtlichen Kirchen rühmen, bald die Er: 
findung eines künſtlichen Auges verkünden u. 
ſ. w.: aber man darf nur einige dieſer Ab- 
handlungen leſen, ſo entdeckt man den Zweck 
des Thomaſius, den er ohnehin ziemlich deut⸗ 
lich ausgeſprochen hat. Nemlich ihm war das 
einfache, lautere Chriſtenthum, nach Pietiſti⸗ 
ſcher Anſicht, die vollendete Weisheit; die 
Kenntniß davon ſetzt er bey ſeinen Leſern vor— 
aus wie die Anerkennung ſeines Grundſatzes, 
und ſtellt dann eine Reihe Abhandlungen hinter 
einander, die ſich darin allein aber völlig gleichen, 
daß durch ſie in einzelnen Beyſpielen dieſe 
chriſtliche Weisheit gezeigt und gelehrt wird, 
oft an der Thorheit der Welt. Darum war es 
wol zunächſt, warum Thomaſius die drey erſten 
Jahrhunderte des Chriſtenthums und die frü— 
heſte Zeit nach der Reformation als die Pe— 
rioden anſah, die ſeinem Zweck die paſſendſten 


* 223 


Beyſpiele liefern könnten; und darum war es 
wiederum, daß er ſelbſt das Alterthum nicht 
ausſchloß, weil er die Philoſophie als die 
»Manuduction« zum Chriſtenthum betrachtete. 
Die Geſchichte der Weisheit und Thorheit war 
ihm die Kirchen- und die philoſophiſche Ge: 
ſchichte; und da er keine vollſtändige Hiſtorie 
der Entſtehung, und der Verbreitung, des Chri⸗ 
ſtenthums — wozu die Verfälſchung und Ver— 
derbung deſſelben mitgehörte, — liefern konnte, 
ſo wollte er wenigſtens durch Erzählung ein— 
zelner Thatſachen darthun, daß die Weisheit 
in ihrer göttlichſten Schönheit ſich da offenba— 
re, wo man ſich mit Einfalt des Herzens und 
mit heiliger Andacht den Einwirkungen des 
Chriſtenthums hingiebt, und daß ſie von da 
am weiteſten verſchwinde, wo man die— 
ſes durch die Spitzfindigkeiten des Denkens 


und beſonders durch die Scholaſtiſche Philoſo- 


phie empor zu bringen meynt; und dadurch 
wollte er der wahren Kirche Chriſti aufhelfen. 
Alſo heißt es in dem Programm, welches die— 
ſes Buch ankündigte: »Wer das Leben und 
die Lehre Chriſti, ſeiner Apoſtel und der erſten 
Chriſten, nach dem Leben und der Lehre des 
Volks, unter welchem er geboren, richten will; 


3 — Bi In — —— — — 


6 ů * 


224 

wer unter dem Schein, ob wollte man des 
Vaters Noah Schaam mit dem Mantel Sems 
und Japhets zu decken, ſeine eigne Blöße zit 
verhüllen, und durch Sophiſtereyen Pflaſter 
auf die böſen Schäden ſeines Valks zu ſchmie⸗ 
ren bemühet iſt; wer den Anti⸗Chriſt erſt in 
6. oder 7. Seculo ſucht und nicht erkennet, 
wie er allbereit zu den Zeiten der Apoſtel ſich 
eingeſchlichen, mitten unter denen Verfolgun⸗ 
gen nebſt dem guten Weitzen als das Unkraut 
mit gewachſen, zu Zeiten Conſtantini ſich auf 
den Thron geſetzet, und nicht nur dieſen gu— 
ten Kaiſer, ſondern allen ſeinen Nachfolgern, 
die ſich von ihm bey der Naſe herumführen 
laſſen, den Namen des Großen beygelegt; 
wer glaubt, das Chriſtenthum ſey unter ihm 
und ſeinen Nachfolgern in einem recht guten 
Zuſtand geweſen; wer die Meynung hat, daß 
die erſten Reformatores des Pabſtthums allem 
Übel auf einmal abgeholfen, daß die Kirche 
Chriſti bis zu unſerer Zeit in einem guten Zu— 
ftande geblieben, und es dannenhero keiner Re— 
formation mehr bedürfe u. ſ. w.: dem wird 
das Studium der Kirchengeſchichte nichts nü⸗ 
tzen. Wer aber das andre Pabſtthum, das 
Luther prophezeiet, um ſich ſiehet, und wer 


die 


225 


vi eee Jett „feiner Apoſtel und der 

Chriſten mit Einfalt lieſet, und gleich⸗ 
1 Volks und feines Vaters Hauſes 
vergißt, und die angeführten Vorurtheile bey 
Seite leget: bey dem wird die Wahrheit in 
kurzer Zeit mit Gewalt durchbrechen. Wieder⸗ 
umb, wer in der philoſophiſchen Hifterie aus 
Liebe zur Wahrheit ohne vorgefaßte Liebe zu 
einer Secte aus allen das Gute zufammen⸗ 
ſucht, auch feinen hauptſächlichen Endzweck 
ſeyn lãßt zu weiſen, wie die Weltweisheit nach 
dem unverfälſchten Licht der Natur eine Ma⸗ 
nudustion zum Chriſtenthum ſeyn ſolle, für ſich 
aber unvermögend ſey, den Menſchen vollkom⸗ 
men glückſelig zu machen; der ſchärfet ſeinen 
Verſtand in kurzer Zeit ganz merkſich; der 
wird gewahr werden, daß alle heidniſche Phi⸗ 
loſophie von der wahren Glückſeligkeit zu de: 
nen Irrthümern und Scheintugenden abführe, 
daß keine Secte dem Chriſtenthum, oder der 
Wahrheit (denn wo iſt Wahrheit außer dem⸗ 
ſelben ?) mehr Schaden gethan, als die ſcho⸗ 
laſtiſch⸗Atiſtoteliſche; daß die heydniſche Phi: 
loſophie der Urſprung aller Kegereyen gewe⸗ 
ſen, daß dieſelbe noch heut zu Tage eine von 
denen fürnehmſten Urſachen ſey, warumb un⸗ 


» 


226 


ter denen Gelehrten mehr Irthümer und ſchäd⸗ 
liche Laſter im Schwange gehen, als unter den 
Ungelehrten.« — Nur Ein Jahr lang hat 
Thomaſius dieſe beyden Schriften fortgeſetzt: 
warum er ſie aufgegeben hat, hat er, ſo viel 
ich gefunden, nirgend geſagt, obgleich er ſich 
darüber entſchuldigt. Ehe wir aber die Schrift 
verlaſſen, wollen wir wenigſtens das Eine be⸗ 
merken, wodurch er ſich von Neuem den Haß 
der Theologen zuzog, wenn es auch gleich zu 
keinen neuen Schriften von feiner Seite Ber: 
anlaſſung gab. In Leipzig war um dieſe Zeit 
eine Disputation unter des D. Carpzovs Prä— 
ſidio, wahrſcheinlich von ihm ſelbſt geſchrieben, 
vertheidigt, welche die Dreyeinigkeit des Plato 
mit der Dreyeinigkeit der heiligen Schrift ver- 
gleichen ſollte, um die ſchrecklichen Irrthümer, 
beſonders, der Böhmiſten über Gott auszurot- 
ten.) Thomaſius, dem dieſe Disputation 
nicht ſehr erbaulich ſcheinen mochte, nahm in 
ſeine lateiniſche Quartalſchrift einen Aufſatz 


auf, den er unter den Papieren feines feel. 


) De trinitate Platonica etc. cum trin. ser. sac. 
collata ad eruendos tum aliorum, tum recen- 
tinm Boehmistarum de Deo horrendos er- 


Tores, 


5 227 


Vaters gefunden haben wollte, und der den 
Unterſchied der Trinität der Perſer und Plato— 
niker von der chriſtlichen darthun ſollte. ) 
Er ſelbſt ſetzte dieſem Aufſatz einige Bemer— 
kungen hinzu, in welchen er über die Carp— 
gopfche Disputation eben nicht votrtheilhaft 
ſprach, und behauptete, daß Böhme mit ſeiner 
Lehre der heiligen Schrift viel näher geweſen, 
als Carpzob mit feinen metaphyſiſchen Gril— 
len. Denn der Hauptunterſchied zwiſchen der 
Platoniſchen und chriſtlichen Trinität, ſagt er, 
ſey, daß beym Platon die heilige Drey ein ſpecu— 
latives Myſterium, in der heiligen Schrift aber 
ein Myſterium der Liebe ſey: dafür habe Böh— 
me fie erkannt, aber Carpzov habe fie eben fo 
elend (aeque misere) als die Platoniker durch 
Speculation ergründen wollen. — Dieſe Be— 
hauptung, und die Sprache, worin ſie vorge— 
bracht wurde, reizte die Theologen aufs Hef— 
tigſte; ſie ſchrieen wider den Thomaſius auf 
den Kanzeln und ſonſt, und er empfand es 
von Neuem, daß es ſchwer iſt, wider den 
Stachel zu lecken. *) 8 

) Persarum et Platonicorum Trinitas a Ss. Chri- 

Kiener mt Triuitate distinctissima. 


*) Unter dem Titel Democritus Abderita et Hip- 


P 2 


Warum aber Ziomafing anjetzt dieſe 
Schmähungen ruhiger ert wie ehemals, 
das erklärt ſich leicht aus ſeiner veränderten 
Denkungsart; auch giebt er ſelbſt deutlich da⸗ 
von die Urſache an in dem Aufſatz, den er 
1694) drucken Heß, ind den er dem Titel 
\ pOprates Medicus Philosophi morales ad Kuren 
| philosophorum pseudo- -Christianorum bat Thoma. 
ſtus in dieſe Schrift die lateiniſche ueberſetzung 
der Briefe des Hippocrates aufgenommen, die er | 
für ächt zu halten ſcheint; er hat fie mit Aire. 
kungen begleitet, die eine Menge kräftig ge⸗ 
ſagter Wahrheiten enthalten, die ſeinem Zeit⸗ 
alter höchſt bitter ſchmecken mußten. Er ver- 
gleicht die Weisheit dieſer Brirfe, ſowohl in 
ärztlicher, als philoſophiſcher und enger 
Nückſicht mit der feiner, Zeit, und wirft mans 
che Frage auf, deren Beantwortung dieſe nicht 
im Vortheil zeigt. b Dan 
N Ay dem vorigen Jahre hatte Thomaſius noch 
eine Ueberſetzung der Memorabilien des ©o- 
crates drucken laſſen, aber da er nur Nie Ue⸗ 
berſetzung des Franzoſen Charpentier überſetzte, | 
und deſſen Fehler wenigſtens nicht vermied und 
verminderte, ſo haben wir ſeine Arbeit nur in 
einer Note anführen wollen Thomaſius ſcheint 


hin und wieder Beweiſe zu geben, daß er den 


29 
gab: »feinem gnädigſten Churfütſten und Herrn 
Friedrich IIE. feine unterthänige Liebe zu bezei— 
gen lieſet D. Chriſtian Thomas ſich ſelbſt 
eine nachdrückliche und ſcharfe Lection.« Der 
eigentliche Zweck dieſer Lection, in welcher 
„»die Vernunft der Unvernunft das Capitel 


las, « lag wol, wie wir glauben, tiefer, als es 


auf den erſten Blick ſcheint. Denn es war 
dem Thomaſtus, dünkt uns, nicht ſowol um ſich 
ſelbſt zu thun, als um die junge Univerſität, 
die der edle Mann zu einer wahren Schule 


Platon und den Ariſtoketes griechiſch leſen 


konnte: darum muß man ſich wundern, daß 


der Mann ſich die reine Qaelle erſt durch den 


Franzoſen trüben ließ, ehe er daraus ſchöpfen 

mochte. — Auch kam noch 1693 heraus: Do-. 
decas Quaestion. promiscuar. Historico - phil. — 
juridic. — kleine Diſſertationen, darin, wie 
Stolle ſich recht gut ausdrückt, allerhand cu- 
riöſe Fragen auf eine paradoxe Art beant⸗ 
wortet werden. Die hiſtoriſchen find die be— 
ſten. Auf die philoſophiſchen wird jeder unſe— 
rer Leſer die Antwort wiſſen, wenn wir an- 
ders ſeine jetzige Anſicht deutlich genug darge— 
legt haben, z. B. auf die: ob ein Schuſter 
ein Philoſoph ſeyn könne? ö 


230 


der Tugend, der Weisheit und der Gottſelig⸗ 
keit erheben wollte, weil er ſie als ſein Werk 1 
anſehen konnte, und weil er ſich von ihrer Ju⸗ * 
gend vielleicht eine Folgſamkeit verſprach : die 
es werth war, ihr ein großes Beyſpiel zu geben. 
Newmlich das Programm, worin er, wie wir 
oben erzählten, den Studenten, und mittelbar N 
auch den Lehrern, ſo derbe und bittere Wahr⸗ | 
heiten ſagte, war auf dieſen Zweck gerichtet, 
aber es war wol nicht genau berechnet gewe⸗ 
ſen. Ohne Wirkung mochte es nicht geblieben 
ſeyn; aber es hatte auch manche Erbitterung 
veranlaßt, und dadurch vielleicht die Gemüther 
entfremdet, die es vereinigen wollte. Konnte 
Thomaſius hoffen, durch irgend etwas die Ge⸗ 
mũther für ſeinen Zweck leichter zu gewinnen, 
als wenn er an ſeinem eigenen Beyſpiel öf— 
fentlich zeigte, auf welche Weiſe der 
Menſch ſich ſelbſt vergeſſen und reinigen müſ⸗ 
fe, ehe er würdig wird, die Weihe der Weis- 
heit und Tugend zu empfangen? Er fand bald 
dazu eine paſſende Gelegenheit. Churföͤrſt 
Friedrich III. war in Halle geweſen, um der 
feyerlichen Einweihung der neuen Univerficät, 
die ſeinen Namen erhielt, beyzuwohnen, und 


hatte in einer dreymaligen Anrede an die 
* 


231 


Lehrer und Schüler dreymal die Worte wies 
derhohlt: Ich empfehle Euch für allen Din⸗ 
gen die Einigkeit; und dieſe Worte ſind es, 
an welche Thomaſius ſeine Rede anknüpft. “) 
Nachdem er, etwas weitläuftig „angeführt, 
was Friedrich geſagt und gethan, ſo erzählt er, 
was er dabey gedacht, und wie er von feiner 
Seite die Abſicht des Churfürſten befördern 
möge. Seiner Sittenlehre gemäß kommt jedes 
Laſter, alſo auch die Feindſchaft und, Uneinig⸗ 
keit, aus den drey Affecten des Geldgeizes, 
der Ehrbegierde und der Wolluſt. Thomaſius 
prüft ſich dieſem gemäß, und ſpricht ſich von 
dem erſten gänzlich frey; aber er legt demun⸗ 
geachtet die Schändlichkeiten, die der Geldgeiz 
erzeugt, und befonders die verderblichen Fol— 
gen, welche er in den Verhältniſſen einer Uni- 


Etwas drolig iſt es, daß, wenn man auf dem 
Titel gefunden hat, es ſey dies eine Lection 
an ſich ſelbſt, man, en man das Blatt um: 
ſchlägt, die Anrede findet: „Gnädigk, Höchſt⸗ 
Hoch- und Vielgeehrte Herren, wertheſten 
Freunde.“ Die Rede iſt eigentlich an die pro⸗ 
feſſoren und Studenten gerichtet, und Thoma— 
ſius erzählt nur von ſich; es iſt eine Rede 
über ſich, nicht an ſich ſelbſt. 


verſität bewicke, ſo weitläuftig und e. ernſtlich 
vor Augen, daß es offenbar t ſeine Abſicht 
war größer und eke fn als ſie gewefen ſeyn 
würde, wenn er mit philoſophiſcher Freymũ⸗ 
thigkeit, die oft nichts anders iſt, als unphilo⸗ 
ſophiſche Hoffart, der Welt feinen Chatacter 
hätte bekannt machen wollen. — Der Ehr⸗ 
geiz dagegen habe ihn, wie er geſteht, von 
Jugend auf ziemlich verführet, und wäre der 
Leitſtern ſeines meiſten Thuns und Laſſens ge⸗ 
weſen. Aber der Folgen wegen, die er wieder 
darlegt, ermuntert er ſich, ihm zu widerſtehen. 
| »Trachte nicht darnach, ſagt er unter andern, 
dir einen Anhang zu machen, oder über andre 
zu herrſchen: nimm dich aber des gemeinen 
Beſten und der Unſchuldigen nach Vermögen 
an, und laß dir das Maul nicht ſtopfenꝰ von 
denen, die ſolches zu 0 nicht befugt ſind. 
Lehre die Wahrheit frey und ungeſcheut, und 
widerlege die Irrthümer zwar kräftiglich, aber 
beſcheiden und ohne Bitterkeit. — Laß es 
ſeyn, daß man dir auf das ſchimpflichſte nach⸗ 
redet; du biſt ſchuldig, in dieſem Stücke etwas 
zu überſehen, denn du haft mit deinen Stachel— 
ſchriften in das Wespenneſt geſtört, und wenn 
es um der Wahrheit Willen geſchieht, haſt du 


233 


— 


dich zu tröſten, daß es andern vor dir eben fo 
gegangen. Laß es ſeyn, daß man dich für ei: 
nen Atheiſten und Enthufiajien ausruft; das 
hat man alten Philoſophis und ſogar Chriſten 
gethan. Laß dich deswegen nicht ſchüchtern 


machen, ſondern lehre die Wahrheit, die Gott; 


dir zu erkennen giebet. Der wird auch die 
Wahrheit fortzupflanzen wiſſen, wenn er gleich 


dich nicht zum Werkzeug braucht, und die 


Steine werden rufen, wenn die Menſchen 
ſchweigen müßten.« — Was endlich die Wol— 
luſt betrifft, ſo geſteht Thomaſius, daß ſie in 


einem hohen Grade unter ſeinen Gemüthsnei⸗ 


gungen ſtehe: aber ſie iſt in ſeiner Sittenlehre 
grade der Affert, der von den fehlerhaften die 
meiſte vernünftige Siebe zuläßt. Dieſer Nei— 
gung aber habe, wie er ſagt, der Ehrgeiz eine 
Maske vorgehalten, daß die Welt ſie nicht ba; 
be erkennen können; in der That aber ſey er 
„kein Feind des Weins, der Speiſe, des Frauen— 
volks, des Tanzes, der zur Wolluſt reizenden 
Muſik, ) und der lieben Töchter der Wolluſt, 


) Daß die Muſik als Muſik, d. h. als rei⸗ 
ner Zuſammenklang von Tönen ohne Verbin— 
dung mit Worten zur Wolluſt reitze — daran 


zweifle ich. Die Lydiſchen Flöten ſchienen dem 


234 us SIT. 


der Faulheit und des Müßiggangs. Der ver⸗ 
derbliche Einfluß dieſes Affects wird gezeigt, 
und die Rede mit einer Ermahnung an alle 
Lehrer und Schüler beſchloſſen, ſich auf gleiche 
Art ſelbſt zu prüfen; dann würde Einigkeit 
und Friede die Seegenreiche Frucht ſeyn. 

Außer einigen Diſſertationen ließ Thoma 
ſius in dieſem Jahr nichts mehr drucken; aber 
ſeine akademiſchen Geſchäfte ſetzte er mit uner: 
müdetem Eifer fort. Auch beſorgte er eine 
neue Auflage von dem bekannten Buche des 
noch bekanntern Myſtikers, Peter Poiret, von 
der dreyfachen Gelahrtheit, “) und ſetzte ihm 


alten Geſetzgeber freylich gefährlich; aber, wie 
es mir ſcheint, nicht, weil ſie es an und für 
ſich geweſen wären, ſondern weil fie entwe⸗ 
der üppige Tänze oder Lieder begleiteten, oder 
weil ſie zum wenigſten die Erinnerung an üppi⸗ 
ge Scenen aufregten. In einer ſolchen Ver⸗ 
bindung aber reizt gewiß nichts mehr zur Wol— 
luſt, als die Muſtik. 

) De eruditione solida, superficiaria et falsa. > 
Poiret nennt nur die Gelehrſamkeit folide, wel: 
che durch den intellectum passivum von einer 
göttlichen Erleuchtung erkannt wird; was ihm 


alsdann die eruditio superficiaria nnd falsa ſeyn 


235 


eine Vorrede vor, in welchem er es aufs Höch— 
ſte empfiehlt: ein trauriger Beweis, wohin ein 


weiterſtrebender Mann in einem ungünſtigen 


Zeitalter gebracht werden kann. Peter Poiret 
war gewiß kein gemeiner Kopf; aber feine les 
bendige Phantaſie, umherirrend im unendlichen 
Dunkel der Myſtik, lehrte ihn dasjenige ver— 
geſſen, was ſein Geiſt durch die göttliche Kraft 
des Denkens nicht hatte ergründen können; 
überhaupt ſcheint uns zur Schwärmerey einer 
der ädlern Geifter zu gehören, die das Gemei— 
ne für gemein erkennen, die aber das Unglück 
haben, daß ihnen auf dem Fluge zur Wahr— 
heit und Gewißheit die Schwinge erſchlafft: 
daher irren ſie beſtändig über dem Gewöhnli— 
chen umher, und weil ſie nicht höher können, 
ſo glauben ſie in der Ahndung des Höhern, 


wird, iſt leicht zu vermuthen. Von dem in- 
tellectu activo, d. h, von der Vernunft hält er 
gar nichts. Gut, daß er für feine Ver⸗ 
nunft ein Zeugniß durch ſeine Schrift ab⸗ 
legt; Er beweiſ't im Grunde durch ſein Thun, 
daß er fih ſelbſt durch fein Wort verleum⸗ 
det. — Das Buch kam heraus zu Amſterdam 
1692. Vor der Ausgabe von Thomaſtus ſteht 


Frankfurt. 


0 
7 
4 


236 


es ſelbſt zu beſitzen. Poiret hat gute Gedan: 
ken, aber er verachtet, wie Leibnitz ſagt, was 
nicht zu verachten iſt: gründliche Gelehrſam⸗ 
keit. 5 Thomaſius riß ſich ſpäter von der Geſell⸗ 
ſchaft los, in welcher er jetzt ſo viel Heil hoffte, 
und machte dies wiederum in einer Vorrede 
zu eben dieſem Buche (1708) der Welt bekannt. 
Seinem Kopfe machte das Ehre; ob u es zum 
Glück ſeines Lebens Beach das kann kein 
Andrer ee 9. Rau 


9 In einer 1 Abhandlung: Erinnerung 

wegen eines gedruckten Buchs, erzählt Shane: 
* fius, daß er in dieſem 1694 ſten Jahre eine 

Reihe Sätze aufgezeichnet habe, in denen er 

ſeine Confeſſtion niedergelegt. Den Kern der» 
ſelben brachte er in eine Tabelle, 211 theilte 
ſte feinen Zuhörern in der Kirchengeſchichte 
mit. Dieſe Sätze und dieſe Tabelle erſchienen 
bald darauf gedruckt; Thomaſius prokeſtirt 
feyerlich dagegen und bittet alle Obrigkeiten 
das Schriftchen zu konfisciren; nicht, weil er 
den Inhalt nicht anerkannte, ſondern weil er 
fürchtete mißverſtanden zu werden, und weil 
er es uberhaupt nicht für den Druck beſtimmt 
hatte. Es iſt uns nicht möglich geweſen, das 
Büchlein zu erhalten; aber einen Auszug da⸗ 


von hat Brucker. 


237 
Inm folgenden Jahr, 1696, gab Thomaſius 


ein Selbſtgeſpräch heraus, um der Welt zu 


zeigen, in welchem Verhältniß er in der Zus 
kunft gegen ſie zu ſtehen entſchloſſen ſey, und 
daß er wol wiſſe, wodurch er, von ſeiner Sei— 
te, dies Verhältniß zu einem feindlichen ge— 
macht habe. Er gab ihm wegen der Zeit, — 
und nicht, wie ſeine Gegner ſagten, weil es 
Gedanken enthielt, die er in den Feyertagen 
aber nicht im übrigen Jahre befolgte — den 
Titel „Oſtergedanken, vom Zorn und der bittern 
Schreibart,« und es enthält wirklich Gedanken, 
die ſich unter einander verklagen und entſchul⸗ 
digen. Denn »der Geiſt« iſt nicht etwa das 
gute Princip, das dem Menſchen als ein 
Zeugniß ſeiner göttlichen Abkunft mitgegeben 
iſt, und dem »das Fleiſch« als das böfe, oder 


als der blinde Trieb ſinnlicher Luft gegenüber: 


ſtände: ) ſondern auch dieſes iſt beym Tho— 


) In der Geſchichte der Weisheit und Thorheit 
ſagt Thomaſtus, Th. II. S⸗ 151: »Das Reich 
Gottes und ſein guter Geift iſt in uns, und 
der Teufel würket in =. Kindern der Ver⸗ 
dammniß. Wer aber Sott nicht in ſich be 
fühlet auch den Teufel nicht.“ 


1 1 
Fl 3 1 
N 


8 | N 


maſius ehrenwerth, denn es handelt nach 
Gründen, und liebt die Wahrheit. Der Geiſt 
iſt vielmehr, nach Thomaſius Anſicht, der Chriſt 
in ihm, der den Menſchen zu beſſern bemüht 
iſt. Er erzählt ſelbſt, in der Abfertigung des 
Pietiſtiſchen Unfugs, daß der fromme Spener 
ihn wegen ſeiner ſatyriſchen Schreibart treffli⸗ 
che Erinnerungen und Vermahnungen ge⸗ 
than: *) daher darf man wol ſagen von dies 
ſen Oſtergedanken, der Geiſt in ihnen iſt Spe⸗ 
ner und das Fleiſch iſt Thomaſius. Jener hält 
dieſen ſeine ſatyriſche und bittere Schteibart 
vor; dieſet behauptet zwar, fein Zorn ſey da: 
her entſtanden, »daß er ſehen müſſen, wie die 
Wahrheit und Frömmigkeit ſo verfolget werde, 
und daß die Welt die Lügen für Wahrheit 
achtet, und Heucheley für Frömmigkeit aus⸗ 
giebet.« Aber der Geiſt weiß das Fleiſch durch 


) Speners Gründe wirkten damals nichts; er 
hatte Thomaſtus Satyren nicht geleſen, darum 
hatte dieſer Gegengründe. „Der Pietiſtiſche 
Unfug“ iſt ein erbärmliches Schriftchen, voller 
Lügen und VBerkeumduntzen Thomaſius ließ 
eine Abfertigung deſſelben ee in welcher 


er ihm das beweißt. 


239 
ſeine Fragen ſo kleinlaut zu machen, daß es 
| geftehen muß, Selbſtliebe, Ehrgeiz und die fü: 
ße Luft der Rache habe nicht wenig Antheil 
daran gehabt, daß es die Wahrheit — denn 
daß es die geſagt habe, geſteht der Geiſt — 
ſo geſagt, wie es gethan. Zwar bringt das 
Fleiſch manchen trefflichen Grund für die gute 
Seite der Bitterkeit im Schreiben vor: alle 
Wahrheit ſey bitter. Aber eben deßwegen ſoll 
man ſie, wie der Geiſt behauptet, nicht noch, 

1 fein Müthgen zu kühlen, durch und 
und durch vergällen. »Grauſame Wahrheit iſt 
keine Wahrheit mehr, ſondern Grauſamkeit. 
Fleiſch. Es iſt aber Heroiſch, wenn die 
Wahrheit mit einem Löwen Angeſicht ſich bli⸗ 
cken läßt. Geiſt. Löwen gehören zu Löwen 
und Menſchen zu Menſchen. Es iſt beſſer, 
die Wahrheit hat ein freundliches Menſchen— 
geſicht, als das Geſicht eines Löwen; willſt 
du aber etwas anders, als Menſchliches haben: 
die liebliche und von aller Bitterkeit entfernte 
Wahrheit hat ein Engels-Angeſicht.« Die 
Gründe des Geiſtes bringen das Fleiſch end: 
lich dahin, daß es ſeine bisherige bittre Schreib— 
art bereuet, Alle, die es damit geärgert, um 
Verzeihung bittet, und dazu, daß ſie die Wahr— 


240 
heit ſelbſt, die es geſagt, nicht ihrer bittern 
Schale wegen läſtern wollen: und endlich ver⸗ 
ſpricht es, daß jeder ſich künftig zu ihm Liebe, 
Sanftmuth und Weiſung zu verſehen haben 
ſolle.) Aber, wenn auch nicht das Fleiſch 
willig und der Geiſt ſchwach war, ſo entband 
eine veränderte Überzeugung doch ſpäterhin 
dem Thomaſius ſeines Verſprechens, Wia n 
nach ſeiner Meynung. Ke 

In eben dieſem Jahr „ Thema, 
ſius das Buch des Monzambano (Pufendorfs) 
de statu imperii Germanici mit Anmerkungen, 
die ſeiner nicht unwürdig ſind, die aber, in ſo 
fern ſie nicht juriſtiſch oder hiſtoriſch ſind, mit 
ſeinen früher geäußerten Principien über das 
Naturrecht zuſammenhängen. Zu gleicher Zeit 
ließ er eine Disputation, von Brenneiſen ver- 


faßt, 


*) Die Ueberzeugung, daß die ſatoriſche S. 
art unerlaubt ſey, hatte Thomaſtus auch ſchon 
in ſeiner Apologie und in der „Abfertigung 
des Pietiſtiſchen Unfugs ausge ſprochen; aber 
man kann auch bey ihm ſelbſt Gründe finden, 
wodurch er widerlegt werden kann; und zwar 
aus Schriften nach dieſer peilbde, 3 nn. in der 
Vorrede zu den juriſtiſchen Händeln. 


241 


faßt, drucken, »über das Recht der Fürſten in 


Mitteldingen, ) oder Kirchen⸗Ceremonien,« 
und begleitete ſie mit einigen Erinnerungen, 
| worin er ihre Grundſätze zu den ſeinigen mach— 
te. Das waren fie ohnehin; denn Brenneiſen 
war Thomaſius Zuhörer, und dieſer hatte die 
Grundſätze, von welchen Brenneiſen ausgeht, 
faſt wörtlich in feinen Vorleſungen aufgeſtellt, 
wie ſeine Lehrſätze beweiſen, »vom Recht eines 
chriſtlichen Fürſten in Religionsſachen,« die er 
ſeinen Zuhörern dictirt hatte.) Aber auch 
dieſe Lehrſätze ſind nicht neu; ſondern ſte ſind 
größtencheils entweder von Pufendorf, 0 oder 
von ihm ſelbſt in ſeinen frühern Schriften auf⸗ 
geftelle, oder feine pietiſtiſche Anſicht machte 
fie nothwendig. Da fie aber noch im Deut⸗ 
ſchen nie ſo deutlich ausgeſprochen, und da ſie 
allen Thomaſiſchen Schriften dieſer Art zum 


Grunde liegen, fo wollen wir einige der vor- 


) De jure principis circa adiaphora. Deutſch ſteht 
fie: unter den auserleſenen Schriften. Halle 
1705. 

) Sie machen, etwas fonderbar, den erſten Han: 

g del des zweyten Theils der philoſophiſchen und 
juriſtiſchen Händel aus. 

) In dem Buche: de habitu religionis. 


Q 


1 
4 
\ 


4 


a 1 

züglichſten, die hieher gehören, davon anfüh⸗ 
ren, um ſo mehr, da ſie dem Thomaſius einen 
neuen Streit zuzogen, der auf ſeine äußere 
Lege zwar keinen Einfluß hatte, der aber doch 
die Beranlaffung wurde, daß er feine Apologie 
ſchrieb und darin die Geſchichte ſeiner Ver⸗ 
treibung aus Leipzig erzählte.) Sehr gut 
beſchreibt Thomaſtus den Staat oder das »ge⸗ 
meine Befen« alfo: 5 5 die En 


J Witz bi hier einmal für immer N 
daß faſt jede Schrift, die Thomaſtus bekannt 
machte, Widerſpruch fand, ſo wie es ihm ſel⸗ 
ten an Vertheidiger fehlte Manche brachten 


Satyren und Pasquillen zum Vorſchein, die 


wiederum ähnliche Erſcheinungen don der an: 
dern Sekte veranlaßten. Wir können uns un⸗ 
möglich darauf einlaffen, fie anzuführen; wir 
werden es vielmehr nie thun, fo wie wir es 
nicht gethan haben, als nur da, wo Thoma: 
ſius ſelbſt ſeinen Gegnern antwortete. Auch 
würden wir wol wenig Dank ärnten, wenn 
wir dergleichen Schriften aus der Bergeffen: 
heit zögen, die fie verdienen. Die beſſern 
Gegner und Schüler des Thomaſius haben 
Werke von Werth geliefert: die wir zu chara— 
eferifiren der Literärgeſchichte überlaffen müſſen. 


243 


um gemeinen Friedens willen mit der höchſten 
Gewalt verſehene Geſellſchaft.« Der Fürſt 
„führte dieſe höchſte Gewalt. »Die Regalien 
des Fürſten haben nur die Erhaltung des ge— 
meinen Friedens zur Abſicht.« Darum »iſt 
das Thun und Laſſen der Bürger, das den ge— 
meinen Frieden nicht hindern noch befördern 
kann, den Rechten eines Fürſten nicht unter— 
worfen.« Aber »die bürgerliche Geſellſchaft iſt 

wegen des Gottesdienſtes nicht gemacht, beför: 
dert auch die Frömmigkeit nicht, hat den Got— 
tesdienſt nicht erfunden, braucht auch ſelbigen 
nicht als ein Inſtrument, die Uaterthanen zu 
regieren. Dies iſt von dem innern Gottes— 
dienſt der natürlichen Religion zu verſtehen, 
aber »der reicht nicht hin zu des Menſchen Se— 
ligkeit. « Gott hat den Menſchen offenbart, 
wie er verehrt ſeyn wolle: ſelbſt den Ceremo— 
nien nach. »Aber von der jüdiſchen Religion 


und den Regalien der jüdiſchen Könige kann 


man nicht (wie man doch nach dem Thoma— 


— 


ſius noch ziemlich allgemein meynte) auf die 


chriſtliche, und die Regalien chriſtlicher Fürſten 

ſchließen.« — Ein chriſtlicher Fürſt darf kei— 

nem fremden Volk ſeine Religion aufzwingen 

wollen, und »bey feinen eignen iſt er ſchuldig, 
Q 2 


* 


AN. RE — 


ihre Lehrſätze zu dulden, wenn fie gleich irrig 
ſind, und ihre Kirchengebräuche, die ſie für 
göttlich halten. « Aber »unter dem Prätext 
der Religion braucht er nicht ſolche Lehren zu 
dulden, die den allgemeinen Frieden und Ruhe 
grade zu (directe) turbiren.« Kann der Zürft 
entſtandene Spaltungen nicht heben, ſo ſoll er 
die Partheyen dulden, aber keine gegenfeitige 
Läſterungen erlauben; denn durch einen Rechts⸗ 
ſpruch darf er keine Meynungen in Religions- 
ſachen entſcheiden wollen; und noch weniger 
ſoll er dies Concilien, Synoden, Miniſterien 
und Facultäten erlauben. Aber weil der Fürſt 
für die Ordnung im gemeinen Weſen zu fors 
gen hat, und die Kirche ſich im gemeinen We⸗ 
ſen befindet, ſo »gehört die Ordnung in den 
Religionsſachen zu dem Rechte des Fürſten.« 
Glaubt die Gemeine, ihre Kirchengebräuche 
ſeyen von Gott befohlen, fo darf der Kürft fie 
nicht gewaltſam ändern; in ſolchen Dingen 
aber, die nach dem Geſtändniſſe der Gemeinen 
zu den Mitteldingen gehören, hat er Macht 
zu verordnen, was er dem gemeinen Weſen 
am zuträglichſten hält. | | 
Dieſe Sätze und andre, die x ihnen flies 
ßen, find es, welche der Disputation des 


245 


Brenneifen zum Grunde lagen; und der junge 
Mann trägt fie mit der lebhaften Polemik ge- 
gen ſein Zeitalter vor, die man einen Jüngling 


noch nie verziehen] hat. Er beruft ſich fo oft 


dabey auf die Geſchichte, deren Werth jeder 


Schüler des Thomaſius zu ſchätzen wußte, und 


ſpricht dabey ſo derb wider die kormula con- 
cordiae, daß D. Carpzov in Leipzig es ihm und 
ſeinem Führer nicht vergeben haben würde, 
wenn auch kein andrer Umſtand hinzugekom⸗ 


men wäre, der den Mann noch mehr gereizt 


hätte. Dieſer Umſtand war, daß Carpzovp ſelbſt 
ſchon, ohne daß Thomaſius feiner Verſicherung 


nach es wußte, den Titel einer Disputation be: 


kannt gemacht hatte, »vom Rechte theologiſche 
Streitigkeiten zu entſcheiden,« *) deren Inhalt, 


wie man leicht vermuthen mag, »das lutheri— 


ſche Pabſtthum« begründen ſollte. Dawider 


ſtießen die Grundſätze Brenneiſens und feines 


Lehrers; darum erzählte Carpzov feiner Ge: 


2 


meine ſogleich, »daß an einem benachbarten 
Orte, wo aller Unflat zuſammen fleußt,« eine 
Disputation gedruckt und gehalten ſey, die 


gottloſe Lehren enthalte. Um fie aber deſto 


1 
) de jure dedicendi controversias theologicas. 


* 


246 


beſſer wiederlegen zu können, bediente er ſich 
eines Kunſtgriffs, den mon, wie Thomaſtus 
fagt, der päbſtlichen Kleriſey abgeborgt hatte. 
Er bewirkte durch ſeinen Bruder, den Conſi⸗ 
ſtorial⸗ Aſſeſſor, daß nicht nur dieſe Disputa⸗ 
tion, ſondern auch der Monzanbano, der So: 
lien wegen, welche Thomaſius ihm beygefügt 
hatte, in Sachſen konfiscirt wurden. Darauf, 
als kein Menſch das Buch mehr hatte, ließ er 
ſeine Disputation drucken, und machte ſei⸗ 
nen Leſern weiß, er habe Thomaſius und 
Brenneiſen widerlegt.) Aber jener begleitete 


I 


„) Thomaſtus fagf von diefer Disputation; „ich 
halte es für eine Schickung Gottes, daß Herr 
Carpzovius fie ſchreiben müſſen. Der Papiſti⸗ 
ſche Clerus hat fonften ein Axioma: man ſollte 
des Vaters Noä Schaam nicht aufdecken, Dank, 
man ſollte die Irrthümer der Cleriſey nicht of: 
fenbar machen. Aber ich meine in dieſer Dis» 
putation hat Noah ſeine Schaam felber ent⸗ 
decket. Denn es wird fo offenbar darinnen 
großen Herrn ihr ganzes Jus circa sacra ge- 
nommen und zu einem Strohwiſch gemacht, 
daß man über die Verwegenheit erſchrickt; und 
der Cleriſey wird alle weltliche Macht in die 
Hände gegeben, daß es auch ein Jeſuit nicht 


Ä 247 
ſpäterhin dieſe Disputation des Carpzov mit 
Noten, die ſie verdiente, und die ihren Zweck 
und ihren Werth nicht verhfillt ließen; dieſer 
aber gab, 1696, ſein »Recht Evangeliſcher Fürs 
ſten in theologiſchen Streitigkeiten« zu feiner 
Vertheidigung heraus; und diefer Vertheidi⸗ 


gung fügte Thomaſius feine Apologie bey, wor⸗ 


in er die Geſchichte ſeiner Händel in Leipzig 
erzählt; und weil das Urtheil der Schöppen 
daſelbſt wider ihn, daß es des Verhafts wür⸗ 
dig ſey, nicht, obwol er ſich Mühe darum ge⸗ 
geben, aufgehoben war, und alſo bey Man— 
chem noch ein Verdacht gegen ihn exiſtiren 
konnte: ſo benutzte er dieſe Gelegenheit, ſich 
gegen jede Beſchuldigung zu vertheidigen, die 
man, ſo viel er wußte, gegen ihn vorgebracht 
hatte.) Dieſe Vertheidigung, bey deren Ab— 


ärger machen können. Und doch müſſen der⸗ 
gleichen Schriften rauoniſiret, und die Politici 
beredet werden, als wenn an derſelben die 
Wohlfahrt der ganzen Evangeliſchen Kirchen 
hinge, hingegen Thomaſti Schriften ſeyn gott; 
loſe, Majeſtät läſternde, Atheiſtiſche, die Evan: 
geliſche Kirche kränkende u. ſ. w. 2% 
) Sie find in dem Bedenken des Oberhofpredi— 


gers Carpzav über den Pietismus, wovon wir 


248 


faffung er Gott gebeten, feine Feder zu regie: 
ten, daß er nicht mit Zorn und Bitterkeit ſchrei⸗ 
ben möge, um ſeine Oſtergedanken nicht Lügen 
zu ſtrafen, geht bis zu Brenneiſens Disputa⸗ 
tion herab, und iſt mit Würde und Kraft ver⸗ 
fertigt.) Und wie ſehr Thomaſius die Ger 


oben ſprachen, enthalten. Beym Conſtſtorio 
konnte Thomaſius es nicht dahin bringen, daß 
ihm die Anklage femmunicirf wurde. | 
) Am nachdrücklichſten und faſt am weikläuftig⸗ 
ſten vertheidigt er ſein ungünſtiges Urtheil von 
der formula concordiae, welche den Theologen 
- „Das palladinm ihres After-Pabſtthums war. c 
Er erklürk ſie — da ſie nicht eine ſimple Con · 
feſſion des Glaubens, fondern ein Zwangbuch 
ſey, was geglaubt werden fol — für ein 
böchſt gefährliches und antichriſtiſches Buch, 
das Unduldſamkeit, Verketzerung, Verjagung 
von Haus und Hof, Aufruhr und Zwieſpalt, 
Mord und Todtſchlag veranlaßt habe, welches 
er aus der Geſchichte zu erweiſen ſich erbietet; 
und daß fie dergleichen noch ferner thun wer⸗ 
de, darüber appellirt er an die Erfahrung der 
Zukunft. — Wegen dieſen Behauptungen gab 
Friedrich Auguſt, jetzt König von Pohlen, noch 
1679, der Univerſität Leipzig den Befehl, dieſe m 
gefährlichen Prineipia zu widerlegen. 1696 


. 249 
rechtigkeit ſeiner Sache fühlte, und die Ueber⸗ 
legenheit ſeines Geiſtes kannte — welches bey⸗ 
des aus den gegenſeitigen Schriften ohnehin 
anerkannt werden muß, — davon iſt das ein 
Beweis, daß er, zur endlichen Ausgleichung des 
Handels, votſchlägt, daß eine unpartheyiſche 
Commiſſion darüber richte, oder, Falls dies 
nicht annehmlich ſcheinen ſollte, daß die Sache 
durch öffentliche Disputationen abgethan wer⸗ 


de, weil die Weitläuftigkeit des Schriftwech⸗ 


ſels ihm unerträglich geworden ſey. Dabey ges 
Hehe er der ganzen Zahl feiner Gegner acht 
Tage zu, um ihn für jeden beliebigen Satz ſei⸗ 
ner Schriften anzugreifen; er aber verlangt 
allein nut Einen Tag, um ſie in ihrer armen 
Blöße darzuſtellen. — Seine Gegner haben 
die Herausfoderung, oder vielmehr dieſe Be⸗ 
reitwilligkeit zur Verantwortung, (denn eine 


aber wird der Lehre wegen, die wir jetzo be 
kennen,“ geboten, ſich aller harten 1 bit⸗ 
tern Ausdrücke gegen den Thomaſtus, »die wir 
nicht anders als ſehr mißfallig vernehmen kön⸗ 
neu zu enthalten, und das Conßgciren einzu⸗ 
ſtellen. Dieſer Befehl ift an das Geheimeraths⸗ 
Dirxectorium. Thomaſtus hat bepde ohne Noten 


abdrucken laſſen. 


2 | u 


„ eee eee e e e e S W 00 0 


250 
Herausforderung ſchien dem frommen Mann 
zu ruchlos) nicht angenommen; wenigſtens hat 
der Dispüt nicht Statt gehabt, aber ſie kon⸗ 
fistieten feine Schrift, fobald fie erſchienen war. 
Ein andres Werk, welches Thomaſius noch 
1696 herausgab war »die Ausübung der Sit⸗ 
tenlehre« oder »von der Arzney wider die un⸗ 
vernünftige Liebe, und der zuvor nöthigen Er⸗ 
kenntniß feiner ſelbſt.« Sie fährt auf die Weir 
ſe fort, wie die Einleitung angefangen hatte; 
ſie zeigt, was iſt, nicht was ſeyn ſoll; aber 
ſie ſagt manche ſchöne und kräftige Wahrheiten, 
die nur eine große Kenntniß der Menſchen 
dem gemeinen Leben abſehen konnte. Beſon— 
ders ſcharfſinnig zeigt ſich Thomaſius, wo er 
die Scheintugenden aus der Vermiſchung der 
Laſterhaften Affecten hetleitet. Aber während 
der Arbeit ging ihm ein Licht auf, wovon er, 
wie wir bey der Einleitung in die Sittenlehre 
erwähnt haben, vorher keine Ahndung gehabt 
hatte. Nemlich er kam auf die Frage: wie 
die Beſſerung des Menſchen möglich ſey? und 
er hilft ſich hier auf eine Art, die ihm, bey 
feinem Pietismus eben fo beruhigend ſeyn muß- 
te, als ſie, nach unſerer Meynung, ſcharfſinnig 
iſt. In dem vorletzten Capitel handelt Tho⸗ 


251 


mafius erſt eigentlich von der Arzeney wider 
die unvernünftige Liebe, oder von dem, was 
die Vernunft lehrt, als das Mittel zur ver— 
nünftigen Liebe zu gelangen. Er giebt dabey 
keinen kathegoriſchen Imperativ, aber doch, 
wie er es ſelbſt nennt, manchen Handgriff, der 
nützlich ſeyn würde für den Zweck »bey einem 
guten Vorſatz.« Thomaſius war nicht der 
Mann, der ein folches Wort ſchreiben konnte, 
ohne wenigſtens ſich ſelbſt Gründe darüber an— 
zugeben; daher fragte er ſich weiter: aber wo⸗ 
her denn dieſer gute Vorſatz? Carteſius und 
Ariftoteles gaben ihm freylich eine Antwort; 
aber da dieſe ihm nicht genügte, ſondern es 
vielmehr ſchien, ſie hätten den Hauptpunct um⸗ 
gangen, ſo waren ihm Luthers Grände gegen 
die Freyheit des Willens deſto überzeugender. 
Er hatte gezeigt, daß Verſtand und Wille glei: 


chen Schritt halten, und zugleich verdorben 


und beſſer werden; oder wenn der eine ja ab— 
hängig wäre von dem andern, ſo ſey es der 
Verſtand von dem Willen und nicht umgekehrt. 
Darum ſagt er jetzt: »Wille muß durch Wille 
beſtritten werden, und wenn wir tugendhaft 
werden wollen, muß ein guter Wille den bö— 
ſen beſtreiten. Wo will der Menſch aber den 


De — — — 


len wir tugendhafte Leute finden, die das kleine 
Fünkchen der vernünftigen Liebe, das bey uns 


232 
ET 


guten Willen hernehmen, indem er noch in 


dem Stande iſt, daß er den herrſchenden böſen 
: x 

Willen für etwas Gutes hält, und da der gu: 

te Wille von dem Böſen annoch gefeſſelt ge⸗ 


halten wird.« Daß dies durch eine Einwir⸗ 


kung von außen, durch einen andern guten 
Menſchen geſchehen könne, iſt eine Antwort, 
die weder den Thomaſius, noch irgend einen 
Denker, befriedigt. »Denn, fragt er, wo wols 


iſt, ſtark befeuren ſollten, indem wir ſie, wenn 
es ihrer anch giebt, ja nicht kennen können, 
weil wir ihnen ſo ungleich ſind? Und es iſt 


gewiß, daß wir nur das lieben, was uns gleich 


kommt.« Daher ſchließt er, »es ſey höchſt 


falſch, daß der Menſch einen freyen Willen 
habe.« Da aber dieſe Behauptung nicht nur 
ſeine Sittenlehre überflüßig zu machen ſchien, 
ſondern auch alle Zurechnung und alle Gerech— 
tigkeit der Strafen aufzuheben drohte, was 
den Thomaſius gefährlich und frevelhaft dünk⸗ 
te; ſo ſuchte er dieſer Folge dadurch zuvor zu 
kommen, daß er die Eine Seite des Willens, 
zum Schlimmerwerden hin, frey ließ, und dem 
Menſchen ein Vermögen beylegte, ſich wenig— 


A 253 


— 


ſtens zu halten, daß er nicht immer tiefer fin: 
ke. Denn das Gewiſſen — er nennt es das 
Fankchen vernünftiger Liebe — mahnt doch den 
Menſchen, auch den verdorbenen und elenden: 
und er vermag, wenn er auf die Mahnung 
achtet, das zu erreichen . daß er nicht ſchlim⸗ 
mer werde. Dieſes macht die Zurechnung mög⸗ 
lich; aber für die Beſſerung kann keiner Troſt 
aus der Sittenlehre holen. Den will aber auch 


dieſe nicht geben; ſondern ihr Zweck iſt nur, 


den Menſchen ihren Mangel fühlbar zu ma⸗ 
chen, und ihn auf dieſe Weiſe zu einer heili⸗ 
gen Wiſſenſchaft zu führen, zur Theologie. 
»Wo demnach die Sittenlehre aufhöret, da 
ſuppliret die göttliche Weisheit deren Defect 
und Mangel. Die Sittenlehre gehet nicht weis 
ter, als daß ſie dem Menſchen den Stand der 
Beſtialität zu erkennen giebt, und ihn von 
dar zu dem Stand der Menſchheit leitet. Wie 
er aber von der Menſchheit und bloßen Vernunft 
ab» und zum wahren Chriſtenthum gelertet 
werden ſolle, das zeiget die heilige Schrift, und 
7 „Die Erkenntniß des Unvermögens natürlicher 
Kräfte if die erſte Berührung göttlicher Gnade 
und des Lichts der Natur,“ ſagt Thomafius ir 
gendwe, vielleicht eben fo wahr, als ſchön. 


254 | | 
dazu hilft ihm die göttliche Gnade.« Und jo 
ſtimmte Thomaſius nicht nur mit ſich ſelbſt 
überein, ſondern er knüpfte auch den Menſchen 
an den Himmel, den ihm das Chriſtenthum, 
nach ſeiner Anſicht, verſprach; und wenn er, 
beym Mangel höherer Principien, es auch 
nicht aus ſeiner Philoſophie begreifen konnte, 
daß die Möglichkeit der Sittenlehre unmög⸗ 
lich in der Sittenlehre und von der Sitten⸗ 
lehre bewieſen und begriffen werden kann, ſo 
zeigt doch der Ausweg, den er nahm, daß er 
weiter gedrungen war, als es gewöhnlich iſt. 
Nach einigen Jahren ſchien ihm dieſe Auskunft 
nicht mehr nöthig; welche Einſicht ſie ihm 
dann entbehrlich machte, werden wir zu ſeiner 
Zeit nicht unberührt laſſen. ie 
| Thomaſius hing ſeiner Gittenlehre einen 1 
„Beſchluße an, in welchem er ſich über den 
Zuſammenhang der philoſophiſchen und der 
Sittenlehre Chriſti erklärt, und gleichſam ſein 
Bekenntniß über das Chriſtenthum darlegt. 
Er ſpricht darin, ohne die phantaſtiſchen Ne⸗ 
belgeſtalten der myſtiſchen Schwärmer, eine 
fo ſchöne Religioſität und einen fo hohen, Ein: 
heit ahndenden, Glauben aus, daß es uns we⸗ 
he thut, daß wir dieſen Beſchluß nicht, faſt 


* 
299 


ganz, abſchreiben dürfen: aber er iſt nicht nach 
dem Sinn der aufgeklärten Welt.“) Er en: 
digt damit, daß er dar Welt, vielleicht vielen 
zum Troſt, verkündet, er wolle etliche Jahre 
die Feder niederlegen. Unter die Urſachen ſetzt 


) Das Eine wollen wir wenigſtens nicht unan⸗ 
geführt laſſen, weil es beweiſet, daß die Welk- 
anſicht des Thomaſtus wahrhaft religios war — 
daß er ſagt, er glaube, „daß nur Eine Selig— 
keit des Menſchen ſey, die in dieſer Welt an— 
gefangen und in jenrr vollendet werden müſſe; 
denn wie der Baum fällt, ſo bleibt er lie⸗ 
gen.“ — „Ich glaube, heißt es nachher, daß 
Gottes heiliger Geiſt, der Geift der Weisheit 
und der Erkenutniß, das Hauchen der göttli⸗ 
chen Kraft, und der Strahl der Herrlichkeit 
des Allmächtigen, den Menſchen gebe die Weig- 
MT, durch die ſie ſelig werden.“ Vielleicht iſt 
es nöthig, zu ſagen, daß dieſe Stelle grsßeru⸗ 
theils aus dem Buche der Weisheit iſt. Tho⸗ 
maſtus führt mehrere Stellen daraus an, und 
räth es mit einfältiger Andacht zu leſen. Und 
wir können nicht umhin, es fonderbar zu fin: 
den, daß dieſes Buch faſt von niemand geleſen zu 
werden ſcheint, da es doch Stellen enthält, die 
man bewundern und zu Motto's wählen wür— 


4 
de, wenn fie ein Grieche geſchrieben hätte. 


* 


230 5 un 


er auch dieſe, die ſeinen Zeitgenoſſen wol 
nicht ſchmeichelte, daß man die Perlen nicht 
vor die Säue werfen müſſe. Wer aufrichtig 
Wahrheit ſuche, der habe in dieſem Theile der 
Sittenlehre ſchon den Schlüſſel, der ihm die \ 
Pforte zu ihren erhabenen Hallen eröffnen 
könne; wer ihn aber nur aus Neugierde, und 
darum leſe, andre Leute fadeln zu lernen u. f. 
w. — dem würde die Wahrheit zu Gift wer— 
den. »Endlich die Feinde der Wahrheit hät⸗ 
ten ſchon an feinen bisherigen Schriften auf 
etliche Jahre genug zu verdauen, und die Kö⸗ 
pfe daran braun und blau zu zerlaufen.« 
Dieſe Drohung, eine Zeitlang nicht zu 
ſchreiben, wiederholte Thomaſius in einem | 
„Bericht, « in welchem er ſich entſchuldigte, daß; 
er Bücher, die er herauszugeben verſprochen 
hatte, nicht herausgeben könnte. ) Er hielt 
auch wirklich in ſo fern Wort, daß er in den 
nächſten Jahren weniger ſchrieb als bisher; 
wenn es aber bey ſeinem Entſchluß ſein 
Wunſch war, wie er in den Oſtergedanken äu— 
ßert, »aus dem Beruf, in welchem er in der 
Welt ſtand, heraus zu kommen, und es dahin 
zu 
) Bericht de libris edendis. 8 


| 267 
zu bringen, daß feiner vergeſſen würde, wie 
eines Todten,« fo hätte er ſich auch nicht auf 
Disputationen einlaſſen müſſen, welche die Sei— 
te berührten, wo die Theologen ſo empfindlich 
waren. Er ſchrieb nemlich im Jahr 1697 zwey 
Disputationen, wovon die eine die Frage un⸗ 
terſuchte, »ob Ketzerey ein firafbares Verbre— 
chen ſey?« und die andre, nachdem jene ſchon 
einen gräulichen Lärm verurſacht hatte, das 
»Recht des Fürſten gegen die Ketzer« erörter— 
te.“) Wie Thomaſius zuerſt zu Unterſuchungen 
dieſet Art gekommen war, das iſt erzählt wor⸗ 
den; und daß er, als er in ſo heftige Strei⸗ 
tigkeiten mit den Theologen gerieth, auf den 
Gedanken kam, den Urſprung ihrer Anmaßun⸗ 
) Die eine hatte den Titel: problema jnridicum, 
an haeresis sit crimen ? ans die andre De jure 
principis circa haereticos. Jene iſt im aten 
Bande der Diſfertationen die 35, dieſe die 37. 
Deutſch ſtehen ſie unter dem im Text angege— 
benen Titel in den auserleſenen Schriften. Die 
„dreyfache Rettung des Rechts evangeliſcher 
Fürſten in Kirchenſachen“ 1702 und ns Recht 
ebangeliſcher Fürſten bey Leichenbegängniſſen,“ 
ruhen ebenfalls mit jenen auf gleichen Grund⸗ 
ſätzen; darum haben wir ſie nur in einer Note 
anführen Wen 


97 


258 


gen, wovon et in der Bibel nichts fand, in 
der Geſchichte aufzuſuchen, war eben ſo natür⸗ 
lich, als für das Allgemeine höchſt nützlich. 
Die Unduldſamkeit, welche die Pietiſten erfuh: 
ren, die er ſchätzte, und mit denen er überein⸗ 
ſtimmte, wenn er ſich auch nicht öffentlich mit 
ihnen verband, mußte ihn beſonders darauf 
bringen, daß er auf das Verfahren, welches 
man von jeher gegen die Ketzer beobachtet hat⸗ 
te, und auf die Rechtmäßigkeit dieſes Verfah⸗ 
rens ein achtſames Auge richtete; nnd da er 
ſich zu dem richtigen Begriff vom Fürſten er⸗ 
hob, daß er der Führer der höchſten Gewalt 
ſey um des gemeinen Friedens willen, ſo konn⸗ 
te die Antwort nicht anders ausfallen, als daß 
er der Obrigkeit das Recht abſprach, die Ketzer 
zu beſtrafen. Die beyden angeführten Dispu— 
tationen ruhen denn auch gänzlich auf dieſem 
und den andern Sätzen, die wir aus dem Rech— 
te des Fürſten in Religionsſachen angeführt 
haben, und wir hätten ihrer ſo wenig, als ſei⸗ 
ner übrigen Disputationen erwähnt, wenn er 
nicht ihrentwegen von vielen Seiten für mein: 
eidig und einen Gottesläſtrer erklärt wäre. 
Wundern darf man ſich darüber nicht; denn 
Thomaſius zeigte ſo klar aus der Geſchichte, 


259 


| daß man nie gewußt habe, was eigentlich ein 
Ketzer ſey; zeigte fo klar aus der Geſchichte 
»die Practiquen der Pfaffheit, wodurch fie die 
Geſetze gegen die Ketzer ausgewirkt,« als er 
die Schaamloſigkeit derſelben aus der Ver— 
nunft, und aus der Vergleichung der alten Zeit 
mit der neuen die Fortdauer des Pabſtthums 
unter den Proteſtanten bewies. — Die ohn— 
mächtige Wuth der Pfaffen gegen den Thoma— 
ſius und feine Disputationen — wovon die 
erſte in einem ſehr lebhaften und oft ſatyri— 
ſchen Dialog verfaßt iſt, der ſchon beweiſet, 
daß die Oſtergedanken der eigentlichen Natur 
des Thomaſtus nicht entfloſſen waren ) —, 
die Wuth der Pfaffen, ſage ich, hat aufgehört, 
aber die Wahrheit ſeiner Äußerungen und Bes 
hauptungen waren für das Kirchenrecht we— 


ſentlich, machten auf die beſſern einen bleiben— 


den Eindruck, und trugen gewiß nicht wenig 


) Ich habe in dieſem Dialog S. 267 ein Zeit⸗ 
wort gefunden, was mir noch ſonſt nicht vor 


gekommen iſt, ein Zeitwort ſchlegeln. Co: 


viel ich aus dem Zuſammenhange verſtehe — 


und es kommt nur einmal vor — fo beißt es: 
falſche Schlüſſe machen oder ſchlecht räſonniren 
aus einer petuio principii. | 


R 2 


260 | | 
bey, den heiligen Geiſt der Duldſamkeit aus 
zugießen, der nur von denen geläſtert werden 
kann, welche Religioſttät mit Pfaffenthum ver⸗ 
wechſeln, und welche in der Geſchichte die Recht⸗ 
gläubigkeit und Religionstyranney ihr furcht⸗ 
bares Recht nie üben ſahen. Gleichgültigkeit 
gegen die Religion iſt von Toleranz verſchie⸗ 
den; und wenn ſie ſich an dieſe anzuſchließen 
ſcheint, ſo iſt das kein Beweis, daß fie eine 
Tochter derſelben ſey— Die Religioſttät ift to⸗ 
lerant, wenigſtens iſt fie es beym Thomaſſus, 
Spener und andern; und es ſcheint, daß das 
Gefühl des Mangels derſelben nur mit der 
Intoleranz verſöhnen, und ſie wol gar wün⸗ 
ſchenswerth machen kann. Diejenigen aber, 
welche das Zeitalter zurückzudrehen ſtreben, 
und durch erborgte myſtiſche Ausdrücke einen 
Glauben heucheln, den ſie nicht haben und 
nicht haben können, um die Vergangenheit 
wiederum in die Zukunft zu ziehen — die han⸗ 
deln im verkehrten Sinn, zeigen ſich als ſchlech⸗ 
te Philoſophen, und verſtehen nicht, daß die 
Entwickelung des Lebens und das Zeitlichwer— 
den des Ewigen nur darin beſteht, daß jeder 
Augenblick etwas Neues bringt, was der vor: 
hergehende nicht begreifen konnte. 


261 


f Das folgende Jahr hindurch beobachtete 
Thomaſius ſein literariſches Schweigen; aber 
er bearbeitete unterdeß, wie es ſcheint, Beyträ— 
ge für den frommen Arnold zu feiner befanns 
ten Kirchen- und Ketzerhiſtorie, die in den bey: 
den nächſten Jahren herauskam. Vielleicht 
wäre das Werk ohne den Thomaſius nicht zu 
Stande gekommen; aber, da wir nicht wiſſen, 
was er daran gethan hat, ſo müſſen wir uns 
| auf dieſe Bemerkung beſchränken, und das Ver⸗ 
dienſt oder Unverdienſt des Werks dem Arnold 
gänzlich laſſen. Zugleich widmete ſich Thoma: 
ſius, wie zu vermuthen iſt, den Pflichten, die 
ihm als Lehrer der Akademie oblagen, und üb⸗ 
te ſeinen Geiſt an höhern Speculationen, deren 
Frucht »der Verſuch vom Weſen des Geiſtes« 
war, den er 1699 herausgab. Wenn der Bey— 
fall der Welt den Werth eines Buchs entſchie— 
de, was nicht der Fall iſt, ſo würde dieſes von 
allen Thomaſiſchen das ſchlechteſte ſeyn; abſo— 
luten Werth hat es auch wol nicht; aber für 
das Streben eines lebendigen Geiſtes nach 
Einheit des Menſchen und der Welt iſt es ein 
eben ſo ſchöner Beweis, als manches bewun— 
derte Syſtem, das mit der Miene der Infalli— 
bilität hervortritt, auf die Thomaſius, wie er 


262 


auch eben nicht Urſache hatte, nie Anſpruch 
machte, und in dem Gange ſeines Lebens bezeich⸗ | 
net es eine bedeutende Stelle. ) Wir kön⸗ 
nen aber nichts thun, als etwa die Anſicht dar⸗ 
legen, die uns dabey zum Grunde zu liegen 
ſcheint; denn einmal läßt ſich kein Auszug aus 
dem Buche liefern, und dann war Thomafius 
auch nicht der erſte, der ſich — ſoll ich ſagen, 
zu dieſer Höhe erhob, oder in dieſen Abgrund 
vertiefte? Und um ſeine Anſicht zu bezeichnen, 
dürfen wir nur ſeine Vorgänger nennen; es 
waren Fludd,“) Commenius, ) d'Eſpagnet, 5) 
und vielleicht auch Jacob Böhme, wiewol er 
den letztern nicht unter denen nennt, die nit 
ihm übereinſtimmten. Schon in frühern Jah⸗ 


) Die confessio doctrinae suae, von der wir oben 
togeen daß wir ſie nicht geſehn hätten, ent⸗ 
hält nach den Auszügen, die Brucker daraus 
anfübref, ſchon vieles aus dieſem Buche. | 

) Sein Werk hat den Titel: Philosophia Mo- 
saica 1638 fol. Alk N 0 

%) Sein Enchiridion Physicae restitutae erſchien 
1623. 12. zu Paris. 

) Von feiner Physices ad lumen divinum refor- 
matae Synopsis giebt es eine Edition von 
1663. 12. 


263 


ren hatte Thomaſius das Verfahren der Phy: 
ſiker verlacht, welche die wunderbaren Erſchei— 
nungen der Natur, die vielleicht unerklärbar 
find, nicht nur zu erklären ſich bemühten — 
welches er ihnen gern erlauben wollte —, ſon— 
dern auch erklärt zu haben meynten, wenn ſie 
an ein Wort, was eben ſo dunkel war, als die 
Urſache der Erſcheinungen, und nur ihr Unver⸗ 
mögen beglaubigte, ihre Erklärung anknüpften. 
Die Wörter: Kraft, verborgene Qualität, Anla— 
gen u. ſ. w. nannte er ſchon damals Zufluchtsör⸗ 
ter der Unwiſſenheit; ) und weil er fig nicht ges 
trauen mochte, weiter zu kommen, als die andern, 
ſo hatte er das Studium der Phyſik ganz aufge— 
geben, die Philoſophie in engern Gränzen ge- 
halten und ſich mit Dingen beſchäftigt, wie 
wir geſehen, die unverkennbar eingreifen in das 
Leben der Menſchen. Als er ſpäterhin, wie er— 
zählt iſt, mit den Pietiſten in Verbindung kam, 


) Von dem Worte Kraft ſagt er oft, es ſey ein 
Asylum ignorantiae, und von der qualitas oc- 
culta macht er in feinem Journal folgende De— 
finition: qualitas occulta est vocabulum elegan- 

ter sonans cujus vi Physicus ignorantiam suam 
obvelare et incautam juventutem occulte pecu- 


nia emungere potest. 


— 


und ſeine Verhältniſſe es nothwendig machten, 
dieſe Verbindung zu erhalten, ſo wurde er von 
dieſen, indem im Widerſtreite der Welt ihre 

offene Frömmigkeit nach und nach zur gutge⸗ 

meynten, aber ausſchweifenden Schwärmerey 
getrieben war, in die Schriften der genannten 
und andrer Myſtiker eingeweiht, wie er durch 
die Herausgabe von Poirets Buch an den Tag 

legte. Vey der Ausarbeitung der Ausübung 
der Sittenlehre hatte er nun ferner gefunden, 
daß ſie den Grund ihrer Möglichkeit nicht in 
ſich ſelbſt habe; und da er ſich durch die Kraft 
des klaren Denkens das, was ihm dort unbe⸗ 
greiflich war, nicht auflöſen konnte, ſo mußte 
die göttliche Gnade, eingreifend, wo die na⸗ 
türliche Kraft aufhört, ihm das Fehlende er⸗ 
ſetzen. Und als er dieſes Eingreifen der Gott⸗ 
heit in die Natur bey den Myſtikern ſo weit 
durchgeführt fand, ſo konnte ihm Hoffmanns 
Experimentalphyſik nicht genügen. Er hatte 
ſich an dieſen gewandt, um zu erfahren, ob er 
jetzt mehr aus den Experimenten erkennen 
möchte, als ehemals; aber bey feiner Vertraut⸗ 
heit mit dem Sinn der Myſtiker, der deſto 
göttlicher ſcheint, jemehr er die Natur als ein 
Ganzes umfaßt, und ſich nicht auf das Einzel⸗ 


265 


ne, welches er für kleinlich hält, einläßt, konn⸗ 
te er mit der Langſamkeit der Experimentir— 
kunſt, welche aus den Erſcheinungen die Regel 
hetleitet „ ſich nicht verſöhnen; fondern er 
meynte, die Regel müßte zuvor aufgeſtellt ſeyn, 
und die Experimente, die ſonſt die Koſten nicht 
vetdienten, müßten fie nur beſtätigen. Daher 
gerieth er auf den Gedanken, die Natur a 
priori zu konſtruiren, und er beredete ſich leicht, 
daß es geſchehen ſey, da er nur ſo lange ver⸗ 
einigen und trennen, drehen und wenden durf⸗ 
te, bis das herausgebracht war, was, wie er 
ja vorher wußte, herausgebracht werden ſollte: 
die Welt, wie ſie ihm gegeben war. In der 
Freude darüber, daß die Natur, wie er fie / 
vorfand, erklärt ſey, überſah er, wie es vielleicht 
vielen geht, die Mängel ſeines Syſtems, deſ— 
ſen Nichtigkeit ihm eingeleuchtet haben würde, 
wenn er das, was werden wird, hätte konſtrui⸗ 
ren wollen; wer aber behauptet, er habe die Ge— 
genwart a priori dargeſtellt, der ſollte das, wie 
es ſcheint, doch auch von dem Künftigen Fön: 
nen. Um das Leben erklären zu wollen, muß 
man freylich leben; aber deßwegen iſt es auch 
im Leben unerklärlich. Thomaſius kam alſo 


mit feinen Lehrern auf die uralte Idee von eis 


266 RS | a: 
nem allgemeinen Weltgeifte zu deſſen Beſchrei⸗ N 
bung das Buch der Weisheit manche Farbe | 
lieh, der, ewig ſich gleich und ewig neu, . in 
Allem geſtaltet, was war und iſt, im Metall, 
wie in der Pflanze, im Thiere, wie im Men⸗ 
ſchen. Wie aber aus dieſem Geiſte, von deſ— 
ſen Thätigkeit die Materie zuerſt das litt, daß 
ſie von ihm das Seyn erhielt, Alles wurde, 
die verſchiedenen Geiſter, die guten und böfen | 
u. ſ. w. das kann, wem daran liegt, es zu 
wiſſen, nur in dem Buche ſelbſt nachleſen. 
Ob die Idee, die ihm zum Grunde liegt, 
nicht ſonſt von andern beſſer ausgefügre iſt, 
daran zweifeln wir nicht (denn des Thomaſius 

Unwiſſenheit in der Phyſik iſt ſehr groß); viel: | 
leicht wird fie es noch immer mehr. Denn, 
wie die Idee von jeher die Menſchen beſchäf— 
tigt hat, ſo wird ſie es auch in der Zukunft 
thun; aber, wenn das auch ein Beweis wäre, 
daß ſie wahr iſt, ſo folgt daraus noch nicht, 
daß die Aufgabe, die ſie aufſtellt, gelöſet wer— 
den kann. Denn will man bloß darthun, daß 
alle Veränderung nur eine Erſcheinung Eines 
und deſſelben ewigen Geſetzes iſt in einer an— 
dern Form: ſo wird ſich auch die Zukunft leicht 
erklären laſſen. Will man aber die beſtimm— 


267 


ten Formen ableiten, in welchen das ewige 
Geſetz künftig anders und anders erſcheinen 
wird, und will man aufzeigen, was dieſe be— 
ſtimmten Formen grade zu dieſen beſtimmten 
Formen macht, ſo dürfte das unmöglich ſeyn. 
Will man es aber nicht, etwa weil man nicht 
kann, ſo erregt man den Verdacht, daß es mit 
der Ableitung des Gegenwärtigen und Gege— 
benen auch nicht ſo ganz richtig zugegangen 
ſey. Und fragen darf man auch: wenn der 
Menſch hier Alles löſen könnte, welchen Zweck 
behielte die unendliche Zukunft? . 
So wie Thomaſius bey ſeiner Schrift, ich 
möchte ſagen, mit einem zuſammengehaltenern 
Geiſte und mit einem mehr beſonnenen Ver— 
ſtande zu Werke gegangen war, als es bey 
Schriften dieſer Art der Fall zu ſeyn pflegt, 
ſo zeigte er auch durch eine Disputation »über 
die Freyen und Leibeigenen der Germanier,« *) 
daß dieſe Dinge nicht feine ganze Seele be: 
ſchäftigten; “) aber dieſe kurzen Andeutungen 


9 b propriis et liberis Germanorum. 
) Um den Ton, in welchen die Diſſertation ge: 
ſchrieben iſt, zu zeigen, wollen wir eine Stelle 
daraus überſetzen: fie wird unſern Ausdruck 
rechtfertigen. — Thomaſtus warnt, dem Tas 
g 


7 
7 


hat er in ſpätern Schriften weiter ausgeführt, 
und das überhebt uns, mehr darüber zu ſagen. 


Vom Jahre 1700 fing Thomafius in Ver⸗ 


bindung mit dem Buddeus an, die bekannten 


* 5 * 9 | 
citus nicht Alles ſo blindlings zu glauben, 
denn er habe die Germanier nur vom Sören: 
ſagen gekannt, und zwar nur die ans römi⸗ 
ſche Gebiet grönzenden. Ex zeigt an einzelnen 
Beyſpielen, wie Tacitus, (Oer die Germanier 
nur im Geena gegen die Römer babe dar⸗ 
ſtellen wollen, zur Beſchämung der Letztern), 
zu feinen Verſicherungen gekommen war, z. B. 
zu der, daß fie, wenn fie nicht Krieg führten 
oder auf der Jagd wären, die Zeit mit Schla- 
fen und Schmauſen zubrächten. „Deutſche 
Sklaven, ſagt er, begleiteten ihre Herren in 
Rom in die Curie, ins Bad, aufs Forum, ins 
Theater u. ſ. w. Während fie ihren Herren 
zuſahen, ſchliefen fie vor langer Weile ein. 
Die Römer wunderten ſich darüber: aber Ihr, 
was macht ihr denn zur Zeit des Friedens? 
Wir jagen. Was denn? geht ihr nicht in die 
Curie? Nein. Ins Bad? Auch nicht. Doch 
aufs Forum 2 Bewahre. Wer beſorgt das 
Haus? die Weiber. Wer die Acker? die Al⸗ 
ten. Und Ihr? — Was konnten fie antwor⸗ 


ten? Nichts anders, als: Nichts, d. h. nichts 


269 


»Halliſchen Bemerfungen«e )) herauszugeben. 
Wir rechnen ihm das aber nicht ſehr zum Ver— 
dienſt an, und glauben genug gethan zu ha: 
ben mit der Anzeige, daß es geſchehen. Denn 
die Wiſſenſchaften wurden dem Weſen nach, 
wenigſtens von Seiten des Thomaſius, eben 
nicht weiter dadurch gebracht, und auf die Pir 
teratur unſers Vaterlandes konnten ſie ſchon 
deßwegen keinen Einfluß haben, weil ſie lateiniſch 
geſchrieben waren. Unter den Auffägen, die Tho: 
maſius ſelbſt dazu geliefert, iſt keiner, der, wie 


son dem was ihr Römer thut. Die wunder 
ten ſich und ſagten (Thomaſtus ſagt es ſelbſt 
deutſch): die Kerls thun doch nichts, als daß 
a fie freſſen und ſchlafen.“ — Die Liebe zum 
Trunk, die Tacitus den Deutſchen Schuld gä⸗ 
be, habe man ihm nachgeſprochen, um ſich da: 
mit entſchuldigen zu können, (wiederum d eutſch) 
„daß es ein altes löbliches Herkommen ſey, 
und daß die alten ehrlichen Deutſchen ſchon 
für tauſend Jahren fo gern getrunken.“ — 
uebrigens hat er auch andere Gründe und beſ— 
ſere aus dem Tacitus gegen den Tacitus. 
) Observationes selectae ad rem litterariam spe- 


cläntes. 


270 
es uns ſcheint, etwas Neues enthielte, was er 
nicht in andern Schriften auch geſagt hätte. * 

Ein wahres Verdienſt aber erlangte Tho: 
maſius dadurch, daß er die Chriſten von der 


Neigung zu den gräulichen Schandthaten los⸗ 


riß, womit der Glaube an den Teufel und ſei⸗ 
ne Verbündete ſie ſo ſchrecklich befleckt hatte; 
daß er die Unſchuld gegen die furchtbaren An⸗ 
klagen der Verläumdung, der Bosheit, und der 
Unwiſſenheit ſicher ſtellte, und den Weibern, 
nach Friederichs des Großen Ausdruck, das 
Recht vindicirte, in aller Sicherheit alt zu wer: 
den: aber dieſes Verdienſt war doch mehr zu— 
fällig, als daß er es ſich erworben hätte. Wir 
brauchen die alberne Vorſtellung von der He— 
rerey, und die eben fo ſinnloſen als phanta⸗ 
ſtiſch⸗ verwirrten Erſcheinungen, die man aus 
ihr herleitete, nicht ausführlich zu beſchreiben; 
ſie hat ſich durch die Tradition noch allgemein 
genug erhalten, obwol fie im Ganzen für das 
erkannt wird, was ſie iſt. Auch iſt es niche 


6 


) Er hat 20 Beyträge geliefert, die in den 6 
erſten Bänden vertheilt ſtehen. Viele davon 
betreffen die Schulen; einige die Moral und 

das Naturrecht. 


27 


Jedermanns Geſchäft, ein ekelhaftes Bild zu 
entwerfen, bey dem man nicht einmal durch 
die furchtbare Größe, mit der es hervorttitt, 
ſchadlos gehalten wird für die Unförmlichkeit 


des Einzelnen und die Widerlichkeit des Gan⸗ 


zen. Darum wollen wir nur fagen, daß ſich 
dieſer Glaube bis zur Zeit des Thomaſius un— 
vermindert erhalten hatte. Wol hatten die 
wenigen Verſtändigen ſeine Albernheit verlacht, 
und die Menge der Unſchuldigen, die ihm ge⸗ 
opfert wurde mit Schmach und Schande vor 
der Welt, beklagt; aber Vorurtheile, die ihre 
jungen Gemüther ſo ganz durchdrungen hat— 
ten und die im Alterwerden mit denſelben eins 


geworden waren, verblendeten meiſtens auch 


die Augen derer, denen man im Übrigen einen 


hellen Blick nicht abſprechen kann; und Furcht⸗ 
ſamkeit vor der Allgewalt der Pfaffen mochte 


auch viele zurückgehalten haben, daß ſie ihre 


Meynung darüber nicht ſagten. Aber nicht 
alle. In Frankreich, England und Holland 
hatte man dagegen geſchrieben; und in Deutſch— 
land hatte ein Unbekannter den Richtern die 
größte Behutſamkeit beym Hexenproceß em⸗ 
pfohlen. Auch hatte wirklich, wenigſtens im 
proteſtantiſchen Deutſchland, das Verbtennen 


i 


— — 


272 


der armen Frauen, die das Unglück hatten, er 
etwas von der Natur vernachläſſigt zu ſeyn, N 
und über 50 Jahre alt zu werden, aufgehört; A 
aber auf den leiſeſten Wink des erſten Buben 
oder des unwiſſendſten Bauern, daß irgend ei⸗ 
ne Perſon ſich eines Bündniſſes mit dem Teu⸗ 
fel verdächtig mache, war das Gefängniß der 
Beſchuldigten gewiß, und eine ſchauderhafte 
Inquiſition, die ſie wenigſtens um ihre Ehre | 
brachte, wartete ihrer: und ſelbſt die Unmün⸗ 
digkeit war kein Freybrief vor dem Richter⸗ 
ſtuhle. ) Darum war es allerdings ſehr löb— 
lich von dem Thomaſius, daß er die Sache, 
die ſchon zur Sprache gebracht war, auffaßte, 
und verſuchte, ob er nicht beſſer durchdringen 
möchte, als ſeine Vorgänger, die zum Theil, 77 
wie 


” Thomaſtus hat ſelbſt Acten drucken laſſen/ nach 
welchen 1694 ein Kind von 6 Jahren darum zur 
Inquiſition gezogen wurde, daß es eine Maus 
aus einem Taſchentuch drehen konnte, und eine 
alte Frau, die es ihm gezeigt, wäre faſt auf 
die Tortur gekommen. | 

) 3, B. van Dale und Becker, deſſen Buch aus 
den Holländiſchen ins Deutſche überfeßt iſt: 

8 die 


l 
273 


wie man geſtehen muß, ſchon weiter gegangen, 
als . und fein Name war es wol zu meiſt, 
was ſeine Gründe unterſtützte: denn ohne die— 
ſen wären ſie vielleicht eben ſo Wirkungslos 
geblieben, als die der Andern. Der Arger dar⸗ 
über, daß bey den erſten Hexen-Acten, welche 
an die Univerſität 1694 geſchickt wurden, feine 
Stimme, die er unüberlegt und durch Autori— 
tät verführt gegen die Beklagte abgelegt hat⸗ 
te, von feinem ehemaligen Lehrer Stryck ver: 
worfen wurde, machte ihn aufmerkſam; und 
da ihm nach und nach mehrere Acten dieſer 
Art in die Hände fielen, ſo wurde er das un— 
gegründete, verblendete und gewaltſame Ver— 
fahren, das bey dieſen Proceffen ſtatt fand, 
bald gewahr. Darauf las er die Schriften, 
die über dieſen Gegenſtand, dafür und dawi⸗ 
der, geſchrieben waren; und als er endlich das 
Weſen des Geiſtes erforſchte, ſo glaubte er 
zwar einzuſehen, daß es einen böſen Geiſt ge— 
be, der in den Schlechten wohne und wirke: 
aber der Teufel, der den Hexereyen als Vor— 
die * Welt. Beyde leugneten den 
Teufel ganz, jener verdeckt, dieſer grade zu. 
Mit dem Teufel war natürlich die Hererey 
vernichtet. 


G 


_ 


274 


„fteber diente, war ihm eben ſo miderfinnig, als \ 
l ihm lächerlich wurde. Er verſuchte alsdann?“ 
nach ſeiner löblichen Weiſe, durch die Geſchich⸗ ; 
te zu erfahren, wann und wie diefer Teufel 
geſchaffen war, und fand, daß, obgleich der 
Glaube an Einwürkungen böſer Geiſter ſehr 
alt ſey, doch dieſer Teufel ſein Alter kaum auf 
500 Jahre gebracht habe. Mit ſolchen Reſul⸗ 
taten aus ſeiner Philoſophie und der Geſchichte N 
verſehen, ließ er 1701 eine Disputation „vom 
Verbrechen der Zauberey« *) vertheidigen, die 
bald 1702 deutſch mit einer nähern Erklärung 
ausgegeben wurde: ) in beyden legte Thoma⸗ 
ſius jene Reſultate der Welt vor. Er erkann⸗ 

te noch vieles an, was jetzt thöricht ſcheint; 
aber vielleicht war es weiſe Überlegung, die 
ihm rieth, ſo zu Werke zu gehen, um ſeine Ab⸗ 
ſicht deſto gewiſſer zu erreichen. Und ob ſie 

) de crimine magiae. 

) Auch N der die Disputation unter dem 
Vorſitze des Thomaſtug vertheidigte, hat fie 
überſetzt und mit zwey Quartanten anderer 
Schriften und Acten, die Hereren betreffend, be: | 
gleitet. 


275 
g 
erreicht iſt, das kann unſer Zeitalter am beſten 


entſcheiden. ) * 

. In den nächſten Jahren lebte Thomaſius 
ſeinen Geſchäften als Lehrer der Univerſität, 
und verbreitete feine Vorleſungen, wie es zu 
erwarten iſt, über alle Gegenſtände, welche er 
für den künftigen Geſchäftsmann nützlich und 


nöthig achtete: aber drucken ließ er nichts au 


ßer einigen Programmen und die Beyträge zu 
den Halliſchen Bemerkungen. 1705 über er— 
ſchien ſein »Natur⸗ und Völkerrecht,« ) das, 
wie ſchon der Titel verkündigte, feine »göttli⸗ 
che Nechtsgelahrtheit« verbeſſern ſollte. Und 
in der That, das Gebäude, was er dadurch auf 
einen Pufendorfſchen Grund aufgeführt und 
größtentheils aus Pufendorfſchen Materialien 


) Thomaſtus ſchrieb um dieſe Zeit auch eine 
Vorrede zu Zeidlers Tractat von der Wünſchel— 


ruthe; 1712 eine Dispufafion: de origine ac 


progressu Processus inquisitorii contra Sa 848; 


1719 eine Vorrede zu Webſters Buch von der 
Hererey; und 1721 eine andre zu Beaumonts 
Tractat von Geiſtern, Erſcheinungen, Hexereyen 
1. Die Literatur über dieſen Gegenſtand wur— 
de ſeit dem Thomaſtus ſehr weitläuftig. 

%) Jus naturae et Gentium. 4. 


S 2 


ih) 


zufammengefegt hatte, wied in dieſem Buche 


dem Grunde nach ganz eingeriſſen. Die Welt 
hat ihn darüber bitter getadelt, und ihm ſein 
redliches Streben nach Wahrheit wol gar als 


Schwäche des Geiſtes ausgelegt: aber, wer 


Pufendorfs Lehre kennt, und mit uns den Gang 


— 


verfolgt hat, den Thomaſius Geiſt nahm, der 


wird es einſehen, daß er bey Pufendorfs Lehre 


nicht ſtehen bleiben konnte. Wer indeß die 


Welt kennt, der wird es Er fo natürlich fin» 
gen, daß man dieſer Wankelmüthigkeit, wie 
man es nennt, ſo feind war. Thomaſius hat: 
te mit feiner alten Lehre viele Anhänger bes 


kommen; man hatte ihm nach- und ausge⸗ 


ſchrieben, und ſich von der unumſtößlichen 


Wahrheit derſelben gewiß gehalten. Nun trat 


er ſelbſt wider ſich ſelbſt in die Schranken: 
ſollte man ſich ſogleich an ſeine Seite ſtellen, 
mit ihm wider die Sache fechten, die man auf 
fein Wort früher vertheidigt hatte, und ſo die 
Schmach ſeiner Knechtſchaft öffentlich anerken⸗ 
nen? Die Menſchen ſchämen ſich deſſen, was 
keine Schande ſeyn ſollte, der Nachahmung 


und des Einhergehens auf dem Wege, den ein 


andrer entdeckt hat; darum lügt auch der 
Blinde, er ſehe, und wenn er nicht leugnen 


| 277 


kann, ein Andrer habe ihn hieher geführt, fo 
ſtolpert er lieber am Rande umher, um ſich 
das Anſehen zu geben, er gehe einen eignen 
Pfad. Im dunkeln ſollte keiner den andern 
nachtappen; wenn er aber einſieht, warum 
dieſer ſeine Schritte hierher gelenkt: warum 
ſoll er ihm nicht mit freyer Wahl nachfol— 
gen? und warum es nicht geſtehen, daß er 
nachfolge? Ein ewiges Geſetz der Welt iſt: 
leuchte oder werde erleuchtet; denn des Lichts 


ſoll keiner entbehren wollen; und wozu wã⸗ 


ren Sonnen, wenn es keine Planeten gebe? — 
Thomaſius hatte kaum in den Halliſchen Be: 
merkungen das, ehemals vertheidigte, aligemei: 
ne poſitive göttliche Geſetz verworfen, und ei: 
nen andern Begriff vom Geſetze aufgeſtellt, 


der ſeinem Naturrecht zum Grunde liegt; ſo 


wurde ſogleich das Geſchlecht rege, wovon wir 
erſt ſprachen, und andre ſtimmten dieſem bey, 
weil wenigſtens die Autorität des Thomaſius 
ihre Behauptungen unterſtützt hatte.) Daß 


) Weber in Gießen unterſuchte ſogleich in einer 
Disputation, ob es wahrhafte allgemeine poſi— 


tive göttliche Geſetze gebe und theilfe, etwas f 


ſpitz, den Thomaſius in den vormaligen und 


nachmaligen (in Thomasium prioristicum et po- 


278 


1 


dieſer aber Gründe hatte, warum er von ſei⸗ 
ner frühern Meynung abgegangen war, und 
was er für Gründe hatte, das hat er ſelbſt in 
der Einleitung zu dieſem neuen Werke erzählt; 
und wie redlich er dabey verfahren iſt: das 
beweiſ't eine Stelle in »dem Berichte von den 
künftigen Thomaſiſchen Collegiis und Schrif⸗ 
ten, ein welchem er es ankündigt. »Es iſt dem 
allwiſſenden Gott bewußt, ſagt er, daß ich von 
Jugend auf mit aufrichtigem Herzen Wahrheit 
geſucht, auch mich nicht geſcheuet, Alles dasje⸗ 
nige ohne Furcht zu bekennen, was ich gemei⸗ 
net habe gefunden zu haben, und dasjenige, 
zu beantworten, was ich gemeynet habe, irrig 
zu ſeyn. — Darum hab' ich auch dasjenige, 
was ich bisher von der Moral und dem Recht 
der Natur oder ſonſten von der Natur des 
ö sterioristienn); er e yy. von dieſem * 
gefertigt. Auch Buddeus war gegen ihn; und 
überhaupt gerieth ee in dieſer Zeit 
mit den Theologen in einen Streit, der ſogar 
gerichtlich geworden ſeyn foll, den wir aber 
aus Mangel an beſtimmten Nachrichten nicht 
erzählen können. Da er keine Folgen für Tho⸗ 
maſius Leben hatte, ſo liegt auch wol wenig 
daran. 


* 


279 


Menſchen gelehret wieder vor die Hand genom— 
men und ausgebejjerl.«e 
Von einem Syſtem des Naturrechts, das 
den Rechtsbegriff und die nothwendige Reali⸗— 
ſirung deſſelben aus der Vernunft ſelbſt dedu: 
cirte, kam auch bey dieſem neuen Werke des 
Thomaſius nicht die Rede ſeyn; will man ihm 
aber das überſehen, und ihm nachfolgen, wenn 
er aus der Beobachtung des empitiſchen Men— 
ſchen ſich Regeln abſtrahirt, nach welchen er 
handeln ſoll, ſo wird man viele und große 
Wahrheiten und einen nicht gemeinen Scharf⸗ 
ſinn, den wir ſo oft bey ihm gefunden haben, 
nicht verkennen. Aber weil dieſe Wahrheiten 
größtentheils doch nicht neu waren, ſo wollen 
wir nur das aus dem Werke ſo kurz als möglich 
ausheben, wodurch es ſich auszeichnet. — Tho⸗ 
maſius umfaßt mit dem Worte Naturrecht Al— 
les, was in das Handeln des Menſchen ein: 
greift, außer der Religion; denn dieſe hat er 
ſcharf von dem, was ſich aus der Vernunft er- 
kennen läßt, geſondert, und will die Geſetze 
der letztern darum befolgt wiſſen, weil es Ge⸗ 
ſetze der Vernunft find, — nicht weil fie geof— 
fenbart find: der Neligiöfe bedarf, wie er ſchon 


280 4 
oft geſagt, die Natur nicht uche zo feinen N 
Wegweiſer. Das Recht der Natur, in dieſem "a 
ganzen Umfange, hat zur Mh. (nach 4 
dem, was Thomaſius in der Sittenlehre . 

gut erkannt hatte): % »der Menſch fol d. | j eni⸗ 
ge thun, wodurch fein‘ Leben verlangert und 
wahrhaftig glücklich gemacht wird; das Ge⸗ 
gentheil ſoll er vermeiden « Was ſich auf ein 

künftiges Leben bezieht, das wird einer höhern f 
Wiſſenſchaft zu lehren überlaffen. Bey dieſer 
Grundregel war nun zunächſt zu beſtimmen, 
worin denn die wahre Glückſeligkeit dieſes Le⸗ | 
bens beftehe? Thomafius antwortet: »im in⸗ f 
nern und äußern Frieden.« Beyde müſſen ſo⸗ 
nach erhalten und befördert werden: und dies 
giebt eine Sonderung des allgemeinen Geſetzes 


in die Moral und das Naturrecht, im neuern 
Sinne, zu welchem letztern, was Tho maſius 
die Gerechtigkeit (justum) nennt, noch die 
Wohlanſtändigkeit (decorum) als Beförderungss 
mittel kommt: die erſte heißt ihm die Ehrbar: 
keit, honestum. Die Moral bezweckt den in⸗ 
nern Frieden; die Gerechtigkeit und Wohlan⸗ 
ſtändigkeit den äußern. Jedes dieſer drey Stü— 
cke des Naturrechts hat ſeine eigne Regel, die 
wie es uns ſcheint, allein hinreichen würden, 


281 

den Scharfſinn des Thomaſius. zu beglaubigen. 
Die Regel der Gerechtigkeit iſt: »was du nicht 

willſt, daß es dir geſchehe, das thue den an⸗ 
dern nicht, e oder kurz: „verletze keinen, d. h. 
A ‚före keinen in der Freyheit, auf welche er ne⸗ 
ben dir Anſpruch machen kann. Die Wohlan⸗ 
ſtändigkeit hat folgende Regel: »was du willſt, 
daß es dir geſchehe, das thue du dem Andern: 
ein ädleres und feineres Geſetz, als das vori⸗ 
ge blos negative. Daher nimmt es auch zwi⸗ 
ſchen jenem und dem edelſten, dem der Moral, 
die Mitte ein, und umfaßt Alles das, r ozu 
der Menſch nicht gezwungen werden kann, und 
was von ſeiner guten Willkühr abhängt, uns 
geachtet es andern Menſchen erwieſen wird und 
zum äußerlichen Frieden gehört. Die Regel 
der Moral endlich iſt dieſe: »Was du willſt, 
daß der Andere ſich thue, das thue du dir.« 
Daß dieſe Regeln den Gegenſtand nicht er— 
ſchöpfen, und daß ſie die große Frage unbe— 
antwortet laſſen: was man denn nun wollen 


ſoll? bedarf keines Beweiſes; aber das hin⸗ 


dert nicht, ſie für ſinnreich anzuerkennen. — 
Übrigens behauptet Thomaſius, ſo wie Ariſto— 
teles mit Recht meynte, daß einige gebohrne 
Sklaven ſeyen, daß es zweyerley Arten von 


Menſchen gebe: Weiſe und Thoren. Für je | 
ne, die dieſe zu bändigen haben, bedarf es kei 
nes eigentlichen Geſetzes, ſondern nu des 
Raths, *) aber für dieſe muß es eine zwingen⸗ 
de Gewalt geben, auf daß der En Friede 
nicht verletzt werde. i h ig N r 
Wir glauben hier bees e erwäh⸗ 
nen zu müſſen, welche Thomaſius in diefem 
Jahre unter ſeinem Borfi itze vertheidigen ließ, 
und die, wenn ſie auch ſein Schüler, Bernhard, 
verfaßt hatte, doch nach den Grundſätzen, die er in 
ſeinen Vorleſungen verbreitete, verfertigt war. 
Sie betrifft eineu Gegenſtand, für und wider 
welchen noch jetzt von berühmten Rechtsgelehr— 


7 N 8 1 N a 54 . 1 ; 7 17 


) Ja, der Weife bedarf dieſes Raths nicht eins 
mal, von Außen her. Er iſt ſich ſelbſt ſein 
Geſetz; durch ſeinen eignen guten Willen it 
jeder Gerechte frey vom Geſetze und äußern 
Zwang. So wahr und klar dieſes if, fo ER 
te doch ſogar Leibnitz, gegen dieſen Satz des 
Thomaſius ließe ſich manches einwenden. Was 
er aber ſelbſt einwendet, daß es keinen fo 
vollkommnen Weiſen gebe, trifft den Saß 
nur halb. Denn wenn es keinen giebt: nun 
fo giebt es keinen; wenn eg aber einen giebt, fo 


bedarf er des äußern Geſetzes nicht. 


283 
ten geſtritten werden ſoll; aber ihn zuerſt zur 
Sprache gebracht zu haben — denn was Grä: 
vius früher darüber geſagt hatte, war vergeſ— 
ſen — iſt vielleicht ein Verdienſt. Der Titel 
iſt: Beweis daß die Tortur aus den Gerichten 
der Chriſten verbannt werden müſſe. “) Wie 
| der Beweis geführt wird, das mögen die, wel⸗ 
chen daran liegt, ſelbſt nachleſen; welche An» 
ſicht aber der Verfaſſer und ſein Lehrer von 
der Tortur hatten, das werden wir am beſten 
dadurch zeigen, daß wir eine kleine Stelle aus 
der Vorrede überſetzen. »Die Tortur iſt eine 
traurige Erfindung; denn durch ſie wird den 
höchſtunglücklichen, und bis jetzt noch nicht 
überführten Angeklagten gewöhnlich eine ſolche 
Strafe aufgelegt, welche an Grauſamkeit dies 
jenige übertrifft, mit welcher ſie, wenn ſie des 
Verbrechens vollkommen überwieſen wären, be— 
legt werden würden. Denn kaum, kaum laſ— 
ſen ſich die Martern, und mithin die Strafen, 
welche durch die Tortur dem menſchlichen Kör— 
per angethan werden, mit den Angſten des 
Todes vergleichen. O zu frevelhafte Verkehrt— 
heit bey Ausübung der Strafgewalt! Was iſt 


*) de tortura e foris Christianorum proscribenda. 


254 


ungerechter? was kann von jedem Schatten 
von Gerechtigkelt Entfremdeteres gedacht wer⸗ 1 
den, als arme Sterbliche, die noch unül führe 
find, mit fo grauſamen Strafen zu gerfteiſchen, 
welche zu denken ein Gemüth ſchaudert, dem 
noch ein leiſes Gefühl von Menſchlichkeit übrig 
iſt?« Und wenn die Vertheidiger der Tortur 
hiegegen einwendeten, daß ſie nicht unüber⸗ 
fährt wären, diejenigen, welchen die Tortur zu 
erkannt wird, ſo ließe ſich antworten: aber 
wozu denn die Tortur? Wenn ſie überführt 
ſind: wozu bedarf es ihres Bekenntniſſes? 
Bedarf es aber dieſes, ſo ſind ſie nicht über⸗ 
führt. Und einen Unüberführten durch Mat: 
tern fo lange zu quälen, bis er ſich für ſchul⸗ 
dig erkennt, iſt eine Gräulichkeit, welche wür 
dig zu bezeichnen die Sprache keinen Ausdruck 

hat. Daß aber ganz Unſchuldige ſich ſelbſt 

des ſchwerſten Verbrechens Schuld geben kön⸗ 

nen, das hatten dem Thomaſius die Acten be: _ 
zeugt, welche Hexenproceſſe veranlaßt hatten. 
Thomaſius ſcheint die Abſchaffung der Tortur 
noch lange nicht erwartet zu haben: aber der 
Staat, in welchem er lebte, iſt zum Beſſern 
hin auch ſchneller forrgeſchritten, als der kühn— 
ſte Geiſt damals vielleicht hoffen mochte. 


285 


Ein rechtliches Bedenken, welches in dieſem 
Jahre, aber ohne den Nahmen des Thoma— 
ſius, wiewol er ſogleich erkannt wurde, unter 
dem Titel herauskam: »Bedenken über die 
N Frage, wie weit ein Prediger gegen ſeinen Lan— 
desherrn, der zugleich summus epis copus iſt, 
ſich des Bindeſchlüſſels bedienen könne?« — 
führte ihn abermals in die Geſchichte und 
wurde Veranlaſſung, daß er eine Hiſtorie des 
| Kampfs zwiſchen der weltlichen und geiſtlichen 
Macht “) zu beſchreiben ſich entſchloß: ein 
Vorſatz, den er erſt viel fpäter ausführte. Die 
Gelegenheit zu dieſem Bedenken gab eine lu— 
theriſche Prinzeſſin, welche einer Heirath we⸗ 
gen, die von ihrem Vater aus politiſchen 
Gründen ſehr gewünſcht wurde, zur katholi⸗ 
ſchen Religion übergehen ſollte. Mehrere Gut⸗ 
achten — unter welchen auch eins vom Tho⸗ 
maſius * hatten dieſen überzeugt, daß fein, 
Kind durch dieſen Schritt die ewige Seligkeit 
eben nicht in Gefahr ſetzen würde; und obwol 
einige Theologen einen ſolchen Übertritt für ge⸗ 
fährlich und ewig verderblich erklärt hatten, ſo 

historia contentionis inter imperium et sacer- 

otium 


285 


hatte die Politik del Gründen der deter Sei⸗ 


te doch mehr Gewicht gegeben. Aber ſeine 
Hofprediger hielten ſich in. ihrem Gewiſſen 
überzeugt, daß ſie Alles aufbieten mußten, um 
eine Handlung zu hintertreiben, wodurch »ein 


Schäflein von ihrer Heerde verlohren gehen 
würde. Und da er ſich nicht daran zu kehren 
ſchien, ſo fingen ſie an mit ihrem Strafamte, 


und mit dem Bindeſchlüſſel zu drohen, und ver⸗ 


langten, mit einigen Univerſitäten ſich darüber 


zu berathen, ob einem Fütſten, der eine ſolche 
Abſicht habe, die Abſolution ertheilt werden, 
und ob er das heilige Abendmahl würdig ges 
nießen könnte? — »damit ſie ſich fremder Sün⸗ 


den nicht theilhaftig machen möchten, wenn ſie 


ihm das Abendmahl reichten.« Darauf wurde 
ein Bedenken vom Thomaſius verlangt, ob fie 
das Recht hätten, ihren Landesherrn die Abſo— 
lution zu verſagen und vom heiligen Abend— 
mahl auszuſchließen, wie ſie zu thun droh⸗ 
en. ) Thomaſius nahm keinen Anſtand, es 


*) Wir haben dies erzählt, weil Schröckz Bier ge» 
gen den Thomaſius disputirt, und ihn wegen 
des Ausdrucks: Bindeſchlüſſel, und deſſen Ber: 
wechſelung mit dem Kirchenbann tadelt. Hät⸗ 


te er die Veranlaſſung zu der Schrift bedacht, 


— 83 
5 — SEE 
P an a Me A en EEE 


. — wen 2 


— 


287 


auszuſtellen. Er bringt, wie es dem Juriſten 


geziemt, zuerſt die Gründe vor für die Predi⸗ 


ger; aber dann zeigt er aus der Geſchichte, 
daß ſie das Recht ſchlechterdings nicht hätten, 


den Fürſten vom Gebrauch des Abendmahls 


auszuſchließen — (obwohl ſie ihm die Abfolus 
tion, als welche wider ihr Gewiſſen laufen 


möchte, verſagen könnten) —, weil der Kirchen 


bann mehr eine weltliche als geiſtliche Beſtra— 
fung ſey; und er bewieß auch aus der Ver⸗ 
nunft, daß es ſo ſeyn müſſe, weil ſonſt, wenn 
von dem Kirchenbann nicht an den Fürſten — 


»den Führer der höchſten Gewalt im gemeinen 


Weſen« — appellirt werden könnte, der Staat 
»ein zweyköpfiges Weſen werden würde, « wel— 


ches den allgemeinen Frieden ſtören müßte, u. 


ſ. w. Daß noch ein dritter Fall möglich ſey, 
welches vielleicht nicht der ſchlechteſte wäre, 
ſah Thomafius entweder nicht, oder durfte als 
Proteſtant ihn nicht geſtehen. Seine Schrift 
iſt mit dem gewöhnlichen Scharfſinn verfaßt, 


und ſich erinnert, daß dem Thomaſtus die Ca: 
che vorgelegt wurde, und zwar mit den Wor⸗ 
. welche die Prediger ſelbſt gebraucht hat— 
ten, ſo würde der Tadel von ſelbſt weggefal— 


len ſeyn. 


— el 


BB 
BR ME eine e 8 ze. 


genſchriften, RR Thomafius. hat W beat, 

wortet; 3 fie hat aber gewiß nicht wenig beyge⸗ 5 

tragen, die falſchen Begriffe vom Bindeſchläſ⸗ ö 

ar zu teinigen, EN e die Theologen 1 
* die 


| 4 In einer dieſer Gegenſchriften von einem 1 
feſſor Edzard in Hamburg kommen fogar Verſe 
gegen den Thomaſius vor. Da fie den Geiſt 
recht gut bezeichnen, in welchem der größte 
Theil der Schriften, welche gegen ihn heraus | 
kamen, geſchrieben waren, ſo mögen ſie hier 
ſtehen. Sie werden uns der Weitläuftigkeit 
überheben, welche die Erwähnung der einzel. 
nen I a nach ne ziehen 1 | Alſo 
lauten ſie: f 1 | 

Ein längſt verlohrner Sohn, der alles Gut 
| verpraſſet, | a 
Was an Religion, an Chr’ und Namen ift, 
Der haſſet, was man ließ und liebet, was 
man paſſet, 
Der Hohn für Waſſer ſäuft und Spott für 
Trebern frißt, 
Lacht 


289 


die Herrſchaft über die Thür zum Himmel zu 
15 glaubten. 

Nach ſo vielen und ſo ſtarken Angriffen 
5 die Geiſtlichen konnte ſich die Welt, die es 
ſelten begreift, daß man deßwegen eine Sache 
nicht verwirft, weil man ihren Mißbrauch ta⸗ 
delt, nicht überzeugen, daß es im Ernſt ge⸗ 
meynt ſey, als Thomaſius 1707 eine Disputa⸗ 
ö tion herausgab »von der Pflicht eines evange— 
1 6 0 Sorſten. ee ge und e 


Lacht alle Lehren aus, eahe und vertebre die 
„ N 7 N Bibel, ö 
Iſt wol ein Ismael und wahres Kirchen. 
Uebel. 


"Wefpenfter glaubt er nicht, auch keinen Bund 
der Seren; 
Welch atheiſtiſch Gift, das er hierunter 


begt! 1 
Er iſt ein Höllen⸗Huhn, das jetzo erſt will 
Ekäckſen, 


Bis daß es nach und nach die Eier hinge⸗ 


legt, 
Den Sadducäer Geiſt von Neuem auszu- 
brüten, 
Ach dafür woll' uns doch der liebe Gott 
behüten. 


T 


* 


290 : | 
Stellen der Kirchendiener zu vermehren. e 2 1 
Aber der ganze Ton der Abhandlung beweiſet, ug 
daß Thomaſius nicht ſpottete, ſo wie er die 
Ungezogenheit eines leichtſinnigen Zeitalter | 
nie übte, das zu verſpotten, was keinen Spot 6 
verdient; und es gereicht ihm um ſo mehr zut 
Ehre, die Sache eines ehrwürdigen Standes zu 
führen, je mehr unehrwürdige Dinge er von 
den einzelnen Mitgliedern deſſelben erfahren 
hatte. Was die Abhandlung ſelbſt betrifft, ſo 
wollen wir nur das darüber ſagen, daß, ob⸗ 
gleich ſehr Vieles von dieſer wichtigen aber ſel⸗ 
ten beachteten Pflicht geſchrieben iſt, doch in 
wenigen Schriften dieſer Art ſoviel gegründete 
Wahrheiten mit ſo wenigen Worten geſagt 
ſeyn dürften. Aber eben das, daß noch ſo viel, 
dieſen Gegenſtand betreffend, geſchrieben wird, 
iſt vielleicht ein Beweis, daß dieſe Abhandlung 
des Thomaſius zu denen gehört, die das 
Schickſal hatten, Wahrheiten . zu 
ſagen. f 

Schütz gab in N Jahre, 1707, eine 


) De officio principis evangelici circa augenda 
solaria et honores ministrorum ecclesiae. Unter 
: dem im Text angeführten Titel ſteht fie im 


zweyten Bande der nuserlefenen Schriften. 


291 


Beutfige Überfegung von dem Buche des Hugo 
Grotius „vom Rechte des Krieges und des 


Friedens heraus, welche Thomaſius mit einer 


Vorrede begleitete. Um das Verdienſt des Hu: 
go Grotius, vwelcher das Werkzeug war, def: 
ſen die Weisheit Gottes ſich bediente, die ſo 
lange gedauerte Verwirrung des natürlichen 


und übernatürlichen Lichts — (d. h. der Offen⸗ 


barung und des Naturrechts in dem weiten 
Sinne des Worts, den wir oben beſtimmt ha⸗ 


ben) — aufzuheben einen Anfang zu machen — 


um ſein Verdienſt und den Werth einer deut⸗ 
ſchen Überſetzung ſeines Buchs deſto beſſer zu 
bezeichnen, giebt Thomaſius einen kurzen Be- 
griff von der Hiftorie des Rechts der Natur, 
der Lob verdient. Aber was dieſe Vorrede für 
den Gang ſeiner Denkungsart bemerkenswerth 
macht, das iſt die Außerung, die er hier gegen 
die Myſtiker ausſpricht, welche er ehemals ver— 
theidigt hatte: »daß die myſtiſche Lehrart zu 
feinen Zeiten ganz unverſchämt auftrete, und 
die Lehre des natürlichen Rechts als eine heil— 
loſe und gefährliche Lehre ſchände und ſchmä⸗ 
be.« Der Pietismus, nemlich diejenige religis— 
ſe Stimmung, die zuerſt mit dieſem Namen 
von ihren Gegnern belegt wurde, und die an 
T 2 


292 


dem Thomaſius, wie fie es verdiente, einen > | 


warmen Vertheidiger fand, war für ihn der 
Stufengang geworden, auf welchem er in die 


Tieſe des Myſticismus ſtieg; aber fein Geiſt | 


hatte eine zu beſtimmte Form, als daß er ſich 
lange in dieſen Irrgängen hätte aufhalten laſ⸗ 


ſen, und Locke's Buch vom menſchlichen Ver⸗ 


ſtande wurd der Faden, an welchem er ſich wie⸗ 


der heraus fand. Dem größten Theile der an⸗ | 
dern hingegen, die gleichfalls aus Bedürfniß 


des Herzens die Lehre des frommen Speners 
und ſeines Schülers, Franke, angenommen hat⸗ 


ten, war es nicht beſſer gegangen; und da ſie 


an den Pfeifern, Carpzoven, Meyern und Los 


ſchern fo ungerechte. als unbefugte Bekämpfer 


fanden, ſo hatten ſie ſich, um ſich dagegen zu 
vertheidigen, auch auf ſich zurückgegangen, zu 
einem Körper vereinigt und ſich eben dem blin⸗ 
den Eifer ergeben, welchem fie Anfangs fo 
feind waren, welcher aber ſtets einer Secte ei: 
gen iſt. Thomaſius, der ſeinen freyen Nacken 
nie dem Joche der Sectirerey beugen mochte, 
ſah die Wendung, welche die Sache nahm, 


mit Betrübniß; aber er würde ſich doch wahr⸗ 


ſcheinlich nicht ſo öffentlich gegen diejenigen er⸗ 
klärt haben, mit welchen man ihn früher ver⸗ 


— 
a, — 


293 
einigt glaubte, wenn nicht andre Umſtände ihn 
vermocht hätten, dem Myſticismus entgegen, 
und auf die ſchöne aber ſelbſtſtändige Einfalt 
hin zu arbeiten, welche ihn zuerſt dem Pietis— 
mus gewonnen hatte, und welche allein ihr 
Heil aus der heiligen Schrift, mit reinem Her⸗ 
zen geleſen, erwartete. Zu dieſen Umſtänden 
gehört, daß Tho maſius täglich Studenten ſah, 
welche die innere Selbſtbeſchauung und das 
Erwarten einer unmittelbar göttlichen Erleuch— 
tung »durch Kopfhängen und andre äußere 
Zeichen, die man für Beweiſe der Religioſität 
hielt, zur Schau trugen, während jedes Wort, 
was ſie redeten, ihre Unwiſſenheit und Albern⸗ 
heit beglaubigte; daß die Univerſität aus: 
wärts in den Ruf kam, »die Jugend werde 
daſelbſt verdorben durch den Vortrag der fal- 
ſchen myſtiſchen Lehren, e und daß ſelbſt Tho⸗ 
maſius in dieſem Verdacht ſtand. Dies veran— 
laßte ihn, ſchon 1699 in feinen »Grundlehren 
für einen Studiosum Juris« es der Welt vor 
Augen zu legen, daß die Myſtik ihn wenig⸗ 
ſtens nicht der Vernunft beraubt habe, und 
daß er auf Gelehrſamkeit halte; und ſeine 
»Klugheitslehre,« vou 1705, verräth gleichfalls 
Spuren dieſer Abſicht. Jenes Buch haben wir 


2 

nicht angeführt, weil es in den »Rautelen« 
wiederholt wurde, und von dieſem laßt ich nur 
ſagen, daß es viele gute „ 
die ein ſcharfſehender Mann im Laufe des 
bens für das Leben abſtrahirt hatte; und 9 
beſonders darauf hinarbeitete, »weil gelehrte 
Narren die größten Tarren zu ſeyn pflegen, x 

zu zeigen, daß Gelehrſamkeit ohne Klugheit 
keinen brauchbaren Mann für die Welt bilde. 
Aber daß Thomaſtus jetzt öffentlich gegen die 
Pietiſterey, im verderbten Sinne, polemiſirte, 
daran ſcheint uns auch noch der Umſtand 
Schuld, daß ſich während dieſer Zeit, aus Lie⸗ 
be zum Myſticismus, hin und wieder Rotten 
bildeten, die Pietiſten genannt wurden, und 
die durch die Verachtung, in welche die Ver⸗ | 
nunft bey ihnen gerieth, bis zur Viehiſchheit 
hinabſanken, mit heiligen Worten die ruchlo⸗ f 
ſeſten Thaten begingen, und mit ihnen die un⸗ 
ſinnigſten Ans adelten. *) Wange fühlte 


\ 


U 


#) BR ſelbſt bat im dritten Theile der ge. 
miſchten Händel die beurkundete Geſchichte ei» 
ner ſolchen Rotte von unfinnigen Schwarmern 
erzählt; und wenn auch uur der vierte Theil \ 
von dem wahr iſt, was ihnen zur Laſt gelegt 
wurde, fo wird es uns noch immer unbegreif⸗ 


295 


wohl, daß, wenn er auch nicht entfernt Schuld 
an dieſen Vorgängen war, er doch durch feine. 
Anpreiſung myſtiſcher Schriften dieſen unſau- 
n Geiſt menſchlicher Verirrung nähren wür⸗ 
Dies beſtimmte ihn wol zunächſt, ſich 
gegen den Myſticismus zu erklären, und das 
Recht der Vernunft, welche in an 
dem rächt, der fie verachtet, gegen ihn zu ver: 
theidigen; und ſo wurden 10 Pietiſt und ein 
frommer Chriſt ihm nach und nach Gegenſätze. 
Dieſe Erklarung gegen die Myſtik fängt in der 
Vorrede zum Grotius an; und wird noch ſtär⸗ 
ker in der, womit er eine neue Auflage des 
Poiret verſah. Die Tendenz der Vorrede zur 
erſten Ausgabe war geweſen, den Poiret anzu— 
preiſen und die Gemüther empfänglich zu ma— 
chen für feine geheimnißvollen Lehren; die Ten: 
denz der letzten aber war, die Gemüther zu 
warnen und zu bewaffnen, damit Poirets und 
andrer Myſtiker ſo angenehme Beredtſamkeit 
ſie nicht verletzen möchte. Und dieſes Streben 
lich ſeyn, wie Menſchen, die nicht verrückt wa⸗ 
ren, auf ſolche Tollheiten gerathen köunken. 
Dieſe Acten waren dem Thomaſius, von 1703 


an, nach und nach in die Hände gekommen. — 


295 
iſt in allen folgenden Schriften des 7 0 a 
mehr oder minder erkennbar. a. a 
1709, | nachdem feine Feinde in ſeinek Ba 
terſtadt, Leipzig, entweder geſtorben waren, ; 
oder fie verlaffen hatten, wurde Thomaſius, 
weil dos neue Geſchlecht den Werth ihres Bür⸗ 
gers und die Ungerechtigkeit kannte, mit wel⸗ 
cher man ihn ehemals behandelt hatte, und 
welche Genugthuung heiſchte, auch weil am 
Hofe die bekannten Veränderungen vorgegan⸗ 
gen waren, nach Leipzig unter ſehr vortheilhaf⸗ 
ten Bedingungen berufen. Er aber, dem durch 
die liberale Aufnahme, die er gefunden hatte, 
der Brandenburgiſche Staat zum Vaterlande 


geworden, und der nicht leichtſinnig genug war, | 


eine Glaubensformel, an welcher die Sachſen 
ihre Seligkeit gebunden glaubten, und von der 
ren unreligiofem Zwang Thomaſius ſich über⸗ 
zeugt hielt, zu unterſchreiben — er ſchlug den 
Antrag aus, ſo wie er den des Herzogs Mo⸗ 
ritz von Zeitz ausgeſchlagen hatte, wodurch er 
ihm eine wirkliche Geheimerathsſtelle conferirte; | 
Dafür war er von feinem Landesherrn, dem 
Könige von Preußen, mit dem Geheimenraths⸗ 
titel beehrt, und jetzt erhielt er das Verſpre⸗ 


| | 297 
chen. Strycks Stelle nach deſſen Tode zu ers 
halten. Stryck ſtarb 1710, und Thomaſius 
wurde nun Director der Friedrichs ⸗Univerſität, 
Profeſſor primarius und Decan der Juriſtenfa⸗ 

cultät: Würden, welche die Achtung beweiſen, 
die ſich Thomaſius erworben hatte. Darauf 
gab er noch in dieſem Jahre heraus: die 
ahöchſtnöthigen Cautelen, welche ein Studio⸗ 
ſus Juris, der ſich zur Erlernung der Rechts⸗ 
gelahrtheit auf eine kluge und geſchickte Weiſe 
vorbereiten will, zu beobachten hat.« Und als 
er bald darauf auch die Profeſſur des Canoni⸗ 
ſchen Rechts erhielt, ſo folgten 1712 die 
shöhftnöthigen Cautelen bey der Erlernung 
der Kirchen⸗Rechts Gelahrtheit.« ) Thomaſius, 
wie jeder Eklektiker, verhält ſich zu ſeiner Phi⸗ 
loſophie, wie der Bewohner eines Hauſes, das 
er gemiethet hat, zu dieſem. Die einzelnen 
Zimmer und Gemächer werden ſo fein verziert, 
als er es vermag, die Verbindung derſelben 
mit einander ſo geſchickt angelegt, als es thun: 
lich iſt, und überhaupt alles ſo eingerichtet, 

f dj Das erſte Buch hat den Titel: cautelae circa 

. praecognita jurisprudentiae, das andre cautelae 
eirca praecognita jurispr. ecclesiasticae. Deutſch 


kamen ſie 1713 heraus. 


298 


daß er fo bequem als möglich darin wohnen 
möge: aber er achtet nicht darauf, ob Wie 9 
vielleicht auf den Sand gebauet, und er un⸗ 
terſucht nicht den Grundſtein des See 
es nicht ſein Eigenthum iſt. Thomaſius giebt 
in beyden Büchern die Grundlehren von 1699 
erweitert und verbeſſert. Aber auch dieſe 
Grundlehren enthielten faſt nichts, was nicht 
in ſeinen frühern Schriften zerſtreuet geweſen 
wäre, vermehrt mit einem Auszuge aus Ar⸗ 
nolds Geſchichte und Pufendorfs Verhältniß 
der Religion zum Staate. Thomaſtus liefert 
gleichſam einen Auszug aus ſich ſelbſt, und 
wer nur wiſſen will, was er lehrte, der wird 
es größtentheils aus dieſen Büchern erfahren; 
aber der will am wenigſten wiſſen von dem 
Thomaſtus. Zwar hat er manches hier geſagt, 
was frühern Sätzen geradezu entgegengeſtellt 
iſt; aber das gilt nur von einzelnen, wenigen 
Sätzen. Das, worüber am wenigſten in ſeinen 
andern Schriften vorkommen möchte, dürfte in 
dem erſten dieſer Bücher wohl das Kapitel von 
den mathemathiſchen Wiſſenſchaften ſeyn, die er 
zwar ſehr empfiehlt, über die er aber auch einige 
Grundſätze aufſtellte, welche ihm einen Gegner 
an dem Profeſſor Weidler zu Wittenberg zu⸗ 


N 299 
zog. Das Intereſſanteſte aber dürfte wol die 
Erzählung ſeyn, worin Thomaſius den Gang 
zeichnet, den ſeine religiöſe Überzeugung ge— 
nommen hat, von ſeiner Erziehung in der 
Rechtgläubigkeit des Lutherthums an bis zu 
dem Grundſatze hin: man müſſe ſich vor der 
Orthodoxie in Acht nehmen; wir aber können 
ihn größtentheils aus den Reſultaten, die wir 
geſehen haben, nachzeichnen: darum dürfen 
wir dieſe Erzählung nicht erſt wiederholen. 
Was aber das Hiſtoriſche im zweyten Theil 
betrifft, (woben freylich Arnolds Kirchengeſchich— 
te ſehr benutzt iſt: aber Thomaſius hatte, wie 
wir bemerkt haben, auch daran Antheil, und 
darum iſt das große Lob, was er ihr ertheilt, 
vielleicht etwas einfeitig), fo wollen wir darü⸗ 
ber mit Beziehung auf die übrigen hiſtoriſchen 
Werke des Thomaſius, ſie mögen nun das 
deutſche Reich, oder das Natur- oder ein an⸗ 
deres Recht betreffen, nur eine allgemeine Be⸗ 
merkung hinzuſetzen. Hiſtoriſche Werke, die 
nicht in ſich vollendet, ſondern von ſpätern 
Werken übertroffen ſind, und alſo zwiſchen die— 
ſen und frühern als Mittelglieder ſtehen — 
können, wie es uns ſcheint, nur im Allgemeinen 


characteriſirt werden, indem gezeigt wird, wel⸗ 


300 


che Stufe der hiſtoriſchen Kunſt ſie, zu der 
Vollendung der letztern hin, bezeichnen, und 
welche eigenthümliche Menſchheit, als der Eha⸗ | 
racter des Verfaſſers, ſich darin offenbart; oder 

fie müffen ganz im Befondern dargelegt wer⸗ 
den, indem man auß die einzelnen Faden Rück⸗ 
ſicht nimmt, die hier zuerſt in die Hiſtorie ge⸗ 
zogen worden, damit der folgende Geſchicht⸗ 
ſchreiber fie in feiner Darſtellung nicht wieder 
entſchlüpfen laſſe. Jenes liegt einer Literärge⸗ 
ſchichte ob, dies haben gleichzeitige literariſche 
Blätter zu leiſten. Die hiſtoriſchen Arbeiten 
des Thomaſius zeichnen ſich aber weder durch 
die Form, in welcher ſie dargeſtellt ſind, noch 
durch eine Anſicht der Dinge aug, die nicht 

s dem erklärbar wäre, was wir über ihn ges 
* haben. Daher können wir über ſeine hi⸗ 
ſtoriſchen Schriften nur bezeugen, daß ſie mit 
Fleiß zuſammengetragen und mit Wahrheits⸗ 
liebe und einem idem oft en ba ver⸗ 
faßt ſind. 1999 A en 
Was aber diejenigen Schriften betrifft, 
die ſich auf das damals gangbare Recht, und 
überhaupt auf Gegenſtände beziehen, die für 
den eigentlichen Juriſten gehören, und die von 
dieſer Zeit an vom Thomaſius herauskamen: 


501 


ſo beſcheiden wir uns, daß wir die Dinge nicht 

1 verſtehen, und wollen lieber kein Urtheil geben, 
als ein ſolches, an deſſen Gewißheit wir . 
nicht zn PRren:. I) wa 


f 


71 0 


TEN beyden en von Schriften können fol⸗ 1 


gende gerechnet werden außer den ſchon ange⸗ 8 


führten: 


1 Feudalia Thomasiana , quae ‚ exbibent 


| selecta capita historiae Juris Feudalıs Germanici. 


| Die zweyte Edition mit einer Dissertatio de 


* 


originibus feudal. A bom Babe 1706 Die gr 
erſchien 1708. 


Historia contentionis inter imperium et sacer- 
dotium usque at saeculum 16. 1722. 

Historia Juris naturalis. 1779. 

Naevorum Jurisprudentiae Romanae antejns- 
tin. libri II. 1707. . 

Specimen prudentiae 8 1710. 4. 


Annotationes ad Ulr. Huberi libros tres de 


jure civitatis. 1708. 4. 


Additiones ad Ulrici Huberi praelectiones Ju- 


xis civilis. 1725. 4. 


Notae ad singulos institutionum et Pandecta- 


rum titulos. 1713. 4. 


J. P. Lancellotti Inslitutiones juris canonici, 


. 4. 
Pufendorfs Tractat don der geiſtlichen Mo⸗ 


302 


en eines MN Auſſehens, der 
Veranlaſſung mehrerer Schriften, und wegen 
Beſchuldigungen der Srreligiofität und des 
Atheismus, die ſogar bis vor den Landesherrn 
des Tho maſius kamen, aber eben ſo, wie eine 
frühere Inſinuation ohne Wirkung blieben ra) 
wegen alles dieſen wollen wir die Disputa⸗ 
tion »von der Kebs: Ehe,« *) welche 1713 her⸗ 
aus Fam, hier anführen, Thomaſius hatte, wie 
wir wiſſen „die Profeſſur des Canoniſchen 
Rechts erhalten. Aber er betrachtete dieſes 
Amt nicht als ein ſolches, das ihn verpflichte, 
bey dem bisher Üblichen ſtehen zu bleiben; fon: 
dern er glaubte verbunden zu ſeyn, als Lehrer 
des Kirchenrechts dieſes ſo weit zu verbeſſern, 
als es ihm möglich ſeyn möchte. Schon früher 
hatte er dahin gearbeitet als ein Rechtsgelehr⸗ 
ter, jetzt glaubte er fig doppelt dazu verpflich⸗ 


narchie des Stuhls zu Rom mit Anmerkungen. 
„ 17 . 
Anmerkungen über Oſſens Tractat von Ver⸗ 
beſſerung des Juſtiz- ünd Policey⸗Weſens. 
Vorrede über Johann Clerici verteutſchte Le⸗ 
bensbeſchreibung einiger Kirchenväter und Ke— 


— 


tzer 1721. 8. 
) De Concubinatu. Jenes ift der deutſche Titel. 


303 
tet. Das Hauptgebrechen des Kirchenrechts 
meynte er in dem Eherechte entdeckt zu has 
ben, weil über die Ehe aus dem Pabſtthum 
her, worin ſie für ein Sacrament gehalten 
wird, ſehr verwirrte Begriffe im Schwange wa: 
ren. Darum hatte er ſchon eine Disputation 
»bom Kamworte« geſchrieben, wodurch das Weib 
ſich zuerſt für die Braut eines Mannes er⸗ 
klärt; und wollte durch ſie, und durch dieſe 
neue Disputation die Welt, wie es ſcheint, vor⸗ 
bereiten auf ſeine Anmerkungen zum Lancelott. 
Übrigens will Thomaſius gar nicht die Recht⸗ 
mäßigkeit der Kebsehe vertheidigen, ſondern er 
will nur zeigen, daß die Gründe, welche man 
bisher dawider angeführt, nicht hinreichten, ihre 
Unrechtmäßigkeit darzuthun, und bey dieſer Ges 
legenheit will er reinere Begriffe über die Ehe, 
wie fie ſchon mehr gelehrt waren, verbreiten. 
Darum zeigte er, daß die Kebsehen erſt ſehr 
ſpät in den Ruf der Unehrlichkeit und der 
Schändlichkeit gekommen ſeyen, und bewieß, 
daß die Gründe, welche man gegen fie anzus 
führen gewohnt war, aus dem römiſchen Bes 
griffe von der Ehe als Sakrament, den die 
Proteſtanten verworfen hatten, entſtanden wä» 
ren. Darauf meynte man, daß nach der Ver⸗ 


304 

ara dieſer Gründe — die Thon 
verwarf, um auf beſſere zu dringen 
Kebsehe von ihm das Wort geredet ſey, und 
mehrere, unter welchen ſein College, der Abe 
Breithaupt, und der Paſtor Reinbeck in Berlin, 
griffen ihn darüber an. Auf welche Weiſe e 
das erhellt aus »der Widerlegung der Einwür⸗ 
fee gegen dieſe Disputation, die wahrſcheinlich 
vom Thomaſius, der ſich Antoninus nannte, 
ſelbſt iſt. »Kaum, heißt es darin, war dieſe 
Disputation zum Vorſchein gekommen, als 
man ſie als eine Sache anſahe, welche alle 
Religion aufhübe. Es wurde nicht allein wi⸗ 
der allen Wohlſtand öffentlich dawider dispu⸗ 
tirt, ſondern auch allenthalben Alles veranſtal⸗ 
tet, dem Herrn Autor Verdrießlichkeit zu ma⸗ 
chen. Und durch dieſes Lermblaſen ſind andre 
erregt worden, den Krieg häufig anzukündigen. 
Wenn ſich aber die Leute einbilden, daß der 
Herr Autor mit ihnen ſich in einen Streit eins 
laſſen werde, ſo fürchte ich, ſie werden ſich ſehr 
betriegen. Denn dieſer Streit iſt nicht fo be⸗ 
ſchaffen, daß die Wohlfahrt der Republik und 
der Religion daran hänge, weil ja der Autor 
freywillig geſteht, daß der Concubinat heutiges 
Tages mit beſtem Rechte verboten werde. « 


c 


In 


Ir- dür 


305 
In den Jahren 1715 bis 1717 veranſtalte⸗ 


te Thomafius in 24 Stücken »Summariſche 


& 


Nachrichten von auserleſenen, mehrentheils al: 


ten in der Thomaſiſchen Bibliothek vorhande⸗ 
nen Büchern. Zwar hat er ſelbſt wenig daran 
gearbeitet, aber die Recenſionen ſcheinen uns 
von ſeinen vorzüglichern Schülern herzurühren, 


die zugleich ſeine Freunde waren; denn in Al⸗ 


len herrſcht, wenn nicht ſein Geiſt, doch ſeine 


Srundſaätze. Und wenn fie von der einen Sei— 
te beweiſen, in welcher Geſellſchaft Thomaſius 


ſein Leben hinbrachte, ſo enthalten ſie von der an⸗ 
dern ſchätzenswerthe Nachrichten. Übrigens brachte 
Thomaſius dieſe und die nächſtfolgenden Jahre zu 
mit der Herausgabe der genannten hiſtoriſchen 


und juriſtiſchen Bücher, mit Beſorgung neuer 


Editionen der frühern, und mit Vorleſungen, 
die er ſtets veränderte, um nicht durch das be⸗ 
ftändige Wiederholen derſelben dieſe Beſch afti⸗ 
gung zum Handwerk zu erniedrigen. 

Die »ernſthaften, aber doch munteren und 
vernünftigen Thomaſiſchen Gedanken und Er: 
innerungen über allerhand juriſtiſche Händel« 
erſchienen 1720 und 1721 in vier Quartbänden, 
und lieferten, was ihr Titel verſprach. Auser— 
leſen ſind dieſe Händel, und betreffen ſolche 

u 


x 


306 i ü 

* 7 5 
Gegenſtände, die jeden intereſſiren, der es der 
Mühe werth hält, andre Zeiten und andre 
Menſchen kennen zu lernen, als die, welche 


die Gegenwart in ſeinem väterlichen Haufe 
zeigt. Die Anſichten, welche den Uftheilen 


des Thomaſius zum Grunde liegen, können 
unſern Leſern nicht fremd ſeyn, und der mun⸗ 
tere Ton, worin fie dargeſtellt find, beweiſs't, 
' daß fein Geiſt nicht gealtert war. Über dieſe 
Munterkeit fpricht er in der Vorrede; und die 
Stelle verdient wohl, daß wir fie abſchreiben, 
da fie feine jetzige Gemüthsſtimmung beweiſ't, 
und da es ohnehin vielleicht das letzte Mal ift, 
daß wir ihn hören werden. Er erzählt, er ſey 
ſchlecht und recht erzogen, und freymüthigen 
und fröhlichen Sinnes geweſen; darum habe 
er die Wahrheit anfänglich kühn geſagt: auch 
wohl in bitterm Scherz, weil er nur an an⸗ 
dern gethan, was er ſelbſt wohl habe leiden 
können. Seine Verbannung aus ſeinem Va⸗ 
terlande habe ihn die Zeit und die menſchliche 
Natur beſſer kennen gelehrt. Da habe er ges 
ſehen, daß die Gatyre zwar auch ein Mittel 
wäre, tiefgewurzelte Irrthümer zu erkennen zu 


geben, daß fie aber nicht leicht Beſſerung ber 


wirke. »Wie aber insgemein, fährt er fort, 


307 


zu geſchehen pflegt, daß, wenn man ſich von 
einem erkannten Irrwege entfernen will, man 
gar leichte, wenn man ſich nicht wol in Acht 
nimmt, auf einen andern Irrweg gerathen 
kann: alſo ging es auch mir eine Zeitlang, 
daß ich vermeynte, die Wahrheit könne nicht 
anders, als durch Leſung ernſthafter und an: 
dächtiger Bücher erhalten werden, und müßte 
auch hinwiederum mit lauter Ernſt oder mit 
Seufzen und Weinen vorgetragen werden. 
Jedoch gab Gott Gnade, daß ich meinen Fuß 
auch aus dieſem Irrthum bey Zeiten zurück 
zog, und deutlich begriffe, daß die Erkenntniß 
der Wahrheit an und für ſich ſelbſt von dem 
Vortrage derſelben nicht dependiret. — Ich 
wurde vergewiſſert, daß ſo wenig der ernſthaf— 
te und ſeufzende Vortrag die Lehrer vor Irr— 
thümern bewahrete, als der muntere und leb— 
hafte Vortrag nebſt einem ungezwungenen und 
ſinnteichen Scherz der Erkenntniß und Fortpflan— 
Sung der Wahrheit ſchädlich Wet daß da⸗ 
her ein jeder Wahrheitsliebender das Talent 
das ihm Gott diesfalls gegeben, brauchen und 
bey demſelben bleiben ſolle. Wenn z. B. der 
felige Johann Arnd, und der Gottesfürchtige 
D. Spener Lutheti oder Erasmi freudige 


308 


Schreibart hätten affectiren wollen, würden fü ie 
ſich ſehr ptoſtituirt haben; und im Gegenteil, 


sc 3 8 


wenn der Mann Gottes Lutherus, und der an⸗ 1 


dre Werkzeug Gottes Erasmus von Rotterdam 


ihre freudige und ſinnreiche Schreibart hätten 


verſtecken, und eine traurige, oder auch nur 


ernſthafte allezeit gebrauchen wollen, würden 
ſie dem Pabſtthum lange ſo großen Schaden 


nicht gethan haben, als ſo geſchehen. „ — lÜbri⸗ 


gens erzählt Thomaſtus im dritten Bande ſei⸗ 
ner Händel einen Theil ſeiner Schickſale in 
Leipzig, und dieſe Erzählung ſetzt er in den 


»pernünftigen und cheiſtlichen, aber nicht ſchein 
heiligen Gedanken und Erinnerungen über al⸗ 
lerhand gemiſchte ieee und Juriſtiſche 


Händels fort. | 

Unter dieſem Titel erſchien ae von 
1723 bis 1725, in drey Octavbänden, ein Werk, 
das mit der Fortſetzung der Recenfionen von 


Büchern aus der Thomaſiſchen Bibliothek be⸗ | 
ginnt, und dann eine Neihe von rechtlichen 
Fragen enthält, die mit eben den Vorzügen 


beantwortet, und zum Theil den Rechten gemäß 
entſchieden find, wie die des vorigen Werks. 
Wodurch aber dieſes beſonders ſchätzenswerth 
wird, das ſind eben die Nachrichten von dem 


\ 


309 


Leben des Verfaſſers. Dieſen Gedanken fügte 
er 1726, alſo im paſten Jahre feines Lebens, 
einen Anhang hinzu, in welchem er die Erläu⸗ 
terung einiger dunkeln Stellen des Cicero, die 
er von mehrern gelehrten Männern ae 
hatte, mittheilte, und alsdann einigen von de⸗ 
nen, die wider ihn geſchrieben hatten, zeigte, 

warum er ihnen nicht geantwortet habe; theils 
hatte er es unterlaſſen, um Streitigkeiten zu 
vermeiden, in der Überzeugung, das Feuer wer: 
de ſchon verlöſchen, wenn es nicht geſchürt wür⸗ 
de; theils, weil der Gegenſtand zu unbedeu⸗ 
tend geſchienen, oder man nur im Worte von 
ihm diſſentirt habe; theils auch, weil die Ver⸗ 
faſſer der Schriften gegen ihn keiner Antwort 
werth geweſen. Dieſe Schrift war, ſoviel wir 
haben erſahren können, die letzte des Thoma⸗ 


fius. *) 


9 Die Gelegenheit zu den Erläuterungen gab 
eine Anfrage des Thomaſtus in den gemiſchten 
Händeln über eine Stelle in Cicero's Orator, 
worin dieſer ſagt, man ſetze nobiscum, weil 
cum nobis — obscoenius klingen würde. Tho⸗ 
maſius begriff nicht recht, warum? Und da er 
einmal beym Fragen war, ſo bat er auch noch, 


daß man ihm eine andre ähnliche Stelle erklä— 


Asſang⸗ ſetzte er darauf ſeine aka tischen 
Votrleſungen noch fort; aber bald zog er ſich 
zurück, weil ihn ſein Alter daran mahnte, daß 
unſers Bleibens nicht auf Erden it und über⸗ 
gab ſein Amt ſeinem Nachfolger, der ſchon er⸗ 
nannt war. Aber er ſah ſeines Lebens Ende 
mit der heitern Ruhe entgegen, die das Be: 
wußtſeyn, gelebt zu haben, noch nie verließ. 
Er hatte, wie Schlözer ſagt, auf Mit⸗ 
und Nachwelt mehr gewirkt, als Alle Philofo: 
phen Griechenlands zuſammengenommen: ob er 


ren möchte; nemlich den Brief des cicero an 
den Pätus, ad familiares IX. 22, den er Aber 
nicht nannte. — Zum Beweiſe aber, daß Tho⸗ 
fine eben fo munter endete, wie er anfing, . 
wollen wir aus dem zweyten. Theil des An⸗ 
hangs folgendes erzählen. Ein gewiſſer Predi⸗ 
ger Erdmann hatte wider ihn geſchrieben 
unter dem Namen Salzmann. Toomaſtus 
ſagt, das habe er gethan, weil er ſich der 
Stelle aus dem Matthäo erinnert: Ihr ſeyd 
das Salz der Erden, und weil der arme 
Gre nkloß gemeynt, er ſchicke ſich vortreff⸗ 
lich auf ihn. Thomaſius rieth ihm, die Stelle 
bey einer folgenden Schrift auf das Titelblatt 
zu fegen, aber ja die Worte nicht zu vergaſſen, 


daß das Salz zuweilen dumm würds. 


1 2 


W 
— 


| 311 
aber genützt oder geſchadet, Wahrheit gelehrt 
* 8 geirrt, darüber grübelte er nicht: er hatte 

es redlich gemeynt, und wußte, daß die Tha— 
ten des Menſchen nur Saamen ſind, hinge⸗ 
ſtreut in die Flur der Zeit und Früchtetragend 
nach dem Plane des Ewigen. Darum ſtimmte 

iühn der Rückblick auf den Gang feines Gehalt⸗ 
reichen Lebens zu einer heiligen Andacht, zu 
frommen Betrachtungen und zur kindlich⸗dank⸗ 
baren Ergebung an den Allwaltenden. Der 
23ſte September des 1728ſten Jahrs war der 
letzte Tag ſeines Lebens. Um den Sterbenden 
ſtanden ſeine Gattin, Frau Auguſta Chriſti⸗ 
ne, D. Polycarp Heylands Tochter, die ſeit 48 
Jahren mit ſeltener Treue die Gefährtin ſeines 
Lebens geweſen war; ſein Sohn, Chriſtian Po⸗ 

lycarp; zwey Töchter; fünf Enkel und zwey 
Enkelinnen: ein Sohn und zwey Töchter harr⸗ 
ten des Vaters ſchon im Reiche der Seligen. 
Er blickte heiter in die Zukunft; die Seinigen 
weinten, ſeine Freunde trauerten, und Deutſch⸗ 
land fühlte ſeinen Verluſt. 


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